In einer Nacht-und-Nebelaktion werden der Protagonist des Romans, ein zehnjähriger Junge, und sein kleiner Bruder, genannt der Zwerg, aus ihrem gewohnten Umfeld gerissen und müssen ihre Schule, Freunde und Spielsachen zurücklassen, um sich mit ihren Eltern in einem Haus auf dem Land zu verstecken. Es ist das Jahr 1976, die Militärs haben in Argentinien die Macht an sich gerissen, und die Eltern, der Vater Rechtsanwalt, der sich für politische Häftlinge einsetzt, müssen als Regimegegner um ihr Leben fürchten. Aus der Sicht des Jungen ist dies der Beginn eines Spiels, das ihm einige Opfer abverlangt, aber auch seinen Reiz hat und ihn eintauchen lässt in eine Welt von Agenten, Spionen und Entfesselungskünstlern.
Die Familie legt sich eine neue Identität und somit auch neue Namen zu, der Protagonist wählt den Vornamen nach seinem Vorbild, dem Zauberkünstler Harry Houdini, und den Kindern wird eingeschärft, ihre wahre Identität zu verschweigen und möglichst wenig Kontakt zur Außenwelt zu pflegen. Mit dem Besuch einer neuen Schule kehrt bald wieder ein Stück Normalität ein, auch wenn Harry der Spagat zwischen seiner wahren und seiner neuen Identität schwerfällt. So wird er seinen neuen Mitschülern als Haroldo vorgestellt, dies hatte er nicht bedacht, und wird direkt zum Gespött der anderen. Er erkennt jedoch, dass dieser Zustand nicht von Dauer sein kann, und entscheidet sich dafür, anstatt sich neue Freunde in der Schule zu suchen, seinem besten Freund Bertuccio treu zu bleiben und sich einstweilen Globulito, dem Skelett der Schule für den Biologieunterricht, anzuvertrauen, da dieses wenigstens schweigen kann.
„Hoffnungsfroh sagte ich zu ihm, wenn ich mich in jemanden anderes verwandelte, dann könnte ich doch wenigstens Bertuccio anrufen. Ich sei überzeugt, wenn er ans Telefon käme, würde er meine Stimme gleich erkennen, auch wenn ich ihm sagte, mein Name sei Otto von Bismarck, ihm wäre sofort klar, dass es sich um eine Notsituation handelte, und er würde den Code respektieren. Wir könnten sogar eine Geheimsprache erfinden! An dieser Stelle griff Mama als ‚der Fels’ ein und machte all meine Hoffnungen zunichte. Sie sagte, das Verbot gelte nach wie vor und ich könne Bertuccio nicht anrufen, selbst, wenn ich ihm sagte, der Zauberer Mandrake sei am Apparat, und Schluss, aus, kein Wort mehr, Santofinito. (Mit der Zeit sollte Santofinito zu einem von den Lieblingsheiligen des Zwerges werden, den er bei der Apokalypse zu sehen hoffte.) Ich war besiegt. Ich schob den Teller mit dem halb aufgegessenen Apfel weg und verschränkte wutschnaubend die Arme vor der Brust. Der einzige Grund, warum ich nicht aufstand und weglief, war, dass ich nicht gewusst hätte wohin…“.
Auch die Eltern müssen sich an ihre neuen Rollen gewöhnen, so etwa Harrys Mutter, die ihren Lehrstuhl als Physikerin an der Universität verliert. Süffisant kommentiert Harry fortan die Qualitäten seiner Mutter als Hausfrau, und vermutet einen Alien in ihrer sterblichen Hülle, als er eines Tages nach der Schule das Haus aufgeräumt und geputzt vorfindet. Trotz ihrer Sorgen versuchen die Eltern, die Kinder aus allem herauszuhalten und ihnen die neuen Lebensumstände so angenehm wie möglich zu gestalten. So müssen sie immer wieder in Verhandlung mit den Kindern treten und ihnen Zugeständnisse machen, so auch als sie trotz der Gefahr schließlich zu ihrem Haus in Buenos Aires zurückkehren, um den Kindern ihre wichtigsten Spielsachen zu holen. Harry verlangt insbesondere nach einem Brettspiel, das er und sein Vater stundenlang gemeinsam spielen, auch wenn er immer gegen seinen Vater verliert. Es ist ein Strategiespiel, bei dem es darum geht, möglichst viele Länder einzunehmen und zu verteidigen. Kamtschatka ist das Land, welches Harry am meisten fasziniert und ihm zugleich, als Halbinsel im ostasiatischen Teil Russlands, von allen Ländern am weitesten entfernt scheint. Kamtschatka wird bald zu einem Synonym für eine Welt, die Sicherheit verspricht und die es zu verteidigen gilt. Kamtschatka wird auch das letzte Wort sein, das Harry von seinem Vater hört.
Die politischen Ereignisse dieser Zeit stehen in diesem Roman weniger im Vordergrund als vielmehr das individuelle Schicksal einer Familie. Mit Liebe zum Detail und viel Einfühlungsvermögen geschrieben, lässt das Buch den Leser in die Welt eines Kindes eintauchen, das das Geschehen aus seiner Sicht interpretiert und nach seinen ganz eigenen Erklärungen sucht, wobei hin und wieder sein erwachsenes Alter Ego zu Hilfe eilt und im Rückblick die Geschichte ergänzt. So hat Figueras trotz der Tragik der Umstände eine zum großen Teil heitere und unterhaltsame Geschichte geschrieben, die zwar nicht auf ein gutes Ende hoffen lässt, aber ohne Pathos auskommt und stattdessen viele komische Situationen einfängt. Es ist die Welt aus den Augen eines Kindes: Die Phantasie ist stärker als die brutale Realität und erdachte Erklärungen finden mehr Anklang als die Logik der Erwachsenen.
Marcelo Figueras wurde 1962 in Buenos Aires geboren und erlebte die Militärdiktatur als Heranwachsender mit. Er arbeitete als Journalist und schrieb u.a. für die Zeitschrift Clarín. Er hat bereits mehrere Romane veröffentlicht und Drehbücher geschrieben, so auch das Drehbuch für die Verfilmung von Kamtschatka; 2003 auf der Berlinale vorgestellt, wurde er als bester ausländischer Film für den Oscar nominiert.
Marcelo Figueras: Kamtschatka, Roman, Übersetzung: Sabine Giersberg, Verlag Nagel & Kimche, Zürich 2006, 320 Seiten, 19,90 Euro