Die Geschichte des Bergbaus in Bolivien reicht zurück bis in das 16. Jahrhundert. In der Gebirgsstadt Potosí wurde der Cerro Rico erschlossen, der Berg mit dem höchsten Silberreichtum der damaligen Zeit. Potosí wurde zu einer der größten Städte der Welt und zum Mittelpunkt des spanischen Kolonialreichs. Seine herausragende Stellung hat der Bergbau in Bolivien zwar eingebüßt. Für 2011 kalkulierte das Ministerium für Bergbau, dass nur 6,22 Prozent des bolivianischen BIP aus dem Bergbau stammen. Dennoch bleibt der Bergbau ein strategisch wichtiger Sektor für das Land. Durch zuletzt steigende Preise für Metalle und Mineralien lassen sich wichtige Devisen erwirtschaften. Immerhin 25 Prozent der bolivianischen Exporte stammen aus dem Bergbausektor; erst 10 Prozent der vorhandenen Rohstoffvorräte in Bolivien sollen bisher ausgebeutet worden sein.
Daneben ist der Bergbausektor aber vor allem für viele BolivianerInnen eine wichtige Einnahmequelle. Einigen Schätzungen zufolge arbeiten 70 000 Menschen in den bolivianischen Minen, zusätzlich hängt das Einkommen von rund 300 000 Menschen indirekt vom Bergbau ab. Dies ist umso bedeutender, als die Arbeit in den Minen für viele BolivianerInnen oft ihre einzige Einnahmequelle ist. Hinzu kommt die wichtige politische Rolle der bolivianischen MinenarbeiterInnen. Sie zählen zu den am besten organisierten Bevölkerungsgruppen in Bolivien und begeben sich nicht selten bis in die Hauptstadt La Paz, um mit Dynamit und Straßenblockaden die Regierung unter Druck zu setzen.
Nachdem sich der Staat lange Zeit aus der aktiven Bewirtschaftung der Minen zurück gezogen hatte, steht nun unter Präsident Morales die Nationalisierung vieler Bergwerke wieder auf der Tagesordnung. Doch während die Unternehmen zwar öffentlich protestieren, schwelt ein viel grundlegenderer Streit. Genossenschaftlich organisierte ArbeiterInnen möchten die Organisation der Minen in ihrer Hand behalten, anstatt in der staatlichen Bergbaugesellschaft angestellt zu sein. Laut dem Dachverband der Bergbaukooperativen in Bolivien (FENCOMIN) sind rund 60 000 MinenarbeiterInnen in 454 verschiedenen „Kooperativen“ organisiert.
Die Entstehung der Bergbaukooperativen in Bolivien folgte einem bestimmten Muster. Der Preisverfall führte dazu, dass große Teile der Belegschaften von Bergwerkunternehmen entlassen und somit aus den Minen verbannt wurden. Diese Belegschaften schlossen sich aus Protest zusammen und blockierten Teile der Bergwerke, um sie selber zu bewirtschaften. Nach einigem Hin und Her erhielten sie bestimmte Bereiche von Bergwerken, oft aber gerade diejenigen, in denen die Förderung bereits zum Erliegen gekommen war. Nach diesem Muster wurden bereits 1929 Teile des Cerro Rico genossenschaftlich bewirtschaftet. Die Kooperativen haben also von jeher auf Protest und Militanz zurückgreifen müssen.
Nach der Revolution von 1952 sollten die Kooperativen zumindest auf dem Papier eine besondere Bedeutung in Bolivien bekommen. 1958 legte das Gesetz Ley General de Sociedades Cooperativas Grundsätze für Kooperativen fest, z.B. dass sie demokratisch und solidarisch organisiert sein müssten. Zusätzlich bestimmte das Gesetz, dass Minen im staatlichen Besitz von Kooperativen bewirtschaftet werden sollten. Tatsächlich aber war vor allem das staatliche Unternehmen Corporación Minera de Bolivia (COMIBOL) für die Minen verantwortlich. Die Bergbaupolitik änderte sich mit dem Umschwung zum Neoliberalismus in den 80er-Jahren. Bis 1994 wurde COMIBOL schrittweise aufgelöst, die Minen privatisiert und die Arbeiterschaft entlassen. Die entlassenen mineros und mineras drängten nun aber wieder in die Minen, wo sie meist Genossenschaften gründeten.
