Keine Revolution ohne Lieder

Santiago de Chile, 13. Dezember 2019, Plaza Dignidad: Auf dem Platz der Würde, wie die Plaza Italia / Baquedano inzwischen genannt wird, ist an diesem 57. Tag des Aufstands wieder einmal Großdemonstration. Nachdem der Platz anfangs jeden Tag voll von Demonstrierenden war, konzentrieren sich die Mobilisierungen inzwischen auf die Freitage. An diesem ist die Beteiligung besonders groß. Menschenrechtsorganisationen haben auf einem LKW eine Bühne aufgebaut und Bands eingeladen. Die beliebten Los Bunkers, die sich 2014 aufgelöst hatten, fanden sich für diesen Auftritt extra wieder zusammen, und mit den 1967 gegründeten Inti-Illimani spielt eine der bekanntesten Bands aus der damaligen musikalischen Protestbewegung der „Nueva Canción Chilena“, des neuen chilenischen Liedes. Als Inti-Illimani die Hymne vom vereinten Volk, das niemals besiegt wird (siehe Kasten) spielen und Hunderttausende mit erhobener Faust den Refrain skandieren, haben nicht nur alte Menschen Tränen in den Augen, sondern auch viel jüngere, die zur Entstehungszeit des Songs noch gar nicht geboren waren.

Bühnen gab es bei den Demonstrationen selten, aber Musik war immer präsent. Neben dem allgegenwärtigen neuen Demogesang „Chile despertó“ (Chile ist aufgewacht) wurden auch Lieder aus den 70er- und 80er-Jahren zu Hymnen des Aufstands: „El derecho de vivir en paz“ von Víctor Jara, gegen Ausnahmezustand und Militärs auf den Straßen, „El baile de los que sobran“ von Los Prisioneros zur sozialen Misere (siehe Kästen) oder „Adiós General“ von Sol y Lluvia, jetzt in der Version „Adiós Piñera“. Bei der größten Demonstration am 25. Oktober 2019 sang ein massenhafter Chor die Lieder, mit Begleitung unzähliger Musiker*innen, die dem Aufruf „Tausend Gitarren für Víctor Jara“ gefolgt waren (siehe Links).

Der Aufstand hatte am 18. Oktober 2019 begonnen, als Schüler*innen wegen einer Erhöhung der Metropreise um 30 Pesos demonstrierten und die Zahlung verweigerten, indem sie über die Drehkreuze sprangen. Der Aufstand breitete sich in Windeseile aus. Überall trafen sich Menschen mit Kochtöpfen (spanisch „cacerolas“) und anderen Lärminstrumenten auf der Straße, um bei den „Cacerolazos“ Krach zu schlagen. In Santiago brannten abends Busse und Metrostationen, es kam zu Plünderungen. Am nächsten Morgen erklärte Präsident Piñera für Santiago den Ausnahmezustand. Schon drei Tage später veröffentlichte Ana Tijoux zu ihrem neuen Song „Cacerolazo“ ein Video von einer Minute mit Bildern aus dem Aufstand. Über dem Sound der klappernden Kochtöpfe rappt sie die Parolen, die schon in den ersten Tagen aufkamen: Es geht nicht um 30 Pesos, es geht um 30 Jahre; Piñera, tritt zurück; für Gesundheit und Bildung, gegen das privatisierte Rentensystem; sie haben uns alles genommen, sogar die Angst; Cacerolazo gegen die Ausgangssperre.

Ana Tijoux war mit ihrer Band Makiza Ende der 90er-Jahre eine der ersten Frauen im chilenischen Rap (siehe Interview in ila 401). Einige ihrer Songs sind zu Hymnen der Bewegungen geworden: 2011 das Lied „Shock“ für die Studierendenbewegung in Chile oder 2014 „Antipatriarca“ für die internationale feministische Bewegung „Ni una Menos“. (Ein weniger schönes Video erschien 2022 unter dem Titel „Música Ford präsentiert“ mit Ana Tijoux als eine Art Ford-Model, in dem sie mit dem F-150 posiert, einem SUV mit 400 PS, und dessen Vorzüge erklärt. Man könne beim Fahren so gut Musik hören. Eine Ikone der internationalen musikalischen Revolte macht Werbung für die Autoindustrie und ihre schlimmsten Produkte?)

