Wilson Atamain war gerade mitten in einer Ayahuasca-Zeremonie, als er im März 2020 durch die Medien erfuhr, dass nun auch in Peru die Corona-Pandemie ausgebrochen war. Die psychedelische Wurzel, die in vielen Kulturen der Anden fester Bestandteil von rituellen Zeremonien ist, bescherte den Anwesenden prompt Visionen vom Verlauf der Krankheit. Die Aans-Indigenen, auch als Awajún oder Aguaruna bekannt, sahen, dass die Lage ernst war, dass viele Menschen sehr krank werden würden. Und es war klar, dass weder die Gemeinden noch die Politik auf diesen Ernstfall vorbereitet waren. Eine der ersten Maßnahmen war die Abriegelung der Städte und Gemeinden. Auch in Wilson Atamains Heimatgemeinde San Rafael im nördlichen Amazonasgebiet Perus gab es praktisch kein Rein und Raus mehr. Man hätte sich online eine Erlaubnis ausstellen lassen können, um in die Stadt zu fahren, etwa um Medikamente zu kaufen, erzählt der 41-jährige Anthropologe im Gespräch mit seiner Schwester Liseth Atamain, doch dafür hätte man Internet haben müssen, und daran hapert es oft in den abgelegenen Gemeinden. Hohe Bußgelder wollten die Wenigsten riskieren und blieben zuhause.
Dass Peru relativ zur Bevölkerung weltweit die meisten Corona-Toten verzeichnen würde, war zu diesem Zeitpunkt noch nicht abzusehen. 6500 Todesfälle pro eine Million Einwohner*innen waren es nach einer vergleichenden Statistik von Reuters im Juli 2022, ein Vielfaches des weltweiten Durchschnitts. Spekulationen und Analysen, warum die Pandemie in Peru so einen katastrophalen Verlauf nahm, gibt es zahlreiche. Bereits ein halbes Jahr nach Beginn der Pandemie wiesen Álvaro Schwab und Carlos Seas vom Alexander-von-Humboldt-Institut für Tropenmedizin in Lima darauf hin, dass Peru im regionalen Vergleich mit am wenigsten für Gesundheit ausgibt. Nur 5,5 Prozent des Bruttoinlandproduktes investierte das Land demnach im Jahr 2017 ins Gesundheitssystem. Es gibt eine geringe Anzahl an Intensivbetten, die sich noch dazu mit über 80 Prozent stark in der Hauptstadt Lima konzentrieren, zu wenig Gesundheitspersonal und ein in verschiedene private und staatliche Subsysteme zersplittertes Versicherungswesen. Da laut den Forschern statt PCR-Tests vor allem Antigentests eingesetzt wurden, die eine Erkrankung erst zu einem späteren Zeitpunkt erkennen, konnte das Infektionsgeschehen kaum unterbrochen werden. Eine koordinierte landesweite politische Strategie habe es nicht gegeben, stattdessen Fälle von Korruption rund um die Beschaffung von Hygieneartikeln und Medikamenten.
Der Staat sei abwesend gewesen, sagt Wilson Atamain: „Im ersten Jahr gab es nur harte Maßnahmen, aber keinerlei Unterstützung oder Behandlung. Statt Masken und Gesundheitsversorgung gab es nur Lockdown und Abriegelung.“ Wie aber solle man zu Hause bleiben, wenn die finanzielle Situation es nicht zulasse? So lief das Leben in San Rafael weitgehend normal weiter, erzählt der Anthropologe. Die Bewohner*innen gingen ihrer gewohnten Feldarbeit nach. Sie bauen vor allem Bananen, Kartoffeln, Süßkartoffeln, Maniok und Erdnüsse an. Den Kaffee, den sie für den Export produzieren, konnten sie im ersten Jahr der Pandemie allerdings praktisch nicht verkaufen, sie konnten ja keine Erlaubnis beantragen, um die Gemeinde zu verlassen. Das Netz ist nicht besonders gut ausgebaut im peruanischen Amazonasgebiet, und aufgrund fehlender finanzieller Ressourcen haben Großfamilien oft nur ein einziges Smartphone für alle. „Wie soll das mit der Online-Lehre dann funktionieren?“, fragt sich die Community-Journalistin Liseth Atamain. Deswegen spricht ihr Bruder Wilson von den „zwei verlorenen Jahren“, verloren für Bildung und wirtschaftliche Entwicklung der Gemeinde.
