Kartei des Terrors

Das war eine Fleißarbeit, die die Autoren mit dem Buch „Kartei des Terrors – Notizen zum Innenleben der chilenischen Militärdiktatur (1973-1990) aus der Colonia Dignidad“ Anfang 2022 vorgelegt haben. Dieter Maier, der detailreichste Kenner der deutschen Sekte, die mit dem chilenischen Geheimdienst zusammenarbeitete, hat sich gemeinsam mit Luis Narváez eines der eigenartigsten Kapitel der Geschichte der Colonia Dignidad angenommen. Es geht darum, wie die Colonia Dignidad dem Pinochet-Geheimdienst DINA assistiert hat, um politische Gegner*innen der Diktatur ausfindig zu machen, zu verhören, zu foltern und auch zu ermorden.

Im Jahr 2000 fand die chilenische Polizei in der Colonia Dignidad im Rahmen einer Untersuchung wegen „verschwundener“ politischer Gefangener einen umfangreichen Dokumentenbestand auf dem Gelände. Im Jahr 2005 stieß die Polizei bei einer weiteren Durchsuchung auf dem Gelände der jetzt „Villa Baviera“ genannten Siedlung auf ein vergrabenes Waffenlager und am nächsten Tag auf einen in der Nähe geparkten Lastkraftwagen, in dem sich eine Sammlung von mehr als 45 000 Karteikarten und weitere Dokumente befanden. Die Polizei digitalisierte diese 45 000 Karten. Das Karteikartenarchiv blieb eine Zeitlang unter Verschluss der Untersuchungsbehörde und wurde später Menschenrechtsorganisationen übergeben, die es zum Teil ins Internet stellten, bis es schließlich im Nationalarchiv in Santiago landete, wo es seit 2019 frei zugänglich ist. Es handelt sich um 25 laufende Meter Akten. Die beiden Autoren Maier und Narváez nutzten dieses Archiv für den Aufbau einer eigenen Datenbank (www.fichas-chile.com), die vom Hamburger Institut für Sozialforschung gefördert wurde. Dort können die Nutzer*innen die im Buch beschriebenen Karteikarten selbst ansehen und weitere Recherchen vornehmen.

Das Archiv ist das Lebenswerk des Sektenmitglieds Dr. Gerd Seewald, der zum Führungskreis der Sekte um Paul Schäfer gehörte. Seewald war Doktor der Philologie und Philosophie und arbeitete, bevor er 1961 in die Colonia Dignidad auswanderte, beim R. Brockhaus-Verlag. Es ist beängstigend, mit welcher Akribie Seewald sein Archiv geführt hat. Die meisten Karten sind auf Spanisch abgefasst. Manche ursprünglich deutsche Karten wurden teilweise ins Spanische übersetzt. „Das Kartenarchiv war eine Dienstleistung der Colonia Dignidad für die Diktatur“, schreibt Maier, wobei das Archiv ein Eigenleben entwickelte und Seewald sogar nach Ende der Pinochet-Herrschaft Eintragungen vornahm. Vermutlich diente das Archiv auch dem Sektenführer, um Näheres über seine Kontaktpersonen bei Geheimdienst und Militär zu wissen.

Was hat Seewald auf den Karten erfasst? Auf den Karteikarten wurden Informationen über tatsächliche und angebliche Gegner*innen der Pinochet-Diktatur gesammelt. Diverse Eintragungen lassen darauf schließen, dass Informationen durch Folter erpresst worden waren. Mit den Informationen konnten von der DINA Verhaftete verunsichert und unter Druck gesetzt werden, um ihren Widerstandswillen zu brechen. Das Karteikartenarchiv diente auch der Überwachung der Region rund um die Colonia Dignidad, zu der Chiles zweitgrößte Stadt Concepción gehört. Häufig waren auf den Karteikarten heimlich gemachte Fotos der Überwachten aufgeklebt. Vielfach wurden Ausschnitte aus Zeitungen zu dieser Person hinzugefügt. Die Sekte nutzte das Archiv auch zu eigenen Zwecken, da Besucher*innen an der Pforte aufgehalten wurden, bis deren Identität durch Telefonanruf beim Archiv geklärt war. Informationen wurden auch über Kommunalpolitiker*innen und die örtliche Verwaltung gesammelt.

