Die Idee des Ständigen Tribunals der Völker geht auf das Russell-Tribunal zurück, bei dem 1966/67 die von den USA in Vietnam begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit behandelt wurden. Das Russell-Tribunal setzte sich zum zweiten Mal zwischen 1974 und 1976 zusammen, um über die Militärdiktaturen in Lateinamerika zu richten. Nach dieser zweiten Sitzung wurden unterschiedliche Mechanismen zur Verteidigung der Rechte der Völker entwickelt, darunter die Möglichkeit, Meinungstribunale bzw. Ständige Tribunale der Völker abzuhalten. Diese Tribunale werden von der in Italien ansässigen internationalen Lelio Basso-Stiftung einberufen und beziehen sich auf die internationalen Menschenrechtskonventionen.
Ihrem Charakter nach sind diese Tribunale von den juristischen Strukturen der jeweiligen Länder unabhängig. Sie verstehen sich als „ethisches Gewissen der Völker“ und sind zu einem wichtigen Instrument bei der Suche nach Wahrheit, Gerechtigkeit und integraler Wiedergutmachung für die Opfer in den Ländern geworden, in denen die staatliche Justiz – wie in Kolumbien – dafür nicht Sorge trägt.
Die Lelio Basso-Stiftung akzeptierte im Juli 2005 die Petition mehrerer sozialer Organisationen aus Kolumbien, um zwischen 2006 und 2008 aufeinander folgende thematische Anhörungen zur Tätigkeit von Multis in Kolumbien abzuhalten. Dies ist folgendermaßen begründet:
• Die transnationalen Unternehmen (TNU) sind mitverantwortlich für die Plünderung der natürlichen Ressourcen, für die Privatisierung der öffentlichen Dienstleistungen, die Zerstörung der Umwelt und der Biodiversität, für Hunger und andere Formen struktureller Gewalt in Kolumbien.
• Die TNU profitieren von der Repression, die der kolumbianische Staat gegen die organisierte Bevölkerung ausübt.
• Die indigenen Völker sind von der Durchführung von Mega-Projekten in ihren Territorien besonders betroffen.
• Das im Rahmen des Demobilisierungsprozesses der rechtsextremen Paramilitärs erlassene „Gesetz für Gerechtigkeit und Frieden“ perpetuiert die Straflosigkeit für Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit und trägt nicht zur Suche nach Wahrheit, Gerechtigkeit und integraler Wiedergutmachung für die Opfer dieser Verbrechen bei. Durch die Verbrechen wurden zum Teil die transnationalen Unternehmen begünstigt.
Die Gruppe der Geschworenen des Tribunals im April setzte sich aus internationalen und einheimischen Fachleuten zusammen. Als Geschworene fungierten: Vilma Núñez de Escorica, ehemalige Vorsitzende des Verfassungsgerichtes von Nicaragua, derzeit Präsidentin der nicaraguanischen Menschenrechtsorganisation CENIDH und Vizepräsidentin der Internationalen Menschenrechtsföderation; Gianni Tognoni, Arzt und Sekretär des Ständigen Tribunals der Völker seit seiner Gründung im Jahr 1979; Antonio Pigrau Solé, Hochschullehrer und Experte für Internationales Recht aus Spanien; Orlando Fals Borda, international renommierter kolumbianischer Soziologe; Eduardo Cifuentes Muñoz, ehem. nationaler Ombudsmann und Verfassungsrichter, derzeit Dekan der Jura-Fakultät der Anden-Universität; Libardo Sarmiento, kolumbianischer Ökonom und Publizist; Geovanny Yule, Nasa-Indígena und Mitglied im Führungsgremium der regionalen Indígena-Organisation des Cauca-Departements, CRIC.
Bei dem Tribunal wurden die Geschichte und die Funktionsweise der drei Nahrungsmittelkonzerne in Kolumbien geschildert. Danach wurden die Anklagen vorgetragen. Diese wurden mit mehreren und oft bewegenden Aussagen betroffener ArbeiterInnnen und Familienangehöriger belegt.
Nestlé besteht in Kolumbien seit 1945 und kontrolliert fast den gesamten Milchproduktemarkt im Land. Der Schweizer Nahrungsmittelmulti stellt aber auch andere Produkte des Lebensmittelbereiches sowie die Grundstoffe für seine Erzeugnisse her. Das Unternehmen wurde dreier Verbrechen angeklagt:
1. Mitverantwortung bei Menschenrechtsverletzungen, unter anderem der Ermordung von Héctor Useche Barón 1986 und von Luciano Enrique Romero Molina 2005; ebenso der Unterlassung in Bezug auf den Schutz der physischen Integrität der Gewerkschafter von Sinaltrainal in Bugalagrande, Valledupar und Dosquebradas. (In Sinaltrainal sind die Beschäftigten des Lebensmittelsektors organisiert.)
2. Umpacken und Umetikettieren von abgelaufener Milch: 2002 wurden insgesamt 9500 Großpackungen sowie 5800 Kilopackungen abgelaufener Milch aus anderen lateinamerikanischen Ländern in Lagern von Nestlé gefunden, die als Milchpulver in Kolumbien verkauft werden sollten.
