Nachrufe auf die progressive Epoche in Lateinamerika sind en vogue: auf die linken oder linksliberalen Regierungen, die seit der Jahrtausendwende dem bis dato vorherrschenden Neoliberalismus entgegengetreten und auf eine aktivere Rolle des Staats gesetzt hatten, dabei teils zukunftsweisende neue Verfassungen verabschiedeten und überall eine Umverteilung erreichen konnten. Ende 2015 scheint dieser Zyklus an sein Ende gekommen zu sein: In Venezuela hat die Opposition die Parlamentsmehrheit, in Argentinien kommt mit Mauricio Macri ein Vertreter der alten Eliten an die Regierungsspitze, in Bolivien und Ecuador leiden die Regierungen unter massivem Legitimitätsverlust, die brasilianische Präsidentin Rousseff steht kurz vor ihrer Entmachtung. Wie konnte es soweit kommen? Und was kann aus den Fehlern gelernt werden?
In der hervorragenden Einleitung des schmalen Bandes geht Herausgeber Ulrich Brand diesen Fragen profund auf den Grund. Er relativiert den von vielen pauschal herbei geschriebenen Niedergang der linken Regierungen und arbeitet Schwachstellen und mögliche Gründe für das Scheitern der jeweiligen Regierungsprojekte heraus: Gemeinsam ist allen Ländern, dass sie unter den zurückgegangenen Ressourcenpreisen am Weltmarkt leiden und für ihre Umverteilungspolitiken kaum mehr Spielraum haben. Dies ist zugleich der wichtigste Kritikpunkt: Die einseitige Orientierung am Export unverarbeiteter Rohstoffe wie Erdöl, Kohle, Gold, Soja etc. Ein Umbau des Produktions- und Wirtschaftsmodells hat nirgendwo stattgefunden, das neo-extraktivistische Entwicklungsmodell mit seinen sozial-ökologischen Folgekosten herrscht weiterhin vor. Der ecuadorianische Ökonom Alberto Costa bezeichnet dies als Rohstoffkonsens beziehungsweise als „Konsens von Peking“ (S. 90). Umverteilt wurden nur die Einnahmen. Macht- und Besitzverhältnisse, etwa im Hinblick auf die Landfrage, sind allerorten intakt geblieben. Während des Rohstoffbooms gestiegene Konsummöglichkeiten („Konsumpakt“, Boos S. 104) gehen zurück, weswegen sich insbesondere die Mittelschicht enttäuscht abwendet. Auch einen Staatsumbau hat es nicht gegeben, Partizipationsprozesse (wie etwa in den Kommunalen Räten in Venezuela) blieben von oben kontrolliert. Autoritäre Tendenzen nehmen zu, die Staatsoberhäupter klammern sich an die Macht, mit Hilfe von Zugeständnissen an die rechte Opposition und Wiederwahlinitiativen. Kritik von links wird diskreditiert, schlimmstenfalls kriminalisiert. Generell zeigt sich ein Erschöpfungszustand: Die Bevölkerung ist der Hyperpolitisierung des öffentlichen Diskurses überdrüssig, des zugespitzten politischen Lagerdenkens, das jenseits der Dichotomie „progressive Regierung versus rechte (bzw. imperialistische!) Gegner“ keinen Raum lässt.
Zu diesen Fragen werden in Lateinamerika engagierte Debatten geführt, das Verdienst von Ulrich Brand, Professor für Internationale Politik an der Uni Wien, ist es, profilierte DenkerInnen von vor Ort gewonnen zu haben, mit denen er diese Fragen zum möglichen Ende des post-neoliberalen Zyklus diskutiert. Erfreulicherweise sind die Hälfte der interviewten ExpertInnen Frauen.
Die sieben Interviews wurden 2015 geführt und im April 2016 aktualisiert; das Interview mit der Brasilianerin Camila Moreno führte Brand im März 2016 angesichts der sich überschlagenden Ereignisse im Land komplett neu. Dieses Gespräch zu Brasiliens Staatskrise liest sich tatsächlich wie ein spannender Politkrimi. Moreno, die vor allem zu Landfragen forscht, dröselt detailliert das Komplott um das Amtsenthebungsverfahren von Präsidentin Rousseff auf und zeigt, wie die Antikorruptionskampagne Lava Jato die größte Krise in der Geschichte der Republik verursacht, weil sie zeigt, dass „fast die ganze politische Klasse darin involviert ist“ (S. 53). Hochinteressant auch ihre Einschätzung zur Rolle der Agrarindustrie, die von den Regierungen der brasilianischen Arbeiterpartei (PT) stets bedingungslos unterstützt wurde. Die Vertreter dieser Branche würden sich selbst als «Protein-Industrie», als Nahrungsversorger für die Welt bezeichnen, etwa mit dem Slogan «Soja und Mais in Hühner zu verwandeln»: „Während wir das als Extraktivismus’ bezeichnen (…), ist die Branche viel weiter. Sie schafft ein Narrativ und sucht ihren Platz als Schlüsselbranche in der globalisierten Ökonomie des 21. Jahrhunderts“ (S. 61).
Auch wenn die meisten Beiträge ernüchternde Einschätzungen abgeben, zeigen sich auch vage Hoffnungsschimmer: Auf die Frage, was von linken Erfahrungen bleibt, meint Ex-FSLN-Mitglied Mónica Baltodano (bezüglich Nicaragua): «Auf der politischen Ebene erleben wir einen Rollback. Es bleibt aber aus meiner Sicht die tief verankerte Überzeugung, eine Art sandinistische Ethik (…). Es gibt die Erfahrung, dass es einen anderen Weg geben kann, beispielsweise die Wirtschaft anders zu organisieren» (S. 77). Dies sieht Edgardo Lander für den Chavismus ähnlich, die ersten Jahre gingen einher «mit einem enorm gestiegenen Selbstbewusstsein, mit der Wiedergewinnung der Würde (…), mit der Schaffung sozialer Netzwerke, (…) solidarischer Zusammenschlüsse. Und das in einem Land, das keine Tradition der Selbstorganisation hatte. Diese Erfahrung lebt und bleibt» (S. 88).
Insgesamt resümiert der Band auf gut lesbare Art und Weise die hausgemachten, strukturellen und externen Probleme der progressiven Regierungen Lateinamerikas sowie die Herausforderungen, denen eine – parteipolitische wie außerparlamentarische – Linke in Lateinamerika gegenübersteht. Ausführliche Literaturangaben für eine vertiefende Analyse runden das Ganze ab.