Auch Jahrzehnte nach ihrem Ende sind die Militärdiktaturen in Südamerika kein abgeschlossenes Kapitel. Selbst Amnestiegesetze für die uniformierten Täter haben letztlich keine kollektive Amnesie bewerkstelligen können. Egal ob diese später in Teilen gekippt und die Folterer und Mörder vor Gericht gestellt werden, wie in Argentinien, Oder ob, wie in Brasilien, die Verbrechen der Diktatur weiterhin stark tabuisiert sind und eine Wahrheitskommission erst vor zwei Jahren mit einem sehr beschränkten Mandat überhaupt eingerichtet wurde.
Nimmt man die Belletristik als Seismographen, ist der unterschiedliche gesellschaftliche Umgang mit dem düsteren Kapitel sogar quantitativ messbar: In Argentinien ist über die Jahre eine umfang- und facettenreiche Literatur zu dem Thema erschienen. In Brasilien tasten sich die AutorInnen bislang eher selten und vorsichtig an die Diktatur und deren Folgen heran. Vor diesem Hintergrund bieten zwei kürzlich ins Deutsche übersetzte Romane aus Argentinien und Brasilien interessante Einblicke.
Von der Argentinierin Claudia Piñeiro ist soeben der Roman „Ein Kommunist in Unterhosen“ erschienen. Eine despektierliche Abrechnung? Mitnichten. Schon das Umschlagfoto zeigt die Autorin selbst als Acht- bis Zehnjährige lachend an der Hand ihres Vaters. Es taucht im zweiten Teil des Buches nochmals auf. Dort sind 31 Fußnoten zum Text versammelt – Fotos im Besitz der Autorin, persönliche Erinnerungen, Zeitungsausschnitte, zeitgeschichtliche Erläuterungen – die man als solche den eingeklammerten Ziffern entsprechend in die Lektüre des ersten Teils einschließen oder auch separat in beliebiger Reihenfolge durchblättern kann, das stellt die Autorin frei. Matrjoschkas nennt Claudia Piñeiro sie, wie die ineinander geschachtelten russischen Holzpuppen.
Eine Spurensuche also. Die Erinerung geht zurück in den argentinischen Sommer (Januar/Februar) des Jahres 1976. Der Vater der Ich-Erzählerin ist seit seiner Entlassung als Hühnerfachverkäufer nunmehr Turboventilatorenvertreter und hofft im Sinne des Geschäfts auf heiße Tage. Die Tochter auch, so ist das in dem Alter. Urkomisch ist die erste Seite der Lektüre eigentlich. Indessen beschleicht ein Anflug von Bestürzung ob der vermeintlich flapsigen Komödie die Leserin, die gerade vergessen hat, dass Claudia Piñeiro Verwirrspiele bestens beherrscht. Steht nicht ein Militärputsch kurz bevor? Genauer gesagt die Machtübernahme einer brutalen Junta am 24. März 1976?
Tatsächlich kommen wir zu diesem Thema, und zwar aus der Sicht des Kindes. Ein Blickwinkel wie im Roman „Kamtschatka“ (dt. 2008) von Marcelo Figueras, nur war der Erzähler da ein Junge. Das Mädchen verbringt seine Sommerferien in der Kleinstadt Burzaco, zumeist unter altklugen, die Eltern nachplappernden Freundinnen im örtlichen Schwimmbad.
Sie vergöttert den Vater, der, wenngleich physisch attraktiv, ein Sonderling ist. Das ist eine schwierige Lage für Kinder. Folgt sie den Ratschlägen des Vaters, zeigen die Klassenkameradinnen mit dem Finger auf sie. Schlägt sie sich auf die Seite der Freundinnen, verachtet sie der Vater. Mutter und Großmutter wiegeln gewöhnlich ab und lassen dem Mann seine Marotten.
Was als „Zweifel und Selbstzweifel am Beginn einer Jugend“ – so entpolitisierend der deutsche Klappentext des Romans – beginnt, entpuppt sich (siehe Matrjoschka) als Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten des Widerstandes in der argentinischen Diktatur, bei der man dem Seziermessser die Schärfe nicht anmerkt. Denn es wird niemand gefoltert, niemand stirbt. Als die Familie des Hausarztes abgeholt wird, sagen die Klassenkameradinnen, das passiere nur Leuten, die „komische Sachen“ machten. Nur der Vater meint das nicht. Als die hübsche Lehrerin mit dem Vater Tennis spielt, urteilt die Gesellschaftskonvention eindeutig: Die haben ein Verhältnis. Die Tochter, im Dilemma, schweigt vor der Mutter. Als die Lehrerin der Tochter heimlich einen Brief für den Vater zusteckt, bevor sie abtaucht, interpretiert sie diesen verkehrt. „Wenn jemand sich nichts zuschulden hat kommen lassen, kehrt er auch zurück“ (S. 89), sagt die Schulfreundin Mónica. Der Vater darauf: „Sag Moniquita, dass manche beim Zurückkehren irgendwo im Meer treiben, mit dem Gesicht nach unten.“ (S. 90) Er selbst sagt laut nichts.
