Wir sind im Norden, im tiefsten, unbekannten Paraguay – wo es kleine Orte gibt mit nie gehörten Namen: Hugua Ñandú, Paso Barreto oder Puentesinho. Drei Orte im Departement Concepción – ersterer mit einem Namen in Guaraní, der zweite in Spanisch und der dritte in Portugiesisch. Hugua Ñandú – der Ortsname deutet auf das in diesem Gebiet fast nur gesprochene Guaraní hin, ein außerhalb Paraguays exotisches Idiom (obwohl es auch von Indígena-Gemeinschaften in Bolivien und Peru gesprochen wird). Gleichwohl wurde er, orthografische Herausforderung, hundertfach und weltweit in den Medien geschrieben in Zusammenhang mit der politisch motivierten Entführung des paraguayischen Großgrundbesitzers Fidel Zavala. Das liegt noch nicht lange zurück. Aus diesem eher makabren Anlass drang auch die Botschaft ins nationale Bewusstsein: „Der Norden existiert!“ Immer war das Departement Concepción mit seiner gleichnamigen, verschlafenen Hauptstadt isoliert, ja diskriminiert gewesen: Der Diktator Stroessner pflegte bestimmte Gegenden des von ihm wie Privatbesitz verwalteten Landes, in denen sich Widerstand regte oder wo die azules, die Blauen (Liberalen), seiner Meinung nach zu viel Rückhalt in der Bevölkerung hatten, mit dem Entzug staatlicher Gelder, totaler Vernachlässigung der Infrastruktur und anderen Schikanen zu „bestrafen“. Noch heute sind die Folgen zu spüren: Nur von Concepción bis zur Grenzstadt Pedro Juan Caballero existiert eine ganzjährig befahrbare Straße, freier Eintritt u.a. für die brasilianischen Schmuggel- und Drogenbarone. Der weitläufige nördliche Teil des Departements dagegen, wo auch Hugua Ñandú mit seinen gut 2000 EinwohnerInnen liegt, ist fast unzugänglich.
Der Großgrundbesitzer Fidel Zavala ist längst frei, aber Hugua Ñandú erfreut sich neuerlicher, unverhoffter Berühmtheit. Der Ort und die ganze Region befinden sich zudem seit Wochen im estado de excepción. „Ausnahmezustand“ ist die eher euphemistische Umschreibung dessen, was so mancher in Paraguay mit dem Wort „Belagerungszustand“ besser beschrieben fände. Losgeschickt vom paraguayischen Staat und seinem Kongress, halten sich inzwischen Tausende von Soldaten und Polizisten in der Zone auf, um Jagd zu machen auf eine angeblich schwer bewaffnete Guerilla vom Ejército del Pueblo Paraguayo (EPP – Paraguayisches Volksheer). Unterstützt werde diese Streitmacht von den kolumbianischen FARC, den dienstältesten südamerikanischen Gewaltrevoluzzern. So heißt es.
Oder ist das nur der Vorwand für eine entfesselte Überwachung und Einschüchterung unliebsamer sozialer Organisationen im Norden? Und in Wahrheit agiert da nur ein kleiner Haufen krimineller Desperados? Wie soll man den folgenden Vorfall von Anfang Mai bewerten? Eine Gruppe von 350 Militärs überfällt ein Haus, in dem gerade der fünfzehnte Geburtstag eines Mädchens gefeiert wird, nimmt alle TeilnehmerInnen des Fests als „Kriegsgefangene“, geht mit brutaler Gewalt gegen Wehrlose vor. Das 15jährige Geburtstagskind liegt, Mund nach unten, auf dem Boden, den Lauf eines Sturmgewehres am Kopf. Scharfes Verhör der Anwesenden durch das Militär, es geht um den Aufenthaltsort eines Achtjährigen, Sohn einer gesuchten Guerillera.
Dann ein völlig unerklärlicher, wilder Schusswechsel zwischen Polizisten und Militärs, letztere „erobern“ die Polizeistation. Die „Kollegen Militärs“ verletzen Polizisten – kein besonders freundliches Feuer. Präsident Lugo eilt zur Klärung an den Ort, kritisch begleitet von Vertretern der paraguayischen Presse, die ihn immer wieder der Komplizenschaft mit der „von Kolumbien ferngesteuerten paraguayischen Guerilla“ bezichtigt hatten. Ein Besuch des Präsidenten in Deutschland auf Einladung der Friedrich-Ebert-Stiftung wird „wegen innenpolitischer Spannungen“ abgesagt. Stattdessen bemüht sich Lugo, im eigenen Land zu begründen, warum er mit Kanonen auf Spatzen schießen lässt oder, wie ein aufgebrachter Campesinoführer sagt, wieso 350 Elitekampfsoldaten auf eine verdächtige, nicht einmal angeklagte Frau angesetzt werden.
Terroristenjagd – oder eher Staatsterrorismus? Auch das zweite Wort hört man jetzt häufiger in Paraguay. Im Munde der Lugo-GegnerInnen in Politik und Wirtschaft ein reiner Kampfbegriff, den sie gerne verbreiten, um den verhassten Präsidenten zu demontieren und aus dem Amt zu jagen. „Für die internationale Presse ist das ‚Paraguayische Volksheer’ ein Gespenst“, schreibt die Tageszeitung ABC-Color, sie führt als Kronzeugen einen BBC-Korrespondenten an, der nach einem ausgedehnten Recherchebesuch im Lande von dem „mysteriösen Phantom der paraguayischen Guerilla“ schreibt und sich fragt, „wie denn zwei bis drei Dutzend Männer und Frauen in der Lage sein sollen, mehr als 3000 Militärs und Polizisten zu entkommen“.
