Bogotá ist die Hauptstadt eines Landes, das sich seit mehreren Jahrzehnten im Krieg befindet. Eigenartigerweise kann man den Krieg in Bogotá aber kaum bemerken bzw. relativ schnell vergessen, denn das Leben in der Hauptstadt geht anscheinend seinen täglichen, meist hektischen Gang. Nur ab und zu wird diese scheinbare Ruhe für kurze Zeit gestört. Auch wenn sich in den letzten Jahren der bewaffnete Konflikt in den Städten stärker bemerkbar gemacht hat, tobt er doch vorwiegend auf dem Land bzw. außerhalb der urbanen Zentren. In Bogotá sind die barrios populares, die armen Stadtviertel, vor allem im südlichen Teil der Stadt zu finden. Hier üben bewaffnete Akteure – Militär-Paramilitär und Guerilla – Macht und Kontrolle über die Bevölkerung aus und terrorisieren sie. In diesen Randgebieten der Stadt kommt auch der Großteil der Kriegsflüchtlinge an, die von den Bewaffneten gewaltsam von ihrem Land vertrieben wurden. Bettelnde und um Hilfe bittende Flüchtlinge sind für die HauptstädterInnen der vielleicht sichtbarste Hinweis darauf, dass in ihrem Land etwas gewaltig nicht stimmt. Denn von Menschenrechtsverletzungen, Bedrohungen, „Verschwindenlassen“ und Morden an MenschenrechtlerInnen und SozialaktivistInnen sogar mitten im Zentrum der Stadt bekommt die Mehrheit der Bevölkerung nichts mit. Die einseitig berichtenden Massenmedien – Medienmonopole in den Händen weniger Reicher und Mächtiger – schaffen ein eigenes, virtuelles Kolumbien, das mit dem echten und wirklichen nicht viel gemein hat.
Polizei, Militärpolizei und Soldaten – letztere besonders schwer bewaffnet – sind in der ganzen Stadt, besonders aber im Zentrum, massiv vertreten und nicht zu übersehen. Diese laut Regierung „Sicherheit vermittelnde“ Militarisierung der Stadt (und des ganzen Landes) beängstigt mich mehr als dass sie mich beruhigt, denn staatliche Sicherheits-, Ordnungs- und Streitkräfte sind allzu oft in Menschenrechtsverletzungen involviert. Statt die starken sozialen Gegensätze, die den tief liegenden Grund des Krieges darstellen, wirklich aufzulösen, versucht die Regierung, sie durch Gewalt zu unterdrücken. Bogotá spiegelt als Stadt der Kontraste die Ungerechtigkeit der Welt in sich wider. Während im Norden die Reichen in abgesicherten Hochhauswohnungen mit Gitterfenstern, Alarmanlagen und Gebäude-Security wohnen und durch großzügig angelegte Straßen, schöne Parks und modernste Einkaufszentren schlendern, fristet im Süden der Stadt der arme Teil der Bevölkerung unter teilweise menschenunwürdigen Bedingungen sein Dasein. Luxuskarossen rasen an Menschen vorbei, die am Straßenrand im Müll nach Essbarem suchen. Anstatt den Menschen, die auf der Straße leben, und den ambulanten HändlerInnen, die alles Mögliche und Unmögliche zum Kauf anpreisen, eine wirkliche Alternative zum Broterwerb im informellen Sektor zu bieten, werden sie durch die Polizei aus dem Zentrum und von sonst wo vertrieben, um so das Stadtbild zu „bereinigen“. Diese Vertreibungspolitik verlegt „das Problem“ nur örtlich bzw. verschlechtert die Lebensbedingungen der Betroffenen nur noch weiter. So werden zum Beispiel schwarz gebrannte CDs und DVDs nun einfach nicht mehr offen an Ständen auf der Straße verkauft. Die VerkäuferInnen bieten ihre Ware auf dem Bürgersteig mündlich an und führen interessierte KäuferInnen danach (an herumstehenden Polizisten vorbei) in einen Hinterhof, wo sie begutachtet werden kann.
