Der 1926 geborene Efraín Ríos Montt gehörte seit 1944 der Armee an. Bevor er 1974 zum ersten Mal für die Christdemokraten bei der Wahl des Staatspräsidenten kandidierte und unterlag, war er Militärattaché in Washington und Leiter der guatemaltekischen Militärakademie. Von 1974-1977 war er Militärattaché in Spanien. 1978 konvertierte der Bruder des sechs Jahre jüngeren katholischen Bischofs Mario Enrique Ríos Montt zur „Kirche des Wortes“, einer Pfingstkirche, und wurde dort bald Prediger, ohne seinen Status als General zu verlieren. Er beschloss, das Land vom Kommunismus zu befreien. Zwei Wochen nach einer unstrittigen Präsidentenwahl putschte er am 23. März 1982 und übernahm als Diktator die alleinige Macht, bis ihn am 8. August 1983 sein Verteidigungsminister Óscar Humberto Mejía Víctores nach einen weiteren Staatsstreich ablöste.
Als Präsident verschärfte er die seit ungefähr 1960 bestehenden bewaffneten Konflikte mit verschiedenen Guerillaorganisationen. Der Zulauf zu diesen Gruppen war vor dem März 1982 so groß, dass ein Sieg der revolutionären Kräfte wie 1979 in Nicaragua möglich schien. Ríos Montt nutzte jede Gelegenheit, ohne weitere Prüfung die Gruppen auszulöschen, aus denen sich nach seiner Meinung der bewaffnete Untergrund rekrutierte. Es galt, so hieß es damals, den Sumpf trockenzulegen und gleichzeitig das Krebsgeschwür „Indios“ auszumerzen, an dem Guatemala kranke und das den Fortschritt behindere.
Im vergangenen Jahr wurde Efraín Ríos Montt angeklagt, während seiner Amtszeit für die Tötung von 1771 Menschen im Departement Quiché verantwortlich zu sein, die zur Ethnie der Ixil gehörten. Das Verfahren gegen Ríos Montt konnte erst jetzt stattfinden, da Ríos Montt bis Januar 2012 für die von ihm 1989 gegründete rechtsextremen Frente Republicano Guatemalteco im Kongress saß und parlamentarische Immunität besaß.
Die Vorgänge im Departement Quiché sind weitgehend bekannt. Über sie informieren die Berichte der katholischen Kommission Recuperación de la Memoria Histórica (REMHI, Wiedergewinnung der geschichtlichen Erinnerung), die 1998 veröffentlicht wurden, und der Text der von der UNO unterstützten Comisión para el Esclarecimiento Histórico (CEH, Kommission zur historischen Aufklärung), der 1999 unter dem Titel Memorias del silencio veröffentlicht wurde. Nach diesen Berichten begingen Gruppen, die im staatlichen Auftrag handelten, mehr als 90 Prozent der während des Bürgerkriegs verübten Verbrechen.
Im Strafverfahren gegen Ríos Montt wurden Mitglieder der Ethnie Ixil von einem guatemaltekischen Gericht als ZeugInnen befragt. So wurden erstmals Indigene von einem Strafgericht in eigener Sache als gleichberechtigte Menschen anerkannt.
Nach dem Urteil ging am 10. Mai ein Freudenschrei durch das gespaltene Land. Jede Demonstration im Ausland für oder gegen das Urteil wird aufmerksam registriert. Die UNO und andere internationale Institutionen begrüßten das Urteil. Otto Pérez Molina, der Staatspräsident, der als Offizier an den militärischen Aktionen im Departement Quiché beteiligt war, erklärte, er erkenne das Urteil des unabhängigen Gerichtes an. Sein Außenminister sagte, mit diesem Urteil werde das internationale Ansehen Guatemalas als demokratischer Rechtsstaat gefestigt. Es bedeute eine Stärkung des Rechtswesens, das gezeigt habe, dass es unabhängig und auch bei schwierigen und komplizierten Fällen zu einer klaren Entscheidung fähig sei. Erstmals erkenne der Staat das Leid der Opfer an. Das Urteil eigne sich als Ausgangspunkt für Gespräche über die Gestaltung eines multikulturellen Staates, in dem neben dem Spanischen 23 andere anerkannte Sprachen gesprochen werden.