„Dies ist kein Buch, das man von der ersten bis zur letzten Seite liest“, schreibt Dieter Maier in seinem Vorwort. Das kann man nur unterstreichen. Die Autoren haben das Buch in drei größere Kapitel eingeteilt, die sich chronologisch orientieren: an der Vorbereitung des Putsches vom 11. September 1973, der Zerschlagung der Linken in der Region südlich von Santiago und schließlich an den weiteren Folgen des Putsches. Einzelne Kapitel sind nach bestimmten Stichworten ausgerichtet. In diesen Kapiteln, die die Karteikarten vorstellen, finden sich zahlreiche Ausführungen, die über den Inhalt der Karteikarten hinausgehen. Hier können die Autoren von ihrem enormen Detailwissen über die politischen Parteien zur Zeit des Putsches profitieren. Insofern bietet das Buch wesentlich mehr Inhalte als die Darstellung und Interpretation der vielen abgebildeten Karteikarten. Häufig werden Detailkenntnisse zu den inneren Verhältnissen der verfolgten oppositionellen Parteien dargestellt. Viele Kapitel beschäftigen sich mit der Zerschlagung der Linksparteien in der näheren Umgebung der Colonia Dignidad. An den überwachten Personen war nahezu alles von Interesse. Natürlich wurden auch sexuelle Kontakte oder „Fehltritte“ notiert. Wie tief sich die Autoren in die Karteikarten eingearbeitet haben, ist auch daran erkennbar, dass es ihnen in vielen Fällen gelungen ist, die auf der Karte verwendeten Kürzel für die Informanten jeweiligen realen Personen zuzuordnen. Über Heinz Kuhn, ein ehemaliges Mitglied der Colonia Dignidad, der aber trotzdem Informationen an das Archiv lieferte, wissen die Autoren, dass sein Deckname „Bauscher“ oder „Bau“ war, weil er alles „aufbauschte“. Ein anderer Deckname von Kuhn war „Wasserfall“ oder „Wassermann“.

Mit der Darstellung verschiedener Karten entwickelt Maier ein Bild von der Sekte in der Colonia Dignidad, das besonders den nahezu kranken Verfolgungswahn herausstellt. Der Wahn wird in für den Geheimdienst nützliche Informationen verwandelt. Der Autor des Karteikartenarchivs, Dr. Gerd Seewald, wird von Dieter Maier als der „Buchhalter des Bösen“ bezeichnet. Seewald wurde nach dem Ende der Colonia Dignidad 2006 wegen Zugehörigkeit zu einer kriminellen Vereinigung verhaftet, da er das Karteikartenarchiv betrieben hatte. Es folgte 2011 eine Verurteilung wegen Beihilfe zum sexuellen Missbrauch von Minderjährigen, wie die gesamte Führungsgruppe von Paul Schäfer verurteilt wurde. Dieses Urteil wurde am 25. Januar 2013 vom Obersten Chilenischen Gerichtshof bestätigt. Seewald starb eineinhalb Jahre später am 24. Juli 2014 im Gefängnis von Cauquenes.

Das Buch ist eine Fundgrube für die Spezialist*innen, die sich mit der Geschichte dieser verschrobenen deutschen Sekte befassen. Es sind jedoch gewisse Grundkenntnisse über den Gesamtkomplex notwendig, wenn man das gesamte Potenzial des Buchs ausschöpfen will.

Für das Verständnis der Leser*innen, die nicht ein ausgesprochenes Interesse an der Colonia Dignidad haben, wäre ist sinnvoll gewesen, wenn man am Anfang des Buchs eine kurze Darstellung der Geschichte der Sekte, einschließlich der deutschen Vorgeschichte, hätte nachlesen können. Und auch die Darstellung der Geschichte und des Aufbaus des Karteikartenarchivs hätte nach Meinung des Rezensenten nach vorn gehört. So stürzen die Leser*innen nun gleich in die Einzelheiten der chilenischen Geschichte um den Putsch gegen den Präsidenten Allende am 11. September 1973. Das ist spannend. Es dauert aber etwas, bis man sich orientiert und eingelesen hat.