Jedenfalls ist Paraguay zur Zeit ein Pulverfass – mit Zündstoff wie einer angeblichen „marxistisch-leninistischen Guerilla“, die Sojabarone entführt, einem möglichen Staatsstreich und – als würde das nicht reichen – fünf militarisierten Provinzen im Ausnahmezustand. Und je nach Erzähler ist der Hauptfeind des Landes entweder das organisierte Verbrechen, die Drogenmafia oder die Anstifter zu einem Aufstand à la Che Guevara.
Auch für die Buchautorin und Reporterin Stella Calloni von der mexikanischen Tageszeitung La Jornada ist, nach ihrem ausgedehnten Besuch im Land „die Geschichte vom ,Paraguayischen Volksheer’ ein Witz! Keine Guerilla der Welt kann auf einer derart kleinen Fläche operieren, auf der so viel Militär im Einsatz ist, das auf die Befehle der Sojabarone und der Herren des ,offiziellen’ Paraguays hört. In Wahrheit hat ein Teil der Regierung den eigenen Präsidenten mit dieser Terrorismusmasche in die Enge getrieben, um den schon in Gang befindlichen Staatsstreich zu beschleunigen.“
Demnach hat man den Präsidenten also zum Terroristenjagen förmlich getragen, und man will sich fast wundern, dass die Militärs ihm bei seinem Besuch vor Ort so artig salutieren. Der paraguayische Innenminister Rafael Filizzola hat mit Kolumbiens Präsident Álvaro Uribe einen Vertrag zur Ausbildung von paraguayischen Antiterroreinheiten geschlossen, um auf diese Weise einen inneren Feind nach Art des kolumbianischen Heeres gegen die FARC zu bekämpfen. Paraguays Präsident steht mit dem Rücken zur Wand. Seine Regierung ist extrem schwach, der eigene Vize von den Liberalen droht mit einem Amtsenthebungsverfahren, und die alten Colorados beherrschen immer noch Kongress und Justiz.
Wohl vermochte Lugo in Verhandlungen mit Barack Obama die Ausweitung der „militärisch-humanitären Manöver“ mit den USA, genannt „Neue Horizonte“, zu verhindern. Seit Jahren führt die US-Armee gemeinsame Manöver mit Paraguays Militär durch, bei denen auch mal was für die heimischen Streitkräfte abfällt. Immer auch senden sie medizinisches Personal für ihre Sanitärkosmetik, verschenken milde Gaben an die Landbevölkerung oder graben den einen oder anderen Brunnen. Dabei übernehmen ihre jungen Leute vom Peace-Corps die eher folkloristische Ausschmückung. Es wundert niemanden, dass die yankees ihre Aktionsgebiete nicht nach landschaftlicher Schönheit aussuchen, sondern immer da zu finden sind (waren?), wo es strategisch – militärisch oder wegen der Rohstoffe interessant ist: In Paraguay das Chaco-Erdöl und zunehmend die riesigen unterirdischen Süßwasservorräte des sogenannten Acuífero Guaraní.
Während Lugo mit den USA einen Verhandlungserfolg erreichen konnte, hatte er nicht die Kraft, den „Ausnahmezustand“ an der Nordgrenze abzuwenden, da wurde er einfach überrollt – und hatte im Wortsinn das Nachsehen gegenüber der erdrückenden Oppositionsmehrheit im Kongress und seinen „Bündnispartnern“ von den Liberalen. Und so besucht er brav „seine Truppen“ im Norden und versucht, sich irgendwie durchzulavieren. Natürlich hat die paraguayische Opposition nichts anderes vor, als ihn zu stürzen und die Macht zu übernehmen. Geschickt zwingen sie ihm politische Konstellationen auf, die ihn gegenüber der eigenen sozialen Basis schlecht aussehen lassen.
Derweil klagen Campesinoorganisationen von Concepción und San Pedro Vertreibungen und Strafprozesse gegen ihre Führer an. Das ist nicht neu, wie Menschenrechtsgruppen wissen, die von vielen, größtenteils unregistrierten, Übergriffen der letzten Jahre im gesamten Chaco-Raum berichten. Eine feindselige Gegend ist das, mit eigenen Gesetzen, nicht nur wegen des Drogenschmuggels und des organisierten Verbrechens. Auch die mächtigen Sojagroßgrundbesitzer trumpfen immer stärker auf und dulden keinen Widerstand, geschweige denn, das Wort Agrarreform auch nur in den Mund zu nehmen.
Der andere „große Bruder“ neben den USA ist der Nachbar Brasilien. Der bot Lugo Hilfestellung zur Beruhigung der „Nordfront“ an. Nicht unwillkommen offenbar – einen entsprechenden Vertrag hat Fernando Lugo mit dem brasilianischen Präsidenten Lula da Silva geschlossen. Die beiden können gut miteinander, und Lugo selber meinte einmal, dass ihn ohnehin nur „die befreundeten Nachbarregierungen an der Macht halten …“
Aber das Gespenst eines Staatsstreichs à la Honduras ist damit nicht vom Tisch. Wird Lugo nach Honduras’ Zelaya der zweite südamerikanische Präsident sein, den man zwingt, sein Amt abzugeben und das Land zu verlassen?