Einen weiteren wichtigen Song der Revolte brachte Mon Laferte mit dem puerto-ricanischen Rapper Guaynaa am 15. November 2019 heraus. Der Reggaeton „Plata ta tá“ über die Reichen, denen es nur ums Geld geht, baut ebenfalls auf dem Sound der „Cacerolazos“ auf. Das Video dazu enthält viele Anspielungen auf den Aufstand. Der Song endet mit einer kraftvollen Parole der Bewegung: „Con todo si no pa’qué“ (in etwa: Mit voller Kraft, was soll das sonst). Einen Tag vorher war Mon Laferte nach Las Vegas eingeladen, um den Latin Grammy für ihr Album „Norma“ als bestes alternatives Album entgegenzunehmen. Sie nutzte den roten Teppich, um den Aufstand in Chile auf die internationale Bühne zu bringen, und entblößte ihre Brust, auf der geschrieben stand: „In Chile wird gefoltert, vergewaltigt und getötet.“ Darüber trug sie das grüne Halstuch, Symbol in Lateinamerika für den Kampf um das Recht auf Abtreibung. Im Februar 2020 war Mon Laferte, die in Mexiko lebt, zum jährlichen internationalen Songfestival in Viña del Mar eingeladen, einem der wichtigsten Festivals des Kontinents. Sie hatte zunächst Bedenken, nach Chile einzureisen, da sie von den Carabineros wegen ihrer Meinungsäußerungen angezeigt worden war und befürchten musste, verhaftet zu werden. Schließlich fuhr sie doch in ihre Geburtsstadt und nutzte die Gelegenheit für eine großartige Rede. Sie berichtete von ihrem Aufwachsen in einer Población, einem Armenviertel auf dem Hügel, sowie davon, dass sie schon früh im Leben arbeiten musste und nichts anderes als Singen gelernt hätte. Ihre Großmutter hatte ihr erklärt, wenn sie aus der Armut ausbrechen wolle, müsse sie berühmt werden. Das hat sie geschafft, aber sie hat nicht vergessen, wo sie herkommt. Als das Publikum zu Beginn ihres Auftritts die Demoparole „Wer nicht hüpft, ist Bulle“ anstimmte, stand sie auf und hüpfte mit.

Weitere Lieder aus den ersten Monaten, die größere Bekanntheit erreichten, sind „Quememos el reino“ (Freundinnen, lasst uns das Königreich abfackeln) von Camila Moreno, „Paco Vampiro“ von Álex Anwandter oder „Regalé mis ojos“ des Liedermachers Nano Stern. Mehr als 400 Menschen erlitten Augenverletzungen, weil die Carabineros Gasgranaten und Munition gezielt in Gesichter schossen. Der Student Gustavo Gatica wurde im November 2019 auf beiden Augen getroffen und ist dauerhaft erblindet. Sein Statement „Ich habe meine Augen gegeben, damit andere aufwachen“ wurde zum Titel des Liedes, das ihm gewidmet ist. Nano Stern hat ihm die Rechte an dem Lied überschrieben, so dass er sämtliche Einnahmen daraus erhält.

Der bekannte Trap-Sänger Pablo Chill-E hatte seinen Song „Facts“, der perfekt zum Aufstand passt, schon 2018 veröffentlicht. Es geht um Armut, korrupte Politiker, denen niemand mehr glaubt, und um die Forderung nach Freiheit für die Mapuche. Im Aufstand wurde Chill-E auf Social Media und von seinen Fans mit Plakaten auf der Straße gefeiert, nachdem er gleich am ersten Tag mit einem großen Sack Zitronen auf dem Platz in seinem Stadtteil Puente Alto im Süden Santiagos aufgetaucht war, um sie als Mittel gegen Tränengas zu verteilen. Mit der Parole „Das Volk beklaut nicht das Volk“ rief er dazu auf, nicht die kleinen Geschäfte oder Lokale anzugreifen. Ein Jahr später, in der Pandemie, tat sich der Trap-Musiker mit der alten Garde von Quilapayún und Inti-Illimani zusammen für das Lied „Aburrido“ (Gelangweilt), das dann auch Leuten gefiel, die sonst verächtlich auf Trap herabblicken.

Der Aufstand hatte keine Führung, und auf den Straßen waren keine Parteifahnen zu sehen, aber die Fahne der Mapuche war überall präsent. Der lange ignorierte Widerstand gegen Kolonialismus, Landraub und Umweltzerstörung im Süden des Landes wurde nun zum Symbol. Musiker*innen mit Mapuche-Wurzeln mischen jedoch schon lange auch in der urbanen Musik mit. In seinem Stück „El otro Chile“ (Das andere Chile) hatte Portavoz etwa bereits 2012 die vielen Gründe für den Aufstand besungen. Seine Eltern waren Mapuche und hörten die Lieder der „Nueva Canción“. Später entdeckte er den Rap. Sein Kollege Luanko (siehe auch ila 399) ist ebenfalls in Santiago aufgewachsen und lernte das Land seiner Vorfahren erst auf Reisen kennen. Neben elektronischen Klängen benutzt er auch das Horn Trutruka und die Trommel Kultrun der Mapuche (siehe Artikel von Anahí Mariluan in dieser ila). Er singt auf Spanisch und Mapuzungún. Im Jahr 2017 brachten die beiden „Witrapaiñ“ heraus, ein Stück über Herkunft und Identität. Im Dezember 2019 spielten sie es mit einem Kinderchor aus Pucón in Araukanien neu ein. Portavoz setzte dem Aufstand mit „18 de octubre“ ein Denkmal. Der Song erschien genau ein Jahr nach dem Beginn des Estallido, mit Beats von DJ Transe und einem schönen Video.