Es gibt keine einheitlichen Strukturen für die Kooperativen, vielmehr sind in den Minen Organisationsformen entstanden, die mitunter stark variieren. Die Art und Weise, wie sich die genossenschaftlichen Minen entwickelt haben, hängt von mehreren Umständen ab, von den Rohstoffvorkommen, den Weltmarktpreisen, der Art des Rohstoffverkaufs und der Möglichkeit, Kapital zu akkumulieren und zu investieren. Grob gesagt lassen sich zwei Formen von Minen bestimmen: zum einen kleine Kooperativen, die relativ neu sind und mit prekären Werkzeugen arbeiten. Diese Kooperativen müssen häufig Maschinen leihen und können ihre Produkte nur über Zwischenhändler verkaufen. Die ArbeiterInnen dieser Bergwerke können grundsätzlich kaum von ihrer Produktion leben. Zum anderen gibt es große Kooperativen in ertragreichen Minen, die über gute Maschinen verfügen und es geschafft haben, Zwischenhändler zu umgehen. Weil die Zwischenhändler oft versuchten, die BergarbeiterInnen zu betrügen und ihnen Teile ihres Gewinns streitig zu machen, haben die großen Kooperativen eigene Verkaufssysteme; die Rohstoffe werden zentral gesammelt und direkt an Unternehmen verkauft.
Gerade in den größeren Minen sind erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen ArbeiterInnen festzustellen. Das Problem liegt schon in der Art und Weise, wie die Gebiete in den meisten Minen verteilt werden. Jedes Mitglied der Kooperative (socio) erhält einen bestimmten Bereich, den nur er bewirtschaftet und dessen Erzeugnisse quasi ihm gehören. Nun gibt es aber in jeder Mine Bereiche, die besonders ertragreich sind, und Abschnitte, die sehr wenig abwerfen. Ob ein socio also hohe oder geringe Einkünfte hat, liegt nur an einem Faktor: Glück. Ist eine Mine erst einmal aufgeteilt, gibt es kein übergreifendes System zur Umverteilung mehr. In der Praxis bedeutet das: Wer ein schlechtes Feld in der Mine hat, steht ohne Einnahmen da. Daraus ergibt sich ein Teufelskreis. Bei socios mit geringen Einnahmen fehlt das Geld für Maschinen und ihre Situation bleibt schlecht. Socios mit hohen Einnahmen können bessere Maschinen kaufen und ihre Situation verbessert sich. Dadurch entsteht eine Hierarchie in der Mine, zum einen die reichen socios, die oftmals die Mine nicht einmal mehr betreten müssen, sondern nur Maschinen bereitstellen und ihre Gebiete bewirtschaften lassen.
Sie verfügen oft über größere Belegschaften und funktionieren nach der gleichen Logik wie ein Unternehmen. Diese socios gewinnen durch ihre Einnahmen ebenfalls an Einfluss innerhalb der Kooperative. So stehen die einflussreichen socios auch den Leitern der Kooperative nahe, die wiederum den Verkauf der Rohstoffe leiten. Die Entscheidungen der Kooperativen werden daher vor allem diejenigen begünstigen, die sowieso schon reich sind. Zusätzlich kommt es zu Allianzen mit privatem Kapital, das von außerhalb in die Mine investiert wird, als Kooperative getarnt.