Gleichzeitig liefen verschiedene Kräfte in Guatemala gegen das Urteil Sturm. Neben den Familienangehörigen und FreundInnen des verurteilten Ríos Montt protestierten vor allem zwei Gruppen gegen das Urteil: Die früheren Angehörigen der zwischen 1980 und 1985 von der Armee aufgestellten paramilitärischen Patrullas de Autodefensa Civil (Selbstverteidigungspatrouillen), die seinerzeit in der Aufstandsbekämpfung eingesetzt waren, solidarisierten sich mit Ríos Montt. Vor allem aber kritisierte das „Koordinierungskomitee der Vereinigungen der Landwirtschaft, des Handels, der Industrie und des Finanzwesens“ (CACIF) das Urteil. In Guatemala habe es einen „von außen“, d. h. von „den Kommunisten“ geführten Bürgerkrieg gegeben, und dagegen habe man sich gewehrt. Es seien tausende von Angehörigen aller Gruppen gestorben; niemand habe die Absicht gehabt, eine besondere Gruppe auszulöschen. Das Urteil schade dem Ansehen Guatemalas, denn die Welt sehe das Land jetzt als ein Land von Völkermördern. Es werde mit den Nazis und den Diktaturen in Ruanda und Jugoslawien gleichgesetzt. Für CACIF ist die Verurteilung von Ríos Montt ein Bruch des Friedensabkommens zur Beendigung des Bürgerkrieges.
CACIF „übersieht“, dass nicht der Staat als Völkermörder verurteilt wurde, sondern ein einzelner Mann, ein Putschist, der mit den Mitteln des Staates Völkermord begangen hat. CACIF „vergisst“, dass unter Ríos Montt die Ausmerzung der „Indios“ zum Staatsziel erhoben worden war. CACIF „nimmt nicht wahr“, dass für die Maya, die sich selbst in der Regel als K’iche’, Q’eqchi’, Mam oder als Angehörige einer der 21 Mayasprachen identifizieren, die Bezeichnung „Indio“ beleidigend ist, denn mit dieser Bezeichnung werden sie gesellschaftlich abgewertet und nicht als gleichberechtigt anerkannt. Für CACIF sind diese Menschen weiterhin „Indios“, selbst wenn sie in den Texten von CACIF politisch korrekt als Indigene bezeichnet werden.
Die verschiedenen Mayagruppen leben faktisch weiterhin in einer kolonialen Abhängigkeit. Denn Kolonialismus ist nach einer weithin anerkannten Definition die Herrschaftsbeziehung zwischen Kollektiven, in der grundlegende Entscheidungen über die Lebensführung der Kolonisierten von externen Interessen bestimmt und von einer quantitativ kleineren Gruppe der Kolonisatoren durchgesetzt werden, die sich kulturell von der Mehrheit unterscheiden und sich jeder Anpassung widersetzen. Kultur wird dabei als ein Netzwerk von Menschen verstanden, die in einem Gebiet leben bzw. lebten, die eine gemeinsame (Mutter-)Sprache sprechen, sich von einer gemeinsamen Herkunft her, durch enge wirtschaftliche und verwandtschaftliche Beziehungen sowie gemeinsame symbolische Handlungen wie Riten und Feste definieren und abgrenzen.
