Die politischen Konflikte in Venezuela haben in den letzten Wochen eine neue Qualität erreicht. Nachdem Teile der Opposition zu einer Großdemonstration am 12. Februar in Caracas aufriefen, um für die Freilassung politischer Gefangener zu demonstrieren, kam es nahe der Generalstaatsanwaltschaft zu tödlichen Auseinandersetzungen zwischen Staatskräften, oppositionellen und regierungsnahen Gruppen. Im Vorfeld wurden vier Studierende bei einer Demonstration in San Cristóbal (Táchira) verhaftet. Ihnen wurde vorgeworfen, die Wohnung des Gouverneurs angegriffen zu haben. Die beiden Opfer der gewaltsamen Konfrontationen in Caracas, ein linker Aktivist des Stadtteils 23 de Enero und ein oppositioneller Student der Universidad Humboldt, wurden nach Aussage des Präsidenten Maduro mit derselben Waffe getötet. Später stellte sich heraus, dass in beiden Fällen nachweislich Beamte des staatlichen Geheimdienstes Sebin verstrickt waren, die nach Angaben der Regierung gegen den Willen ihrer Vorgesetzten und im Verbund mit Zivilpersonen gehandelt haben. Die mutmaßlich Beteiligten wurden umgehend festgenommen und der Vorsitzende des Geheimdienstes entlassen.
Während die Regierung Leopoldo López und María Corina Machado für die gewalttätigen Konfrontationen verantwortlich macht, sehen sich die beiden Oppositionspolitiker des rechten Flügels als Opfer staatlicher Repression. Wenige Tage später wurde López in Gewahrsam genommen, nachdem er in seiner Kampagne la salida (dt. „der Ausgang“) zum Sturz des Präsidenten aufgerufen habe.
In der Folge kam es wiederum im gesamten Land zu Protesten für die Freilassung der politischen Gefangenen. Allerdings handelte es sich vermehrt um vereinzelte Aktionen, die mittels Barrikaden, Feuerwerkskörpern, Molotows und sogenannten Miguelitos (an Schläuchen befestigten Nägeln), gezielt den Verkehr in den Städten blockierten. Die oppositionellen Gruppen setzten auf eine geschickte Inszenierung des Spektakels, um die tatsächlichen Ausmaße der Proteste wie durch ein Brennglas zu vergrößern. In so genannten sozialen Netzwerken kursierten Bilder von brennenden Barrikaden und Polizeieinsätzen, darunter sind nicht selten Aufnahmen von Polizeiübergriffen in den USA oder der Proteste in Ägypten und Chile. Die internationalen Medien haben diese spektakulären Bilder dankbar aufgenommen und weltweit reproduziert.
Nichtsdestotrotz ist die Bilanz der Proteste in den vergangenen Wochen erschreckend: Bis Mitte März haben bereits über 30 Menschen im Umfeld der Proteste ihr Leben verloren. Während die internationalen Medien mehrheitlich an der falschen Vorstellung festhalten, es handele sich hierbei ausschließlich um Opfer staatlicher Repression und jeden Mord im Umfeld der Proteste umstandslos der Regierung anrechneten, handelt es sich bei mindestens zwei Dritteln der Ermordeten um Opfer rechter Angriffe oder um Unbeteiligte, bei denen die Mordumstände und -absichten noch ungeklärt sind. Auf diese Weise wird die Rede von Menschenrechten zunehmend instrumentalisiert und ausgehöhlt, mit der Absicht, internationale Unterstützung für einen möglichen Regierungsumsturz zu gewinnen.
Die aktuelle Situation zeichnet sich durch einen unbeschreiblichen Zynismus aus: Jeder neue Mord, ganz gleich ob es sich dabei um Regierungsgegner, -anhänger oder Unbeteiligte handelt, gibt der Opposition Aufwind, indem er Ängste schürt und die ohnehin vorherrschende Unzufriedenheit mit mangelnder Sicherheit und eklatanten Kriminalitätsraten verstärkt. Angesichts der Tatsache, dass sich die studentischen Proteste Anfang Februar gegen die verbreitete Delinquenz und Straflosigkeit richteten, ist diese Situation paradox.
Zahlreiche Menschen haben aufgrund der Barrikaden, über Straßen aufgespannten Metalldrähten und Öllachen ihr Leben verloren. Bisher wurden fünf Menschen getötet, weil sie versuchten, die Straßen von Gerümpel und Stacheldrähten freizuräumen – meist mit präzisen Schüssen in die Stirn oder den Nacken. Auf diese Weise ist eine Aktivistin der Sozialistischen Partei (PSUV) und Mitglied eines Nachbarschaftsrates (Consejo Comunal) in Mérida kürzlich ermordet worden. Einen Tag nachdem die Aktivistin ein Video im Internet verbreitete, das auf die verheerende Situation in ihrer Nachbarschaft hinweist, die aufgrund der Barrikaden von der Außenwelt so gut wie abgeschottet ist, wurde sie nach Mitternacht von einem Scharfschützen erschossen. Jüngst starb eine 28-jährige schwangere Frau in Los Teques an einem Kopfschuss, als sie einen Bus verließ, der vor einer Barrikade haltmachen musste.
Vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass in Mérida die Trinkwasserzufuhr gezielt mit Kerosin verseucht wurde. Diese Methoden gezielter Einschüchterung legen den Verdacht nahe, dass sich inzwischen Paramilitärs in den Konflikt eingeschaltet haben. Neben den katastrophalen psychischen Folgen, die ein solches allgemeines Bedrohungsszenario hinterlässt, sind insbesondere linke und regierungsnahe AktivistInnen von dem repressiven Klima betroffen.
Nicht selten sind in den Straßen Strohpuppen mit roten T-Shirts zu sehen, die an Laternen und Brücken aufgehängt oder an Pfählen angebunden werden. Ziel solcher Aggressionen sind die sogenannten Colectivos, unter denen gerade die oppositionellen Gruppen allerlei regierungsnahe Basisorganisationen subsumieren und zur Projektionsfläche ihres antikommunistischen Klassenhasses machen. Diese Aktionen zeigen den wahren Charakter der Proteste auf: Sie zielen auf die organisierten Strukturen des Chavismus. Ausdruck von offenem Klassismus sind außerdem die unzähligen Angriffe gegen Einrichtungen der sozialen Infrastruktur sowie gegen den Nahverkehr, von denen in erster Linie die ärmere Bevölkerung betroffen ist (vgl. ila 362). Busentführungen und die Zerstörung von kostenlosen medizinischen Einrichtungen sowie staatlich subventionierten Lebensmittelläden zeigen den politischen Willen der oppositionellen Gruppen an und nehmen bereits vorweg, was eine neoliberale Regierung auf anderem Wege umzusetzen bereit wäre.
Ein differenzierter Blick auf die aktuellen Auseinandersetzungen muss die jeweiligen Interessenlagen der am Konflikt beteiligten Gruppen und Fraktionen berücksichtigen. Nicht jeder Studierende, der gegen die Regierung auf die Straße geht, befürwortet die paramilitärischen Aktivitäten, ebensowenig wie eine linke Aktivistin Angriffe chavistischer Gruppen gegen Oppositionelle gutheißen muss. Die Rechte ist seit längerem gespalten und hat angesichts des aktuellen Konflikts keine einheitliche Position entwickelt. Innerhalb des Oppositionsbündnisses MUD (Mesa de la Unidad Democrática) konnten sich Leopoldo López und María Corina Machado, die heute international von den Mainstreammedien als neue Oppositionsführer gefeiert werden, auf dem rechten Flügel gegenüber dem vormaligen Präsidentschaftskandidaten Henrique Capriles Radonski profilieren.
Während jene mittels Straßenprotesten die Regierung zu stürzen versuchen, hält sich Capriles, der noch bei den letzten Wahlen zu massivem Protest aufrief und die Wahlergebnisse nicht anerkennen wollte (vgl. ila 365), den verfassungskonformen Weg offen. Bezüglich ihrer politischen Vorstellungen dürften sich die jeweiligen Oppositionspolitiker kaum unterscheiden. Allesamt stehen für die Privatisierung verstaatlichter Unternehmen und Optimierung kapitalistischer Akkumulationsbedingungen. Machado wirbt gar für einen „Volkskapitalismus“ im Stile Thatchers und Le Pens und verspricht sich davon einen neuen Klassenkompromiss, eine „Allianz zwischen Unternehmer und Arbeiter, deren Interessen sich absolut ähneln“, um auf diese Weise den „Mythos der Konfrontation“ zu überwinden.
Die Regierung hingegen hat die Machtkämpfe innerhalb der Opposition für sich zu nutzen versucht, um die „extremistischen“ oder „faschistischen“ Teile der Opposition, von dem „friedlichen“ Protest zu isolieren. Sie lud Teile der Opposition ausdrücklich zu einer „Konferenz des Friedens“ ein, um in einen Dialog einzutreten. Eingeladen war außerdem Lorenzo Mendoza, Firmenchef des größten venezolanischen Privatunternehmens Polar. Mendoza schlug vor, eine „Wahrheitskommission für die Wirtschaft“ einzurichten, um eine „gemeinsame Lösung“ für die ökonomischen Probleme des Landes zu finden. Während die Straßenproteste anhalten, zeigt sich die Regierung kompromissbereit. Die Strategie der Regierung, die Opposition zu spalten, hat ihren Preis: Die „gemäßigte“ Opposition gewinnt an faktischem Einfluss, indem sie ihre Teilnahme an politischen Entscheidungen als Bedingung einer möglichen Lösung des politischen Konflikts verkauft.
Vor dem Hintergrund der drängenden ökonomischen Probleme scheint die Regierung eher auf einen sozialdemokratischen Kurs zu setzen, als dass sie den Dialog mit ihrer eigenen Basis sucht. Zwischen den Fronten droht so die Kritik linker Basisorganisationen zu verstummen, die angesichts des anhaltenden Konflikts an der Vertiefung der emanzipatorischen Momente festhält, die sich in den letzten 15 Jahren gezeigt haben und heute mehr denn je auf dem Spiel stehen.