Wie bei einem solchen Vater Anerkennung und Dazugehören in moralische Deckung bringen? Die Familie des Mädchens nimmt als einzige nicht an den Sitzungen des Burzacoer Fahnendenkmalkomitees unter Vorsitz eines Rotariers teil, was dem Mädchen weitere Nöte als Außenseiterin beschert. Das dort wie überhaupt in der Kleinstadt praktizierte spießbürgerliche MitläuferInnentum – in der naiven Nacherzählung des Kindes einfach zum Schieflachen – geht dem Vater gegen den Strich. Er verweigert sich – durch Abwesenheit und das Verständnis eines Kindes überfordernde Kommentare in den eigenen vier Wänden.
Als ausgerechnet die Ich-Erzählerin auserkoren wird, zum Tag der Nationalfahne die Landesflagge bei der Schulparade zu tragen, muss sie Farbe bekennen. Sie weiß, der Vater ist Kommunist („Der Kapitalismus ist so was von am Ende, sagte mein Vater ständig“, S.18). Das verschweigt die Tochter vorsichtshalber in der Schule, war daheim aber nie ein Geheimnis. Ein Rätsel ist eher, was dies in der Praxis bedeutet. Denn der Vater ist nirgends organisiert und greift auch nicht politisch ein. Oder? Der Kommunist, der zu Hause immer nur in Unterhosen herumläuft, zeigt der Tochter vor dem Fahnenappell … Aber das sollte jedeR selbst lesen. Jedenfalls ist der Vater eher ein Gesinnungsanarchist als ein Kommunist und sowieso kein Parteisoldat. Denn die argentinischen Kommunisten stützten die Diktatur, wie Claudia Piñeiro im Anhang eine Verlautbarung der argentinischen KP von April 1976 zitierend feststellt.
Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, beweist die Tochter am Ende. Doch dieses Ende ist, wie gesagt, erst der erste Teil des Romans, der in Sprüngen erzählt, unsortiert wie ein Gedächtnis, generationsübergreifend Querverbindungen schlägt, mit Bildern assoziiert, neue Fragen aufwirft.
Vieles aus dem Roman ist real. Auch den kommunistischen Vater in Unterhosen gab es wirklich, sagt die 1960 geborene und in Burzaco aufgewachsene Claudia Piñeiro im Nachwort. Anderes ist Fiktion. Der (wirkliche) Vater „starb an einem Herzinfarkt, am Tag, nachdem er im Fernsehen einen Dokumentarfilm über das Massaker am Flughafen Ezeiza gesehen hatte“ (S. 192). Das Massaker fand real am 20. Juni 1973 statt. Perón landete dort bei seiner Rückkehr aus dem Exil, während sich, vom ultrarechten Innenminister López Rega orchestriert, VertreterInnen unterschiedlicher Tendenzen des Peronismus vor dessen Toren mit blutigem Ausgang bekämpften.
In dieser Hinsicht ist der Roman in Komik geschürzte Trauerarbeit und ein Versuch, in der formal wie inhaltlichen Verschachtelung von eigener und großer Geschichte (sich selbst, den Vater, Widerstandsformen) zu begreifen. Gewidmet ist dieser Versuch dem Bruder der Autorin, der als Einziger wisse, „wie viel Erfundenes und wie viel tatsächlich Geschehenes diese Geschichte enthält“.
Fast genau so beginnt „K. oder Die verschwundene Tochter“ (dt. 2013), der Erstlingsroman des Brasilianers Bernardo Kucinski: „Alles in diesem Buch ist Erfindung, aber fast alles ist geschehen.“ Der in der Menschenrechtsszene seines Landes bekannte Kucinski, Jahrgang 1937, bedient sich ebenfalls der Verschränkung von Fiktion und Zeugnisliteratur, um gegen das Vergessen und um das Verstehen zu kämpfen. Wie bei Claudia Piñeiro ist sein Angelpunkt die eigene Familie.
