Bei unserer ersten Begegnung in Montevideo, Mitte der neunziger Jahre, dachte ich an eine Sinnestäuschung: Fritz Kalmar hatte sein Kommen telefonisch angekündigt, und als ich vor dem Hotel Klee auf ihn wartete, sah ich plötzlich einen alten eckigen Mercedes, aber ohne Fahrer, auf mich zukommen. Den winzigzarten Mann hinter dem Lenkrad erkannte ich erst, als das Auto knirschend und stotternd neben mir hielt. Im Café Landtmann, das sich während seiner Besuche in Wien in Kalmars Büro verwandelte, musste ihm der Kellner mehrere Sitzpolster unterschieben, damit er nicht ganz unter der Tischplatte verschwand. Über seine geschrumpften Körpermaße seufzte er gelegentlich mit jener feinen Ironie, die ihm eigen war wie die leise Stimme und die Sorgfalt, mit der er seine Worte wählte.
Bezeichnend auch, dass er wenig Aufhebens machte um sein Schicksal, seine Erfahrungen, seine Kunst. Er konnte anschaulich erzählen, und er konnte auch zuhören, helfend zupacken, andere in Dingen, die ihn bedrängten, um Rat fragen. Er sorgte sich um die vielen Freunde, Freundinnen auf beiden Seiten des Ozeans, die jetzt um ihn trauern, denn am 8. Juni ist Fritz Kalmar, einer der bedeutendsten Schriftsteller des österreichischen Exils, in Montevideo verstorben. Die Tatsache, dass er ein hohes Alter erreicht hat und nur die allerletzten Tage ganz auf Pflege angewiesen war, tröstet mich ein wenig, mindert aber nicht den Schrecken, dass jemand weggerissen wurde, den man gern behalten hätte für den Rest des Lebens.
Fritz Kalmar, 1911 in Wien geboren und in einer assimilierten jüdischen Familie aufgewachsen, arbeitete bis zur Okkupation Österreichs als Konzipient in einer Anwaltskanzlei. Dank eines norwegischen Reeders gelang ihm 1939 die Flucht aus Nazideutschland, die ihn auf Umwegen nach Bolivien führte, wo auch seine beiden Brüder und seine Mutter Zuflucht fanden. In La Paz war er als Bühnenkünstler und als Mitbegründer der „Föderation Freier Österreicher“ bemüht, das Heimweh der Vertriebenen wachzuhalten oder wiederzuerwecken.
1953 übersiedelte er mit seiner Frau, der Schauspielerin Erna Terrel, nach Uruguay, wo er als österreichischer Honorarkonsul tätig war und dabei, während der Militärdiktatur, politischen Gefangenen und ihren Angehörigen zur Seite stand. Anders als manche Helden seiner wehmütigen Erzählungen im Band „Das Herz europaschwer“ (1997) hat er es nie geschafft, im Exilland heimisch zu werden – sein Lebensmittelpunkt blieb Wien, die Stadt, nach der er sich verzehrte, an deren Geschehen er innig Anteil nahm und in die er doch nur als regelmäßiger Besucher zurückkehrte. „Extra Austriam non est vita“, das war sein Leitspruch, auch oder gerade weil er um die Verbrechen und die geheuchelte Reue so vieler Landsleute wusste und sie, wie im Roman „Das Wunder von Büttelsburg“ (1999) und in den „Wiener Familienfragmenten“ (2005), scharf und unsentimental beschrieben hat.
Fritz Kalmar wurde, seinem letzten Wunsch entsprechend, an der Seite seiner Frau auf dem Britischen Friedhof von Montevideo beigesetzt. Ihr Grab, ein Stück Österreich, das des anderen, des verjagten, lang totgeschwiegenen, das im Exil gewachsen ist.
In der ila 240 (November 2000) ist ein Lebenswege-Interview mit Fritz Kalmar erschienen.