Anders als die sozialen, aber ebenfalls gravierend, sind die klimatischen Kontraste der auf 2600 Meter über dem Meeresspiegel gelegenen kolumbianischen Hauptstadt. Bei meinem ersten Besuch verursachte mir diese Höhe noch Kopfschmerzen, die länger als einen Tag andauerten. Es gibt zwar keine Jahreszeiten, aber oft hat man den Eindruck, Sommer und Winter innerhalb weniger Stunden zu erleben. Wenn die Sonne scheint, ist es sehr warm und die starke Höhensonne verursacht leicht Sonnenbrand. Kurze Zeit später kann es dann plötzlich kalt und regnerisch und damit extrem ungemütlich werden. Das Spektrum reicht vom in Deutschland zur Genüge bekannten tagelangen Nieselregen bis zu Wolkenbrüchen, die in wenigen Minuten sämtliche Straßen überschwemmen. Die Häuser in Bogotá haben keine Heizung und sind nur schlecht isoliert. So ist es etwa, wenn es draußen sonnig und warm ist, drinnen – vor allem in alten Häusern mit dicken Steinwänden – sehr kühl. Dann hilft nur rausgehen und sich bewegen oder ein heißer Tee und eine Wolldecke. Die BogotanerInnen sind dafür bekannt, ganz im Gegenteil etwa zur kolumbianischen Küstenbevölkerung eher verschlossene Menschen zu sein. Die Hauptstadthektik und -anonymität trägt ihr Übriges dazu bei. Sprich, es ist nicht so einfach wie anderswo, schnell mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen.
Die Orientierung in Bogotá ist dank eines logischen Straßensystems (wenn man es einmal verstanden hat!) ein Kinderspiel. Alle Straßen, die von Norden nach Süden oder andersherum verlaufen, heißen carrera und die von Osten nach Westen bzw. Westen nach Osten calle. Beide sind durchnummeriert, d.h., statt Straßennamen gibt es Zahlen. Und Osten ist immer dort, wo die Bogotá umgebenden Berge am nächsten erscheinen. Diese Berge dienen nicht nur als hervorragender Orientierungspunkt, sondern beeindrucken auch mit ihrer wechselhaften Erscheinung. Morgens früh und bei schlechtem Wetter sind sie in Nebel und Wolken verhüllt. Und manchmal wiederum begrenzen sie die Stadt Richtung Osten wie eine große satt dunkelgrüne Wand. Beliebtes sonn- und feiertägliches Ausflugsziel – zu Fuß oder per Seil- oder Zahnradbahn – ist Monserrate, einer dieser Berge und wichtiger Wallfahrtsort mit Kirche. Darüber hinaus kann man von dort oben den Blick auf das nicht enden wollende Häusermeer der Hauptstadt genießen. (Die Luft ist dort oben auf 3100 Meter Höhe allerdings noch dünner als unten.)
In Bogotá leben knappe neun Millionen Menschen, von denen lange nicht alle rolos und rolas, also „echte“ BogotanerInnen sind, denn viele sind aus allen Ecken und Enden des Landes zugezogen, freiwillig oder unfreiwillig, wie im Fall der internen Vertriebenen. Zum nicht enden wollenden Häusermeer trägt auch die Tatsache bei, dass Bogotá mit der Zeit mit angrenzenden Munizipien wie z.B. Soacha im Süden zusammengewachsen ist. Durch Bogotá schlängelt sich kilometerlang von Norden nach Süden die 7. Straße, die Séptima. Der zentralste Abschnitt dieser wichtigen Verbindung wird im Norden von den Wolkenkratzern der großen Banken und dem teuren Tequendama-Hotel, dem Komplex des Centro Internacional, begrenzt (sozusagen die Skyline Bogotás) und reicht Richtung Süden bis zur Plaza de Bolívar, dem taubenreichen und von vielen Polaroidfotografen bevölkerten Hauptplatz der Stadt, dessen vier Seiten durch die Kathedrale, das Parlament, das Rathaus und den Justizpalast flankiert werden. Die Séptima ist stets sehr belebt, besonders aber sonntags und an Feiertagen, wenn sie für den Autoverkehr gesperrt wird. Bei gutem Wetter fungiert sie dann als Flaniermeile (es gibt sogar einen netten Trödelmarkt) und schenkt Bogotá zumindest zeitweise eine der Stadt sonst fehlende Fußgängerzone. Zusammen mit vielen weiteren an diesen Tagen für die Autos gesperrten Hauptverkehrsstraßen bildet die Séptima die Cicloruta, ein sehr weitläufiges System autofreier Straßen, das besonders von RadfahrerInnen, aber auch von JoggerInnen, genutzt wird. Politische Demonstrationen werden ebenfalls vorwiegend auf der Séptima durchgeführt, da der Autoverkehr auf diese Art und Weise lahmgelegt werden kann und die Anliegen der DemonstrantInnen viele Menschen erreichen. Und die Plaza de Bolívar dient nicht nur regelmäßig als Demonstrationsendpunkt, sondern auch als Veranstaltungsort aller Art.
