Kein Verschuldungsproblem?

Ein erster Blick auf die Wirtschaftsdaten in Ecuador lässt tatsächlich vermuten, dass sich die wirtschaftlichen Entwicklungen seit der dramatischen Wirtschaftskrise 1999 stabilisiert haben. Ein Ausnahmewachstum von fast sieben Prozent in 2004 und eine Inflation von unter zwei Prozent stehen positiv zu Buche. Diese Vermutung hält aber nur einer sehr oberflächlichen Betrachtung stand, während eine genaue Analyse schnell deutlich macht, dass sich die vermeintliche Stabilisierung vor allem auf zwei wichtige Säulen stützt: zum einen auf die hohen Einnahmen im Ölsektor, die primär auf den gegenwärtig hohen Weltmarktpreis zurückzuführen sind und durch eine aggressive Ölförderpolitik begünstigt werden, die der Umwelt und der indigenen Bevölkerung schadet. Zum anderen stellen mit rund 1,5 Mrd. US-Dollar jährlich die Rückführungen der im Ausland lebenden EcuadorianerInnen die zweitwichtigste Devisenquelle dar, ohne die die ecuadorianische Wirtschaft zusammengebrochen wäre. 

So haben vor allem externe Faktoren, wie der hohe Ölpreis, die hohen Devisentransfers der EmigrantInnen und der relativ schwache Dollar zur Erholung beigetragen. Ein nachhaltiges Wachstum der Wirtschaft außerhalb des Ölsektors hat nicht stattgefunden. Zum hohen Wachstum hat im vergangenen Jahr der Ölsektor mit 23,5 Prozent beigetragen, wohingegen beispielsweise die Landwirtschaft kein Wachstum zu vermelden hat. Durch ein insgesamt höheres Bruttoinlandsprodukt und das intensive Bemühen der Ex-Regierung, unter allen Umständen die Schulden zu bezahlen und Schuldtitel zurückzukaufen, ist es dennoch gelungen, das Verhältnis von Gesamtverschuldung und Bruttoinlandsprodukt auf nun 35 Prozent zu senken. Dies ist eine der entscheidenden Messlatten zur Beurteilung der Auslandsverschuldung und die Zahlen sollen verheißen, dass Ecuador kein Verschuldungsproblem mehr hat. 

Grundlage der ökologisch und sozial unverantwortlichen Bezahlstrategie ist die Verdoppelung der Ölförderung. Um dies zu erreichen, haben sich private Investoren zu einem Konsortium zusammengeschlossen und eine zweite – im In- und Ausland höchst umstrittene – Pipeline gebaut. Nun erhalten sie zunehmend Förderkonzessionen für Rohölvorkommen vornehmlich in den Amazonasgebieten. Und weil der Druck zum sofortigen Schuldenabbau groß ist, wird auf eine nachhaltige Form der Förderung, auf berechtigte Belange der betroffenen Bevölkerung oder die Überlegung nach gangbaren Alternativen kein Gedanke verschwendet. Ausschluss, Menschenrechtsverletzungen und die Interessen der Ölindustrie dominieren den Prozess. Die geringen Einnahmen, die der Staat aus der Mehrproduktion zieht, sind per Gesetz zweckgebunden für den Schuldendienst. Allein 70 Prozent dieser Einnahmen sollen in einen Stabilisierungsfonds fließen, aus dem Schuldtitel zurückgekauft werden. Sie fallen daher für eine Reinvestition in den Wirtschaftskreislauf aus. Damit wird die Bedienung der Schulden vor die Bedürfnisse der eigenen Bevölkerung und die Entwicklung einer nachhaltigen Ölförderpolitik gestellt. 

Doch während sich die Ölmultis bei den hohen Gewinnen die Hände reiben und während sich die Gläubiger freuen können, dass sie ihre Schuldtitel zu einem höheren als dem Nennwert an die Regierung zurückgeben können, hat sich die Lage der Bevölkerung eines der ärmsten Länder in Südamerika nur wenig verändert. Die seit 1982 durchgeführten Strukturanpassungen haben in Ecuador vor allem eines gebracht: eine zunehmend ungleiche Verteilung der Einkommen, die sich im Zuge der Krise noch einmal verschärft hat. 2002 verdienten die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung 15,7-mal so viel wie die ärmsten 40 Prozent. Die Ungleichheit hat sich in den 90er Jahren und insbesondere während der Krise erhöht. Lag der Gini-Index[fn]Der Gini-Index ist der international übliche Indikator für die Messung der Ungleichverteilung von Einkommen: Je stärker er vom Gleichgewichtsverteilungswert Null gegen Hundert tendiert, desto größer ist die Kluft zwischen Arm und Reich. Zum Vergleich: Gini-Index im Jahr 1995 für die OECD-Länder 0,34, für Subsahara-Afrika 0,45, in Lateinamerika 0,48.[/fn] 1990 bei noch 0,46 war er bis 2002 auf 0,51 abgerutscht. Das eigentlich heraufbeschworene Wachstum blieb lange Zeit aus: Zwischen 1975 und 2001 wuchs das reale BIP durchschnittlich nur um 0,2 Prozent.

Nun gibt es zwar wieder Wachstum, aber die Bevölkerung hat nichts davon. Zum Beispiel schafft die Ölproduktion kaum langfristige Arbeitsplätze oder es sind hochqualifizierte ausländische Arbeitskräfte, die angeheuert werden. Arbeitslosigkeit ist in der lahmenden Binnenwirtschaft aber ein großes Problem, sie betrug im Februar 2005 12 Prozent, die Unterbeschäftigung liegt bei über 40 Prozent. Gleichzeitig hat sich das Niveau der Minimallöhne im lateinamerikanischen Vergleich mit am deutlichsten verschlechtert und liegt 2005 bei 174 US-Dollar. Das ist deutlich unter dem Preis für den Armutswarenkorb einer 4-köpfigen Familie, der bei 282 US-Dollar liegt, oder gar dem Basiswarenkorb (421 US-Dollar). 

