Klare Analysen, gute Argumentationshilfe

Das erste Buch vereint gut lesbare und gründlich recherchierte Essays des Schweizer Journalisten Christoph Kuhn. Er behandelt Themen wie Geschichte und Renaissance des Tango, das Phänomen Perón, die Bedeutung des Rindfleisches für Export und Binnenmarkt. Weitere Themen sind das ökonomische Fehlverhalten aller Regierungen, welches 2001 zum Kollaps führte, das Schicksal der unzähligen Opfer der letzten Militärdiktatur und des haarsträubenden Malvinenabenteuers oder die spezifisch argentinische Variante einer Gedenkpolitik, die bis vor wenigen Jahren am besten mit Vergessen und Verdrängen umschrieben werden konnte. Der Autor kennt Land und Leute, hat ein persönliches Verhältnis zu seinem Sujet, schreibt passioniert und engagiert. Überzeugend ist seine Abrechnung mit Carlos Menem, dem „Plünderer an der Spitze des Staates“, der das Land „in eine ökonomische und gesellschaftliche Katastrophe geführt“ hat und dennoch weiter um die Macht rangeln kann, obwohl er „wegen verschiedener Bestechungsskandale eigentlich im Gefängnis sitzen müsste“.

Kuhn vertieft seine scharfen Analysen, indem er auf die argentinische Literatur rekurriert, für die er ein Faible hat. Die wichtigsten Autoren des 20. Jahrhunderts kommen zu Wort, von Borges und Cortázar über Rodolfo Walsh, Ricardo Piglia und Eloy Martínez bis zu Juan José Saer und Antonio Dal Masetto, um nur einige zu nennen. Das Buch ist in Ansätzen also auch Anthologie und Literaturgeschichte, wobei leider die Autorinnen fehlen. Seltsam muten außerdem einige Bizarrerien an, auf die Kuhn nicht verzichten will, etwa wenn er über die langjährige europäische Odyssee der einbalsamierten Leiche Evita Peróns oder über den „Jeanne d’Arc-Effekt“ eines vermasselten Asado (Grillfest) schreibt. Die informativen Streifzüge sind aber ein hervorragender Begleiter für eine Reise an den Río de la Plata, eine sinnvolle Ergänzung zum klassischen Reiseführer, die durch die Vielfalt an Themen, Informationen und Impressionen besticht.

Nicht weniger vielfältig ist die Themen- und Personenpalette des Buches „Ich bin… Lebensgeschichten aus Bolivien“, das Elisabeth Hüttermann herausgegeben hat. Die Schweizerin ist seit über 20 Jahren in Bolivien in den Bereichen Bildung und Kommunikation tätig. Insgesamt lässt sie 23 Frauen und Männer aus den unterschiedlichsten Provinzen und Ethnien Boliviens zu Wort kommen, allesamt Menschen, die normalerweise in Presse, Rundfunk, TV oder eben auch Büchern keine Stimme haben. 

Bei den zum Teil sehr persönlichen Berichten handelt es sich um Testimonialliteratur in bester lateinamerikanischer Tradition. Die Menschen plaudern, wie ihnen der Mund gewachsen ist, berichten aus ihrem Leben als Campesinos im Hochland, im Chaco, Chapare oder im Beni. Von ihren Hoffnungen und Enttäuschungen, Erfolgen und Rückschlägen erzählen eine Straßenverkäuferin aus La Paz, die Kunsthandwerkerin aus dem Amazonasgebiet an der Grenze zu Brasilien, der Student aus Trinidad, der Handwerker aus El Alto oder der ehemalige Minenarbeiter aus Potosí. Ihnen allen gemein ist, dass sie zur großen Mehrheit der bislang Rechtlosen, zu den VerliererInnen des neoliberalen Wirtschaftssystems gehören und große Hoffnungen in den Reformprozess der Regierung von Evo Morales setzen. Dabei spielt es übrigens keine Rolle, ob sie aus den Anden oder dem Tiefland kommen – eine interessante Tatsache angesichts der immer wiederkehrenden Meldungen, das bolivianische Tiefland, die „reiche“ Provinz Santa Cruz dränge auf Abspaltung vom Hochland, von Sucre und La Paz.

Das Buch ist hochaktuell angesichts der Reformbemühungen der seit zwei Jahren amtierenden Regierung von Evo Morales. Dazu zählt auch das Projekt einer neuen Verfassung, die Ende vergangenen Jahres von der Verfassunggebenden Versammlung verabschiedet wurde und für eine starke Polarisierung im Land sorgte. In diesem Zwist sind die VerfassungsfreundInnen scheinbar die AnhängerInnen des mit absoluter Mehrheit gewählten Präsidenten, die sozialen Bewegungen und Gewerkschaften, die große Mehrheit der Bevölkerung. Verfassungsfeinde sind der alte Kongress, die alten Machthaber und die besitzende Oberschicht sowie Teile der konservativen Presse im In- und Ausland. 

Die neue Verfassung soll endlich dafür Sorge tragen, dass die indigene Bevölkerungsmehrheit garantierte Rechte erhält, die ihr bislang vorenthalten wurden. Und in den Genuss ihrer Errungenschaften sollen solche Menschen kommen wie eben diejenigen, die im Buch ihre Lebensgeschichte erzählen. „Ich bin…“ wäre ein hervorragender Reisebegleiter in die bolivianischen Provinzen und für die Daheimbleibenden armchair traveller ist das Buch eine informative Argumentationsquelle. Es zeigt nicht nur die kulturelle, wirtschaftliche und ethnische Vielfalt des Andenstaates, es wirbt auch für Verständnis, schreit geradezu nach Unterstützung für den längst überfälligen und endlich begonnenen bolivianischen Reformprozess.

Christoph Kuhn, Wo der Süden im Norden liegt. Streifzüge durch das moderne Argentinien, Rotpunktverlag 2007, 273 S., 24 Euro • Elisabeth Hüttermann (Hg.), Ich bin… Lebensgeschichten aus Bolivien, Rotpunktverlag 2007, 256 S., 24 Euro