3. Verfolgung der Gewerkschaft, Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und Verletzung von Arbeitsrechten, unter anderem Entlassungen wegen Organisierung von Streiks, Outsourcing von Arbeitskräften und Prekarisierung (die Beschäftigten mit befristeten Arbeitsverträgen stellen inzwischen die Mehrheit der Belegschaft dar und verdienen nur 35 Prozent des Lohnes der Arbeiter mit unbefristeten Verträgen), Hausdurchsuchungen von Gewerkschaftern und deren Verfolgung durch staatliche Sicherheitskräfte.
Über die Geschichte und die Funktionsweise von Coca-Cola in Kolumbien ist schon viel veröffentlicht worden. Dazu hat die internationale Coca-Cola-Kampagne beigetragen. Gegen den Coca-Cola-Konzern wurden beim Tribunal drei Anklagen vorgetragen:
1. Kriminalisierung der Gewerkschaftsaktivitäten: Vier Zeugen illustrierten, wie das Unternehmen die Gewerkschafter und ihre Familien physisch, psychisch und moralisch verfolgt und sie als Kollaborateure der Guerilla beschuldigt.
2. Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und Verletzung von Arbeitsrechten: unter anderem Bildung von internen “Arbeitskooperativen”, deren Mitglieder zehn bis vierzehn Stunden täglich arbeiten und dabei einen Mindestlohn verdienen, von dem sie die Kosten für die Sozialversicherung selbst tragen müssen; keine Bezahlung von Überstunden; verschiedene Maßnahmen der Flexibilisierung von Arbeit, zum Teil durch physische Gewalt erzwungener „freiwilliger“ Vorruhestand, Massenentlassungen ohne entsprechende Entschädigungen.
3. Mitverantwortung für Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, exemplarisch geschildert an einem Fall in der Fabrik in Carepa (Dept. Antioquia) und der Ermordung von Isidro Segundo Gil. Insgesamt gehen bislang neun Morde an Gewerkschaftsaktivisten auf das Konto von Coca-Cola.
Lange Zeit funktionierte Chiquita Brands als United Fruit Company, das Unternehmen, das durch ein Massaker an Bananenarbeitern 1928 zu trauriger Berühmtheit gekommen ist. (Dieses Massaker wird in dem Roman „Hundert Jahre Einsamkeit“ von García Márquez beschrieben.) Heute kontrolliert Chiquita Banadex ein Viertel des weltweiten Bananenhandels. Neun Prozent dieser Bananen wachsen in Kolumbien.
Der Bananenmulti wurde bei der Sitzung des Tribunals der Teilnahme am Waffenhandel sowie anderer Formen der Unterstützung paramilitärischer Gruppen angeklagt: 2001 wurden in Carepa im Lager von Banadex 3000 Maschinengewehre und fünf Millionen Patronen gefunden, die an die Paramilitärs von Córdoba und Urabá ausgehändigt werden sollten. Das Unternehmen wurde dafür nie verurteilt, ebenso wenig für das Eingeständnis, Paramilitärs für den angeblichen Schutz der Belegschaft finanziert zu haben. Nachdem die Geschworenen sich zurückgezogen hatten, um die Berichte und Zeugenaussagen zu prüfen, gaben sie ihr vorläufiges Urteil bekannt. Es ist ein Beitrag für die abschließende Sitzung des Tribunals über Konzerne in Kolumbien, die für 2008 vorgesehen ist. In ihrer Entscheidung verfügen die Geschworenen:
• Die transnationalen Unternehmen Nestlé, Coca-Cola und Chiquita Brands sind direkt für die Verletzungen von Arbeitsrechten, insbesondere bezüglich Gewerkschaftsfreiheit, und die unwürdigen Lebensbedingungen für die ArbeiterInnen und die Gemeinden im allgemeinen verantwortlich zu machen.
• Die Konzerne umgehen ständig Verpflichtungen, die sie im Bereich der sozialen Verantwortung erfüllen müssten.
• Der kolumbianische Staat trägt Verantwortung für die Nichtanerkennung des Rechtes auf Arbeit sowie der in verschiedenen internationalen Verträgen festgeschriebenen sozialen Rechte.
• Der kolumbianische Staat verfolgt weder die Verbrechen gegen die Menschlichkeit noch die Verletzungen der Rechte der Opfer solcher Verbrechen. In Kolumbien gibt es keine unabhängige Rechtsprechung. Bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verletzungen der Menschenrechte besteht die individuelle Verantwortung von Mitgliedern der staatlichen Sicherheitskräfte, sei es infolge direkter Beteiligung an Verbrechen oder der Unterlassung von Handlungen, um diese zu verhindern.
• Die Regierungen der Schweiz und der USA tragen Verantwortung, da sie den Konzernen erlauben, in Kolumbien Rechte zu verletzen, die sie in ihren Heimatländern einhalten müssten.
Als Empfehlungen sprachen sich die Geschworenen dafür aus, die Anstrengungen zur Bekämpfung der Straflosigkeit weiterzuverfolgen und einen Boykott der Produkte von Coca-Cola, Nestlé und Chiquita Brands zu koordinieren. Dies soll die Öffentlichkeit sensibilisieren. Auch sollen die Möglichkeiten geprüft werden, in den jeweiligen Stammländern Prozesse gegen die Unternehmen wegen der Nichteinhaltung von Arbeitsrechten in Kolumbien durchzuführen. Vor dem Internationalen Strafgerichtshof sollen Anklagen formuliert werden. Die kolumbianischen Massenmedien werden dazu aufgefordert, nicht weiter über Verbrechen im Zusammenhang mit Konzernaktivitäten zu schweigen.