In dieser Situation ist die fiskalische Belastung durch den Schuldendienst sehr hoch, denn die Regierung gibt immer mehr für den Schuldendienst aus: 1986 waren es noch 24,6 Prozent, etwa genauso viel für den Bildungssektor, 2002 waren es 41,2 Prozent für den Schuldendienst respektive neun Prozent für Bildung. Die UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika (CEPAL) kommt in einer Simulation mit den Wachstumsraten und Entwicklungen in Bezug auf die Ungleichheit zu dem Ergebnis, dass Ecuador nicht nur die international vereinbarten Millennium Entwicklungsziele verfehlen würde, sondern 2015 gar einen höheren Anteil an extrem Armen hätte als heute, sollten diese Entwicklungen fortgeschrieben werden. 
Daher bedarf es einer Politik der Umverteilung. Wachstum sollte nicht alleine auf die Produktion von einigen wenigen Exportgütern setzen, sondern vor allem auch die interne Nachfrage stärken. Auch über die Steuerpolitik muss eine Umverteilung eingeleitet werden, damit die oberen Einkommensschichten ihren angemessenen Anteil tragen. Aber all diese internen Maßnahmen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die fiskalische Belastung durch den Schuldendienst gesenkt werden muss, wenn eine ernsthafte Anstrengung zur Reduzierung von Armut angestrebt wird.

Auch die Umwelt zahlt einen hohen Preis für die konsequente Bedienung der Auslandsverschuldung. Der Export besteht zu über 90 Prozent aus Primärgütern (Öl, Bananen, Krabben, Blumen etc). Die andauernde Ausbeutung der natürlichen Ressourcen hinterlässt ihre Spuren und beschädigt nur allzu oft einzigartige Biosphären. Die Ausbeutung ihrer Ressourcen ist der Bevölkerung nicht zugute gekommen. Nicht einmal die Menschen in den Förderregionen selbst haben etwas von dem Reichtum gehabt, der durch ihr Gebiet fließt. Diese Regionen gehören noch immer zu den ärmsten des Landes. Im Gegenteil, 30 Jahre Erdölförderung, in denen etwa 74 Millionen Liter Öl bei Leckagen unkontrolliert ausgetreten sind, haben ihre Umwelt und ihre kulturelle Lebensweise nachhaltig gestört. So stehen dem kurz- und mittelfristigen makroökonomischen Nutzen einer intensiven Ölförderung langfristig hohe soziale und ökologische Kosten und Risiken gegenüber. Hierzu gehört die Zerstörung wertvoller Naturreservate ebenso wie das steigende Risiko sozialer Konflikte und die ökonomische Fragwürdigkeit, die einseitige Abhängigkeit von einem Exportprodukt zulasten anderer potenzieller Wachstumssektoren zu verstärken. Dies betrifft vor allem den Ökotourismus als eine ökologisch nachhaltige Einnahmequelle. Schon heute macht Öl bis zu 25 Prozent des BIP aus und bis zu 50 Prozent der öffentlichen Einnahmen.

Wenn von Verschuldung die Rede ist, wird häufig nur die Auslandsverschuldung ins Visier genommen. Eine wachsende Belastung ergibt sich jedoch in vielen Ländern durch die steigende Inlandsverschuldung. Sie stellt auch in dem dollarisierten Land ein großes Problem dar. So ist der Rückgang der Auslandsverschuldung u.a. auch darauf zurückzuführen, dass alter Schuldendienst und neue Defizite in der gegenwärtigen Strategie nicht über externe, sondern primär über interne Verschuldung refinanziert werden. Zwischen 1992 und 2003 ist die Inlandsverschuldung von 193 Mio. US-Dollar auf 3057 Mio. US-Dollar gestiegen – rund ein Viertel der öffentlichen Auslandsverschuldung. In dem dollarisierten Land geht es auch bei der Inlandsverschuldung um harte Währung und mit teilweise über neun Prozent Zinsen stellt die mit dieser Strategie derzeit stagnierende Auslandsverschuldung nicht unbedingt eine Entwarnung dar. 
Das Bild einer „robusten“ Verschuldungssituation, das der IWF und die Ex-Regierung zeichnen, ist also kaum aufrechtzuerhalten. Der Teufelskreis von Exportsteigerungen und Nachfrage hemmender Austeritätspolitik für den Schuldendienst muss durchbrochen werden. 

Würden die Schulden reduziert, müsste Ecuador nicht auf die Überausbeutung seiner natürlichen Ressourcen zurückgreifen. Zum Schutz dieser Ressourcen und seiner eigenen Bevölkerung, bei gleichzeitiger Stabilisierung der Zahlungsbilanz, kommt die internationale Gemeinschaft um einen Schuldenerlass nicht herum. Zu außergewöhnlichen Maßnahmen zum Schutz von Klima und Natur haben sich die Industrienationen 1992 in Rio und zehn Jahre später in Johannesburg verpflichtet. Ebenso haben sie sich beim UN Millenniumsgipfel im Jahr 2000 auf gemeinsame Anstrengungen zur Halbierung von Armut weltweit verständigt. Statt diesen Verpflichtungen nachzukommen, beteiligen sie sich nun mit ihren Rückzahlungsforderungen an dem Raubbau der Natur, an den damit einhergehenden Menschenrechtsverletzungen und an der Manifestierung von Armut und Ungleichheit.