Nach der Aufhebung des Urteils durch den Obersten Gerichtshof ist der Fortgang der Strafsache gegen Ríos Montt offen. Die Kammer, die das Verfahren fortzuführen hat, ist neu zusammenzusetzen. Bisher haben es mehr als 55 RichterInnen aus unterschiedlichen Gründen abgelehnt, in diese Kammer berufen zu werden. Die Teilnahme von zwei Richtern ist strittig, weil einer unter der Herrschaft von Ríos Montt wichtige Aufgaben übernommen hatte und der andere bereits in einer Sache gegen Ríos Montt tätig war. Bis heute (28. Mai) konnte keine Kammer gebildet werden, die das Strafverfahren nach der Entscheidung des Verfassungsgerichtes fortsetzt.
Hinter dem Verfahren gegen Ríos Montt verbergen sich grundlegende gesellschafts- und rechtspolitische Fragen. Wenn das Strafurteil Bestand hat, ist zu entscheiden, was mit denen geschieht, die sich am Genozid beteiligt haben. Wer ist vor Gericht zu stellen? Wer nicht?
In der spanischen Zeitung El País (28. April 2013) formulierte Diego García-Sayán, Präsident des Interamerikanischen Gerichtshofes für Menschenrechte und ehemaliger peruanischer Minister, die These, dass drei Prinzipien zu beachten seien, die Wahrheit, der Schadensausgleich und die Gerechtigkeit.
Eine Versöhnung innerhalb der Gesellschaft sei nur möglich, wenn die Wahrheit ans Licht komme. Das könne über Wahrheitskommissionen, öffentliche Selbstbezichtigungen oder über Gerichtsverfahren geschehen.
Der Schadensausgleich betreffe u. a. den Ausgleich des erlittenen Vermögensschadens, des Schadens an der Gesundheit sowie die öffentliche Anerkennung der Opfer.
Die absolute Gerechtigkeit, wonach alle, die ein Verbrechen begangen haben, zu verurteilen seien, sei nicht durchführbar. Die Gesellschaft würde als ganze darunter leiden. Er plädiert deshalb für eine Übergangsgerechtigkeit, wonach einige exemplarisch von einem Gericht zu verurteilen seien. Im Falle des Prozesses gegen Ríos Montt wurde der mitangeklagte ehemalige militärische Geheimdienstchef José Rodríguez Sánchez freigesprochen.
García-Sayán verweist auf einen anderen Konflikt, der seit einigen Jahren nicht nur in Guatemala schwelt. Die indigenen Gruppen, die sich als Nachfahren der UreinwohnerInnen definieren, erhalten im Zuge ihrer rechtlichen Anerkennung Informations- und Mitbestimmungsrechte, wenn im nationalen Interesse der Abbau von Rohstoffen, der Bau einer Straße oder eines Kraftwerkes auf dem ihnen zugestandenen Gebiet geplant wird. Das Wirtschaftswachstum in fast allen lateinamerikanischen Ländern beruht auf dem Export von Rohstoffen. Die Weigerung von indigenen Gemeinschaften, diesen Großprojekten zuzustimmen, kann das nationale Wachstum gefährden. Konflikte, die eine Folge des Sogs nach Rohstoffen auf dem Weltmarkt sind, werden dann ethnisch gedeutet. In Guatemala bedeuten diese Konflikte oft, dass zum Beispiel als Folge einer Goldmine den Indigenen in benachbarten Dörfern das Wasser entzogen oder vergiftet wird. Gelegentlich greifen Indigene zur Selbstjustiz. Dann werden diese Gegenden „unregierbar“. Von diesen Konflikten sind alle lateinamerikanischen Staaten betroffen, gleich ob sie ihre ethnische Pluralität weitgehend leugnen und scheinbar „monokulturell“ sind (Chile, Kolumbien) oder sich als „plurinational“ definieren (Bolivien); in den erstgenannten Staaten sind die Konfliktlinien einfacher zu ziehen.
Der Strafprozess gegen Ríos Montt ist somit auch ein kleiner Mosaikstein im Konflikt zwischen den Interessen der Global Players, die den Weltmarkt dominieren, und dem Anspruch der indigenen Gruppen auf Selbstbestimmung.