Der neue Star unter den Mapuche-Musiker*innen ist MC Millaray. Ebenfalls im Oktober 2020 rappte sie zweisprachig mit Ana Tijoux in deren neuem Song „Rebelión de octubre“. Sie war da erst 14 Jahre alt, aber bereits eine musikalische Vorkämpferin für die Rechte der Mapuche. Das Rappen hat sie bereits mit fünf Jahren begonnen, in den Workshops, die ihr Vater für Kinder und Jugendliche in den Arbeitervierteln von Santiago gab.

Im Dezember 2019 gab David Ponce den Band „Se oía venir“ heraus (Man hörte es kommen. Wie die Musik die soziale Explosion in Chile ankündigte, siehe ila 435). Ein Jahr später erschien die Fortsetzung unter dem Titel „Contrasonido“. Darin schreibt Ponce: „Der 19. Oktober 2019 war ein Freitag. Schon am folgenden Montag gab es im Internet mindestens sechs Videos oder Audios mit ersten musikalischen Reaktionen auf den sogenannten Estallido, und dies war der Beginn eines Stromes, der bis zum Redaktionsschluss, mehr als ein Jahr nach den ersten Demonstrationen, anhält. Allein in der vorläufigen und weiterzuführenden Zusammenstellung der folgenden Seiten kommen wir auf mehr als 400 Lieder. Darunter finden sich viral gegangene, mehr oder weniger hausgemachte Videos oder professionelle auf YouTube, es gibt Kollaborationen von zwei oder mehr Interpret*innen, Kompositionen auf gemeinsamen Langspielplatten und Aufnahmen von der Straße.“ Die größte Anzahl von Songs kam im November 2019 heraus. Von Oktober bis Dezember tauchten mindestens 21 Songs mit dem Titel „Chile despertó“ auf. Das vorherrschende Genre war Rap, gefolgt von Trap und Pop. Auffällig sind die vielen Gemeinschaftswerke aus dieser Zeit und mehrere Sampler.

Auf der Straße gab es auch immer wieder Performances mit Musik. Am bekanntesten wurde „Ein Vergewaltiger auf deinem Weg“ von der Gruppe LasTesis aus Valparaiso (siehe ila 435). Diese feministische Anklage gegen Staat und Patriarchat ging um die Welt, teilweise waren Tausende gleichzeitig beteiligt. Auf der Plaza Dignidad tauchte immer wieder das Kollektiv Baila, Capucha, Baila auf: Tanz, Maskierte, tanz! Die Frauen trugen dabei knallrote Sturmhauben oder andere Masken, die auch zur Symbolik des Aufstands gehörten. Vier Frauen hatten mit dem Tanz der Maskierten angefangen, später trafen sich Hunderte.

Aus dem sechsten Stock eines Gebäudes an der Plaza sorgte Radio Plaza de la Dignidad mit großen Lautsprechern und Live-Konzerten am Fenster für die musikalische Untermalung der Demonstrationen (siehe ila 457). Hier wurde auch viel aus dem internationalen Repertoire der Musikrevolte gespielt. Besonders beliebt bei der „Primera Línea“, den Kämpfer*innen der ersten Reihe, die die Carabineros in Schach und vom Platz fernhielten, waren „El Vals del Obrero“ (Arbeiterwalzer) von Ska-P aus Madrid und „Se viene el estallido“ (Der Aufstand wird kommen) der argentinischen Band Bersuit Vergarabat.

Unten auf der Straße und auch in den Poblaciones, den ärmeren Stadtteilen, war die Band Arauko Rock unermüdlich mit ihrem mobilen Mini-Equipment unterwegs. Eine Snare Drum, eine Hi-Hat und ein kleiner Verstärker für Mikro und E-Gitarre reichten für einen dreckig-lauten Sound. Bekannt wurde vor allem ihr wütender Song „Los pacos son bastardos“ (Die Bullen sind Bastarde), eine Coverversion von „Killing in the name“ der Band Rage against the Machine, mit eigenem Text: „Da sind sie, das sind die, die ohne Grund töten. Bezahlte Mörder!“ Auch andere Bands gaben Konzerte an Straßenecken. Trommelgruppen, Blasorchester und Murgagruppen zogen durch die Demonstrationen oder spielten rund um das immer mit Fahnen und Transparenten verfremdete Generaldenkmal auf der Plaza.

Diese schöne Straßenkultur fand mit der Pandemie ihr Ende, der Entwurf einer neuen Verfassung wurde im September letzten Jahres im Referendum abgelehnt, und Anfang Mai wurde ein neuer Verfassungsrat gewählt, in dem die Rechten und die Ultrarechten die Mehrheit haben. Seitdem herrscht statt der Euphorie des Aufstands eher Depression. Viele stellen sich die Frage, wie das passieren konnte und was falsch gemacht wurde. Aber die sozialen Fragen sind nicht gelöst und die Gründe, die zum Aufstand geführt haben, nach wie vor vorhanden. Wir sollten auf den musikalischen Untergrund achten. Vielleicht können wir da wieder etwas kommen hören.