Klassiker der Entwicklungstheorie

Warum ist es der Mehrzahl der Länder bisher nicht gelungen, das Wohlstandsniveau einiger Industriestaaten auch nur annähernd zu erreichen, und warum sind diese Entwicklungsländer besonders stark von der aktuellen Finanzkrise betroffen?

Die Antworten auf solche Kernfragen der Entwicklungstheorie sind erfahrungsgemäß so unterschiedlich wie die Richtungen, aus denen sie behandelt werden. Vor allem aber sind sie in den seltensten Fällen objektiv oder wertfrei. So kommt es nicht von ungefähr, dass die großen Freihandelstheorien eines Adam Smith (1723-1790) oder David Ricardo (1772-1823) im damals hegemonialen England entstanden sind, während protektionistische Ideen vom Ökonomen Friedrich List (1789-1846) im rückständigen Deutschland entwickelt wurden. Zwar sollten derartige Beispiele nicht zu einer Reduzierung aller Theorie allein auf ihren raum-zeitlichen Kontext verleiten; nichts desto trotz gilt es im Hinterkopf zu behalten, dass das Nachdenken über Entwicklung immer durch „zeitliche, räumliche und kultureller Bedingtheit“ geprägt, vielfach von „Werthaltungen beeinflusst und mit spezifischen Interessen verbunden“ ist (S.12f). 

Im vorliegenden Sammelband „Klassiker der Entwicklungstheorie: Von Modernisierung bis Post-Development“ geben die Wiener WissenschaftlerInnen Karin Fischer, Gerald Hödl und Wiebke Sievers einen Überblick über die verschiedenen Strömungen und Kontexte der entwicklungspolitischen Debatte der letzten 70 Jahre. Von konventionellen Überblicksdarstellungen unterscheidet sich der Band vor allem dadurch, dass es sich bei den versammelten Beiträgen nicht um Interpretationen oder Zusammenfassungen Dritter, sondern um klassische Texte – also Originale – handelt. Das Buch enthält insgesamt 15 solcher entwicklungspolitischen Klassiker, die sechs thematischen Untergruppen zugeordnet sind.

Wie der Titel schon verrät, werden die aufgeführten Beiträge zwischen den beiden Extrempolen entwicklungspolitischen Denkens, der Modernisierungstheorie der 40er und 50er Jahre auf der einen und aktuellen Post-Development-Ansätzen auf der anderen Seite angeordnet: Die Modernisierungstheorie (hier vertreten durch Paul N. Rosenstein-Rodan und Walt Whitman Rostow) entwickelte ihren Entwicklungsbegriff stark vor dem Hintergrund des Kalten Krieges. Entwicklung wurde als linearer Wachstumsprozess verstanden, der, basierend auf westlichen Technologien und einem am Westen orientierten Demokratiemodell, als Alternative zur sowjetischen Planwirtschaft präsentiert wurde. Die Post-Development-Schule dagegen (hier vertreten durch Ivan Illich und v.a. Arturo Escobar) stellt die Sinnhaftigkeit des Entwicklungsbegriffs per se in Frage. Sie geht davon aus, dass heute dominierende Entwicklungskonzepte einen Diskurs begründen, der die Objekte und Realitäten, die er beschreibt und auf die er – etwa durch Entwicklungshilfe – einwirkt, selbst erst schafft. 

Ansätze zwischen diesen beiden Extrempolen werden in drei Untergruppen gegliedert. So versammelt der zweite Abschnitt des Buches, „Erste Dissonanzen“, DenkerInnen, die sich schwerlich in die Schubladen der „großen Theorien“ der Modernisierung oder Dependenz einordnen lassen. Neben dem vielleicht noch relativ treffend als Keynesianer zu beschreibenden schwedischen Nobelpreisträger Gunnar Myrdal ist es vor allem Albert O. Hirschman, der sich gängigen Klassifizierungen entzieht. Noch heute werden Hirschmans Konzepte des „unbalanced growth“ (ungleichgewichtigem Wachstum) oder seine Handlungstheorie von VertreterInnen sowohl linker als auch neoliberaler Ansätze herangezogen. 
Der dritte Abschnitt präsentiert paradigmatische Arbeiten von Raúl Prebisch für den lateinamerikanischen Strukturalismus der CEPAL, André Gunder Frank als einem der schillerndsten Vertreter der Dependenztheorie, und schließlich einen Aufsatz von Immanuel Wallerstein als Versuch, die Dependenztheorie in die globale Perspektive des Weltsystems zu integrieren.

Den vielleicht interessantesten Teil des Buches bilden zwei Beiträge der Ökonomen Peter T. Bauer und Deepak Lal aus der vierten Rubrik „Neoliberalismus“. Während der Beitrag von Lal als Schlüsseltext des Washington Consensus gelten kann, ist es vor allem die Polemik beider Beiträge, die einen sehr guten Eindruck über die Heftigkeit vermittelt, mit welcher die damaligen entwicklungspolitischen Debatten geführt wurden. So sieht Bauer in den staatsinterventionistischen Vorstellungen eines Gunnar Myrdals, das „Risiko“ einer Entwicklung „in Richtung Sozialismus, wenn nicht gar Kommunismus“ (S.196). Gleichzeitig schreckt er nicht davor zurück, seine Thesen mit Zitaten aus dem Kommunistischen Manifest zu untermauern (S.210). 

Alles in allem kann das von den HerausgeberInnen selbst anvisierte Ziel, eine „Sammlung von Texten [zu präsentieren], die als grundlegend für eine bestimmte Wissenschafts(teil)disziplin gelten“ (S.10), als durchweg gelungen betrachtet werden. Die fülligen Literaturhinweise und kurzen Skizzen zum biografischen Hintergrund, Ansatz und Tätigkeitsfeld der AutorInnen, mit denen jeder Aufsatz eingeleitet wird, erleichtern die historische Einordnung und das Verständnis der Texte enorm, ohne jedoch die Lesenden in ihrer eigenen Wertung zu beeinflussen. 

Karin Fischer, Gerald Hödl, Wiebke Sievers (Hg.): Klassiker der Entwicklungstheorie: Von Modernisierung bis Post-Development. Wien: Mandelbaum Verlag, 224 Seiten, 14,- Euro