Das Lateinamerika-Magazin

Kämpfe ums Recht

Almut Schilling-Vacaflor analysiert den bolivianischen Verfassungsprozess

Bolivien ist seit der Amtsübernahme von Evo Morales zunehmend ins Interesse der akademischen Forschung gerückt. Zuletzt wurden mehrere Sammelbände über die politische Entwicklung veröffentlicht (vgl. Seite 50-51 sowie ila 339 und 344). Auch die Dissertation von ila-Autorin und Giga-Mitarbeiterin (German Institute of Global and Area Studies) Almut Schilling Vacaflor ist nun im Nomos-Verlag erschienen.

Schilling-Vacaflor widmet sich mit „Recht als umkämpftes Terrain. Die neue Verfassung und indigene Völker in Bolivien“ den Veränderungen des Rechtssystems und den Gründen warum sich bestimmte Forderungen im Rahmen des Verfassungsprozesses durchsetzen konnten, andere jedoch nicht. Was sich zunächst sehr speziell anhört, bietet jedoch eine gelungene Einführung und Übersicht über die unterschiedlichen sozialen Bewegungen des Landes und deren Positionen. Zunächst stellt Schilling-Vacaflor die Debatte um das Verhältnis der indigenen Völker zur Institution Staat dar. Anschließend widmet sie sich den unterschiedlichen Akteuren und ihren Forderungen im Rahmen des Verfassungsprozesses und zeigt, wie die Aushandlungsprozesse verliefen. Zuletzt erklärt sie die Veränderungen in der neuen Verfassung.

Schilling-Vacaflor verbinden mehrere Forschungsaufenthalte mit Bolivien, so dass sie auch die Perspektiven der Basisorganisationen als teilnehmende Beobachterin kennengelernt hat. Dieser Blick von unten ist eine große Stärke ihrer Arbeit. Anstatt die gesellschaftlichen Kräfte homogen zu denken oder sie gar mit der Regierung Morales gleichzusetzen, arbeitet sie sehr fundiert die Unterschiede zwischen den einzelnen Bewegungen heraus. Dabei stellt sie immer wieder gängige Interpretationen in Frage. So übernimmt sie auch nicht die einfache Zweiteilung zwischen indigen und nicht-indigen, sondern verwendet ein Abstufungssystem, um Indigenität festzustellen. Für die Diskussion um die Verfassung war die Definition des Indigenen wichtig und gleichzeitig politisch extrem aufgeladen: Während die konservative Opposition die Meinung vertrat, nur ein kleiner Teil der Bolivianer sei tatsächlich indigen, sehen verschiedene Studien nationaler und internationaler Institutionen den Anteil bei über 60 Prozent. Hieraus folgen zwei unterschiedliche Positionen. Während die Opposition lediglich Minderheitenrechte für Indigene akzeptieren möchte, versuchen die Bewegungen den Staat zu „indigenisieren“.

Doch auch die indigene Bewegung ist gespalten. Vacaflor kategorisiert die Positionen in zwei Blöcke: die Tieflandorganisationen und die Ayllus (indigene Gemeinschaften im Hochland – die Red.) auf der einen Seite, die ländlichen Gewerkschaften auf der anderen. Konsens gab es zwischen diesen beiden Fraktionen in der Forderung nach Anerkennung der indigenen Rechte. Entgegengesetzt beurteilen sie vor allem die Organisation über Parteien. Die ländlichen Gewerkschaften – gleichzeitig eine Stütze der MAS – möchten an dem bisherigen Parteiensystem festhalten, während die Ayllus und Tieflandorganisationen im staatlichen System direkt repräsentiert werden wollen, ohne den Umweg über eine Partei. Auch bei der Frage der indigenen Autonomien und der Verfügung über die nicht-erneuerbaren Ressourcen vertraten Ayllus und Tieflandorganisationen deutlich radikalere Positionen. Durch ihre engere Verbindung mit der Regierung und ihre gemäßigteren Positionen konnten die ländlichen Gewerkschaften ihre Ziele eher durchsetzen.

Dass es sich bei dem Verfassungsprozess tatsächlich um ein „umkämpftes Terrain“ handelt, bei dem der Machtgewinn auf Kosten von demokratischen Entscheidungsfindungen im Mittelpunkt steht, zeigt sich auch daran, dass die MAS keine RepräsentantInnen außerhalb der Parteien zuließ und damit zuvor geschlossene Übereinkommen brach. Hinzu kommt, dass die Delegierten der MAS ihre Entscheidungen auch gegen ihre Überzeugungen trafen, wenn es strategisch dienlich war und den Machterhalt sicherte.

Die Opposition wiederum versuchte sich über technische Diskriminierung, wie das Fehlen von Übersetzung oder eine starke juristisch-technische Sprechweise, Vorteile in der Verfassunggebenden Versammlung zu verschaffen. Schilling-Vacaflor schlussfolgert aus diesen Machtasymmetrien, dass es nicht reicht, die Kulturen in das bestehende System zu integrieren, sondern dass vielmehr neue, plurale Institutionen geschaffen werden müssen. Dagegen strebten die konservativen regionalen Eliten eine Mobilisierung über rassistische Diskurse an, die die indigene Bevölkerung als Bedrohung darstellten und somit auch physische Gewalt legitimierten. In diesem Klima wurde um die Verfassung gerungen. Zeitweilig stand Bolivien am Rand eines Bürgerkrieges, den die Regierung nur durch starke Zugeständnisse an die rechte Opposition abwenden konnte. Dennoch finden sich in der neuen Verfassung einige fortschrittliche Änderungen. Am deutlichsten sticht die Anerkennung von indigenen Rechten heraus. Auch das Prinzip des Guten Lebens sowie plurale Wirtschaftsformen erhalten Verfassungsrang. Eine verfassungsrechtliche Neuheit ist die festgeschriebene Kontrolle der Zivilgesellschaft, die eigene Institutionen zur Überprüfung der öffentlichen Politik erhalten soll. Wie genau dies umgesetzt wird, bleibt abzuwarten. So schlussfolgert Schilling-Vacaflor, dass die Verfassung nur ein Element im Umbau des Staates sei, „denn zur Implementierung einer Verfassung sind funktionierende Institutionen sowie der entsprechende rechtliche und politische Wille unumgänglich“ (S. 260). Ein Weg, der sicher wieder zu neuen Konflikten führen wird. 

„Recht als Umkämpftes Terrain“ ist eine sehr komplexe, detailreiche Analyse des bolivianischen Verfassungsprozesses. Wie von einer Doktorarbeit zu erwarten, richtet sich das Buch insbesondere an theoretisch interessierte Menschen, der Stil ist entsprechend akademisch. Alles in allem eine aufwendige und gleichzeitig äußerst gelungene Analyse.

Almut Schilling-Vacaflor: Recht als umkämpftes Terrain. Die neue Verfassung und indigene Völker in Bolivien, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2010, 290 S., Broschiert, 49,- Euro