Kolumbianische Elegien

Buchbesprechung

Um es gleich vorweg zu sagen: Don Ottos Klassikkabinett ist ein liebevoll editiertes Büchlein. Und es ist jedem zu empfehlen, der literarische Kurzweil sucht, fernab von rasanter Spannungsunterhaltung. 

Die insgesamt 31 Geschichten, die jeweils einen Umfang zwischen einer und 16 Seiten zählen, fordern zum Nachdenken auf, sind humorvoll, verschmitzt und auch melancholisch, sind voller Wissen und Weisheiten und hallen noch lange nach. Sie können als städtische Variante zu den ländlichen Elegien Platero und ich (Juan Ramón Jiménez, 1914) aus dem spanischen Andalusien gelesen werden, auch wenn sie nicht so schwermütig auftreten. Der Erzähler ist nämlich der verschmitzte und „frohgemute“ Don Otto, Besitzer des Musikladens La Caja de Música, der inmitten des Stadtviertels Chapintero der kolumbianischen Hauptstadt gelegen ist; genauer gesagt: gegenüber der 1875 erbauten gotischen Kirche Nuestra Señora de Lourdes mit ihrer großen, stets von Tauben und Menschen frequentierten Plazoleta. 

Doch man täusche sich nicht, denn keineswegs handelt es sich bei dem Erzählungsbändchen um Geschichten im kolumbianischen Großstadtambiente. Genauso wie das Leben des „passionierten Musikforschers“ von den Klängen der Weltmusik umgeben ist, so spielen seine Geschichten auch vorwiegend in La Caja de Música. Einer „Geschlossenen Gesellschaft“ fern, hat es trotzdem den Anschein, dass der Musikalienladen einem Spiegel gleicht, der auf die Welt von außen gerichtet ist. 

So betreten denn Literaten, ehemalige FARC-Guerilleros, gutmütige Mathematiker, Punks „mit Haaren in Farben, wie sie die Natur nicht nachzuahmen versucht“ und andere verrückte oder weniger verrückte Typen den Laden. Viele finden, was sie suchen: „Die eingepackte Erwerbung unterm Arm, verließ unser Kritiker stolzen Schrittes und den Blick starr geradeaus gerichtet den Laden, wie ein Matador, der gerade seine Meisterprüfung abgelegt hat.“

Musik ist auch immer mit einer bestimmten Gemütslage verbunden. So suchen denn nicht selten Menschen das Geschäft auf, die weniger wegen der Musik als vielmehr aus Gesprächsbedarf kommen, wie etwa Marta, die sich kurz vorher von ihrem Freund getrennt hatte und in den Laden tritt, um sich mit Don Otto über die Unmöglichkeit von Monogamie auszutauschen, oder Don Nicolás, für den Musik „die Entweihung der Stille“ ist und der mit Don Otto, ausgerechnet mit ihm, über die Zerstörung der Stille durch Musik reden wird. 

Es ist aber auch ein Stück Musikgeschichte der besonderen Art, die mitunter aus dem Nähkästchen plaudert und den Horizont der Leserin und des Lesers ohne Zweifel bereichert; dies nicht nur aufgrund der Anekdoten, die Don Otto zu jedem Komponisten oder Musikstück zu erzählen weiß. Es ist auch und vor allem Don Ottos Leben in und mit Musik. Es gibt kaum eine Lebenssituation, die er nicht mit Musik verbindet. Daran schließt sich eine Fähigkeit an, interdisziplinär zu denken, was ihn vor der Gefahr, ein Fachidiot zu sein, ohne Zweifel rettet. Dr. Otto Roldán, wie er selten genannt wird, ist nicht nur universal gebildet und kann aus dem Stehgreif Gedichte oder Zitate von bekannten Denkern vortragen. Er macht das zudem auf eine derart unprätentiöse Art, dass seine Gespräche mit den Kunden oder seine eigenen Reflexionen zu mehr als nur einem intellektuellen Austausch werden, dessen faszinierter Zuhörer die Leser sind. 

Jedes Kapitel trägt jeweils den Namen eines Komponisten oder Musikstücks und umfasst einen Tag in unserer Gegenwart. Es gibt Hinweise zur ungefähren zeitlichen Eingrenzung des Plots, aber nur indirekte, was darauf schließen lässt, dass die erzählte Zeit mitunter eine untergeordnete Bedeutung hat. Auch Politik spielt eher unterschwellig eine Rolle. Sicher, Don Otto, das merkt man schnell, wäre nicht Don Otto, fielen ihm nicht passende Kommentare zu Politik und deren Machern ein, sobald sich die Gelegenheit bietet: „Da kam der Sohn des Ex-Präsidenten herein, Mitglied des Senates, der das Gewissen nur erwähnt, um zu behaupten, seines sei rein.“
 
Für den passionierten Musikforscher, der gleichzeitig sein Leben als Ahnenforscher unterhält, ist Musik jedoch nicht eine Möglichkeit, vor dem Alltag zu flüchten. Sie ist sein Alltag, für den es sich letztendlich lohnt, in der Gegenwart zu leben: „Ich glaube, dass sich das Elende zuletzt doch aus dem Staub erheben wird, anders als all das, was wir jetzt noch bewundern, und in dieser Gewissheit lebe ich, so gut ich kann.“ Neben den Veröffentlichungen des Schriftstellerkollegen Memo Ánjel ist dieses Büchlein ein weiteres positives Beispiel dafür, dass kolumbianische Literatur nicht per se von Gewalt leben muss. Ein gelungenes Produkt: in Form und Inhalt – das ist selten! Zu der hervorragenden Übertragung ins Deutsche ist Peter Kultzen nur zu gratulieren.

Mauricio Botero: Don Ottos Klassikkabinett, Übersetzung: Peter Kultzen, Unionsverlag, Zürich 2009, 187 Seiten, 12,90 Euro