Im Mai 2020 habe es die ersten Corona-Fälle in San Rafael gegeben, und aufgrund mangelnder Schutzmaßnahmen steckte sich bald die ganze Gemeinde an. „Die Kinder und Jugendlichen hatten oft symptomfreie oder milde Verläufe und haben sich um die Älteren und schwerer Erkrankten gekümmert“, berichtet er. Infolge der staatlichen Vernachlässigung sei man angewiesen gewesen auf die gegenseitige Unterstützung. Als Wilson sich selbst ansteckte, war er zunächst zuversichtlich, dass sein ansonsten fitter und gesunder Körper die Infektion gut überstehen würde. Als es ihm nach vier Tagen immer schlechter ging und er Atemprobleme bekam, begann er, einen Pflanzensud zu sich zu nehmen. Viele Gemeindebewohner*innen vertrauten eher auf traditionelle Heilpflanzen als auf Medikamente aus der Apotheke, obwohl die durchaus auch genommen werden, erzählt er. Mit dem Pflanzensud ging es ihm schnell besser. Bis er aber wieder riechen und schmecken konnte, sollte es noch ein Jahr dauern.
Die Tropenmediziner Álvaro Schwab und Carlos Seas kritisieren, dass die verbreiteten Informationen über wirksame Medikamente sehr diffus gewesen seien. So glaubten viele Menschen in Peru, wie auch in anderen Ländern Lateinamerikas, sie könnten Covid mit Hydroxichloroquin oder dem Parasitenmittel Ivermectin vorbeugen oder heilen.
In indigenen Gemeinden brauche es kultursensible ärztliche Betreuung. Die finde man aber nirgends in Peru, kommentiert Wilson Atamain. Und statt des Gesundheitsministeriums stand plötzlich die Polizei in den Gemeinden. Dagegen habe man sich gewehrt, aber in vielen Fällen hätten sich die Sicherheitskräfte dennoch Zutritt zu den Gemeinden geschafft. Fatal, wie Wilson meint, denn das habe das ohnehin geringe Vertrauen der indigenen Gemeinden in die staatlichen Institutionen weiter erschüttert. Als im zweiten Jahr der Pandemie dann sinnvollere staatliche Maßnahmen umgesetzt wurden, hätten die Leute diese oft abgelehnt: „Die indigenen Völker und Gemeinden wurden als vulnerable Gruppen eingestuft und somit gehörten wir zu den ersten, denen Impfungen angeboten wurden. Die Leute waren aber skeptisch. Wir hatten uns ja alle schon infiziert, und aufgrund der historischen kolonialen Beziehungen, die der Staat zu uns Indigenen etabliert hat, fühlten wir uns wie Versuchskaninchen. Nach dem Motto: Lass uns erst mal gucken, ob die Indigenen daran krepieren, bevor wir die restliche Bevölkerung impfen“, erklärt Wilson das historisch begründete Misstrauen vieler Indigener. Nach dem anfänglichen politischen Versagen führte Peru 2021 eine der schnellsten und erfolgreichsten Impfkampagnen der Welt durch. 84 Prozent der peruanischen Bevölkerung gelten heute, nach zweieinhalb Jahren Pandemie, offiziell als vollständig geimpft. Dabei ist jedoch nicht zu bestreiten, dass die Departements der Amazonasregion die niedrigsten Impfquoten haben. Wilson Atamain glaubt, dass der peruanische Staat es gut gemeint hat mit dem prioritären Impfangebot an Indigene, doch das kollektive Misstrauen war stärker. Weltweit verbreitete Verschwörungserzählungen – 5G, implantierte Chips zur kompletten Überwachung – trafen hier auf eine 500 Jahre alte geteilte Erfahrung der Auslöschung, Ausbeutung, Vernachlässigung und Diskriminierung der indigenen Bevölkerung. Der Anthropologe folgert: Dass sich in seiner Heimatgemeinde fast niemand impfen ließ, zeigt letztlich vor allem, wie tief die Vertrauenskrise zwischen peruanischem Staat und indigener Bevölkerung ist.