Neben der Séptima sind die Calle 19 (19. Straße) und die Décima (die Zehnte) ebenfalls wichtige Verbindungslinien im Zentrum Bogotás. Letztere ist eine teilweise sogar achtspurig ausgebaute und stets mit Bussen verstopfte chaotische Straße voller Abgase und Gehupe. Alle drei Straßen sind sehr belebt, es gibt viel Kommerz. Auch wenn hier gestohlen und überfallen wird, also die in jeder Großstadt anzutreffende Kleinkriminalität vorliegt, scheinen mir die Warnungen über die Gefährlichkeit dieser Zone von Seiten betuchter BogotanerInnen, die im Norden leben und diese Orte tunlichst meiden, übertrieben. Ein völlig anderes Transportsystem als das der meist alten klapprigen Busse, die so über die Décima heizen, dass sich die Fahrgäste, um nicht quer durch den Bus geschleudert zu werden, mit beiden Händen festkrallen müssen, während sie dazu noch mit lauter Musik beschallt werden, ist das moderne Bussystem Transmilenio. Dieses verfügt über EuropäerInnen Sicherheit vermittelnde Fahrpläne sowie feste Fahrtrouten und Haltestellen, während die kleinen Busse einen zwar überall hinbringen, man aber mindestens grob wissen muss, wo lang oder wohin sie fahren und wo man aussteigen muss.
Transmilenio-Busse zu benutzen bedeutet aber nicht nur meist größeres Gequetsche, da sie voller sind, sondern auch politisch unkorrektes Verhalten, denn beim „Trashmilenio“ findet sich das leider überall bekannte Modell der Privatisierung, das heißt Einfahren von privaten Gewinnen im Mix mit der Umverteilung der Kosten auf die öffentliche Hand. Das Privatunternehmen Transmilenio streicht fette Gewinne ein, während die Kosten beispielsweise für die Unterhaltung der von diesem Bussystem exklusiv genutzten Fahrspuren aus öffentlichen Ausgaben bestritten werden. Diese Sonderspuren sind der Grund dafür, dass gerade auf längeren Strecken der Transmilenio eine schnellere Fortbewegung ermöglicht als „normale“ Busse. Darüber hinaus werden die „normalen“ Busse durch den Ausbau des modernen Bussystems von ihren üblichen Routen vertrieben, was im Mai dieses Jahres einen Busstreik auslöste (vgl. Verkehrsbeitrag in dieser ila). Sicher ist, dass das hohe Verkehrsaufkommen in Bogotá wirklich ein Problem darstellt. Auch ohne die üblichen Staus ist man oft reichlich lange unterwegs, um von einem zum anderen Punkt zu kommen. Wenn wieder mal eine der Hauptstraßen absolut verstopft ist und außer Hupen nichts mehr geht, bleibt nur noch Geduld.
Bogotá hat natürlich auch seine angenehmen Seiten. Im historischen Stadtviertel Candelaria in Zentrum oberhalb der Séptima etwa findet man neben schönen Kolonialbauten alternativ-studentisches Flair, nette Cafés, Bars und Restaurants. Im etwas nördlich von der Candelaria gelegenen Stadtviertel La Macarena gibt es ähnliches. Interessant sind auch Teile von Teusaquillo und Chapinero, wo besonders Häuser in englischem Vorstadtstil auffallen. Und in Bogotá ist einfach immer etwas los. Neben politischen gibt es besonders viele spannende kulturelle Veranstaltungen: Kunst, Kino oder Theater. Oft ist der Eintritt auch noch frei, wodurch auch weniger betuchte BogotanerInnen Zugang zu Kultur und dieser Art von gesellschaftlichem Leben haben.