Kucinskis Schwester Ana-Rosa, die in der ALN-Guerilla (Açao Libertadora Nacional) aktiv war, verschwand im April 1974. Die Titelfigur K. trägt Züge von Kucinskis Vater. In den 70er-Jahren vermisst dieser K. eines Tages seine Tochter, Dozentin für Biochemie an der Universität von Sao Paulo. K. macht sich auf die Suche nach ihr. Warum hat er, der Herrenausstatter, bis zu ihrem Verschwinden nichts gemerkt? Er, der polnisch-jüdische Einwanderer, war in seiner Jugend als Mitglied einer linkszionistischen Partei in seinem Heimatland selbst im Widerstand; er kennt dessen Formen und Vorgehensweisen und hielt dennoch seine Tochter für unpolitisch. Anders als viele aus seiner (das heißt auch Kucinskis realer) Familie, die in den Ghettos und Konzentrationslagern der Nazis umkamen, hat er damals überlebt.
K., der Vater, fühlt sich schuldig, wie so viele Überlebende der Ghettos und Konzentrationslager der Nazis. K. fragt sich nach seiner Verantwortung – in welchem Moment hätte er die Tragödie verhindern können? Wer denkt da nicht an einen anderen jüdischen K., jenen Josef K. in Kafkas „Der Prozess“. Er wird vor Gericht gestellt, ohne die Anklage gegen ihn zu kennen. Dennoch fühlt er sich zunehmend unsicher, versucht den Irrtum zu finden, der ihn „schuldig“ machte, und verstrickt sich dabei von Zweifel zerrissen in dem, was seither kafkaeskes Labyrinth genannt wird. Der zufällig fragmentarische Charakter des Romans – Kafka starb vor seiner Vollendung – unterstreicht geradezu die Aussage, wie auch in den Geschichten eines anderen Herrn K., des Herr Keuner von Bertolt Brecht.
Auch Kucinskis K. findet keine befriedigenden Antworten auf seine Fragen. Warum wusste er nichts vom Doppelleben seiner Tochter? Weil er der Pflege der jiddischen Literatur mehr Wert beimaß als der Familie? Am Ende wechselt er zum Hebräischen, um der Enkelin in Israel vom Schicksal der Tante zu berichten, da das Jiddische zu schön sei für das grässliche Geschehen.Dazu kommen reale Erfahrungen wie die Niedertracht des teils duckmäuserischen, teils karriereversessenen Universitätskollegiums, das die verschleppte und ermordete Tochter wegen „Verlassens ihres Postens“ der Universität verweist, und zwar ohne Gegenstimmen bei nur zwei Enthaltungen. Als empörte Lesende würde man sich wünschen, dass wenigstens ein paar der namentlich genannten Professoren dafür später bezahlen. Doch, das schreibt Kucinski an anderer Stelle, weder auf der Ebene der Mitläufer noch von den Tätern – der Autor spricht von 232 namentlich bekannten Folterern – wurde in Brasilien ein einziger strafrechtlich verfolgt.
Damit ist eine wichtige Funktion des Buches genannt: das zur Sprache zu bringen, was die Mehrheitsgesellschaft in Brasilien bis heute nicht hören will. K. beschreibt die allmähliche Organisierung der stigmatisierten Angehörigengruppen der Verschwundenen, die Unterstützung durch die katholische Kirche, Erfahrungen bei Amnesty International, der UN-Menschenrechtsoganisation, dem American Jewish Committee und der OAS. Oder auch die Achterbahnen zwischen Hoffnung und Verzweiflung, die psychologische Kriegführung der Militärs, die die Angehörigen durch falsche Fährten zu zermürben suchte, mit Nachrichten, dass der Sohn oder die Tochter einfach nur abgehauen und im Ausland aufgetaucht seien, dass sie an einem klandestinen Ort verscharrt seien oder dass es überhaupt keine politischen Gefangenen gäbe und es kriminell sei, Regierung und Militär durch falsche Behauptungen in schlechtes Licht zu setzen. Oder dass jemand gegen Geld die Verschwundenen wiederbringen könne und die Angehörigen um ihre letzten Ersparnisse bringt. K. diskuiert auch die Frage der Entschädigungen, die wiederum Schuldgefühle provozieren („Ich erhalte Geld, weil er/sie tot ist“) oder den Versuch des Regimes, Fälle abzuschließen, bevor die Körper beerdigt sind – und was für eine Katastrophe das in der jüdischen Kultur ist.
Neben den K.-Kapiteln stehen Dialoge, innere Monologe, Charakterskizzen, Dokumente, kurz: unterschiedliche Textsorten, in denen es um das Ausleuchten des gesamten Umfelds aus verschiedenen Perspektiven geht, immer mit der Fragestellung, was sind das für Menschen, die das Unrechtssystem bewusst oder gezwungenermaßen stützten? Kucinski hätte das so stehen lassen können. Aber er ist eben nicht nur Schriftsteller, sondern auch Menschenrechsaktivist. Daher schließt das Buch mit einem Postscriptum und dieses wiederum damit, dass das Repressionsysstem weiterhin funktioniere.