Neben den reichen socios gibt es eine Kategorie von ärmeren socios, oftmals intermedios genannt. Sie sind zwar noch socios, aber gleichzeitig auch abhängig von den reicheren Mitgliedern. Sie arbeiten selbst in der Mine und müssen sich die Maschinen oft leihen. Zeitweise beschäftigen sie auch externe ArbeiterInnen, aber in erster Linie als Unterstützung für ihre eigene Arbeit. In einigen Minen, wie z.B. Potosí, gibt es zusätzlich noch trabajadores de segunda clase, angestellte ArbeiterInnen, die in Aussicht gestellt bekommen haben, socios zu werden. Ihr Status ist ähnlich dem der intermedios.
Hinzu kommt, dass es deutlich mehr Leute gibt, die Arbeit suchen, als es Plätze in den Kooperativen gibt. Dadurch entsteht die dritte Kategorie: LeiharbeiterInnen, die nicht wirklich Teil der Struktur der Kooperativen sind und meist nur temporär angeheuert werden. Ihre Gehälter reichen meist gerade für das Lebensnotwendige. Sie zahlen keine Abgaben an die Kooperative, sind dadurch aber auch von Mitbestimmung und Leistungen der Kooperativen ausgeschlossen.
Die prekäre Situation vieler ArbeiterInnen in den Minen spiegelt sich auch in der Sicherheit wider. Es gibt eine Reihe von Gefahren in den Minen, von mangelnder Absicherung bei Dynamitexplosionen bis hin zu toxischen Gasen. Während staatliche Minen Mindeststandards erfüllen, sind die ArbeiterInnen in den Kooperativen selbst für ihren Schutz verantwortlich, wenn sie es denn können. Nur wenige Kooperativen haben ein kollektives Sicherheitssystem. Dort, wo die Kooperativen besonders arm sind, wird die Sicherheit als erstes geopfert. In etwas reicheren Minen werden den ArbeiterInnen Ausbildungen angeboten, um sich gut abzusichern. Die Kooperative Chorolque gab z.B. 300 000 Bolivianos (32 600 Euro) aus, um die ArbeiterInnen mit Atemgeräten auszustatten. Dies ist aber eher ein Einzelfall.
Innerhalb der Bergbaukooperativen gibt es eine deutliche Diskriminierung gegenüber Frauen. Nur 10 Prozent der ArbeiterInnen sind weiblich; sie werden palliris genannt. Zusätzlich zum verbreiteten Machismo in Bolivien kommt ein besonderer Aberglaube, der behauptet, dass Frauen in den Minen Pech bringen: Ihre Anwesenheit würde Gold- oder Silberadern verschließen. Lange Zeit war es nur Witwen von Bergarbeitern erlaubt, Minen zu betreten. Die Situation hat sich ein wenig verbessert, dennoch gibt es nur wenige Kooperativen, in denen Frauen dieselben Rechte wie Männer haben.
Was passiert nun durch die Verstaatlichung? Die Position der Kooperativenmitglieder gegenüber den Verstaatlichungen ist keinesfalls eindeutig. Während der Proteste 2003 waren die BergarbeiterInnen (und unter ihnen auch die cooperativistas) ein wichtiger Bestandteil der Mobilisierungen, da sie zu den militantesten Sektoren der bolivianischen Gesellschaft gehören. Sie forderten ein Ende des Neoliberalismus, eine neue Verfassung, aber auch die Verstaatlichung der Rohstoffe und Minen. Nun scheint es in vielen Bergwerken soweit zu sein. Das Unternehmen COMIBOL wird wieder aufgebaut und viele ausländische Konzerne werden enteignet. Zum Teil besteht COMIBOL neben Kooperativen und streitet sich somit auch um Förderbereiche in den Minen. Zum anderen übernimmt COMIBOL einige Kooperativen. Das bedeutet, dass cooperativistas nun einen festen Lohn bekommen, der für alle gleich ist. Oftmals erhalten dadurch die ausgeschlossenen Personen Vorteile, während die reicheren cooperativistas ihre Stellung in der Hierarchie aufgeben müssen. In Huayani stieg die Anzahl der ArbeiterInnen dadurch von 800 auf 5000 Personen.
BergarbeiterInnen können in den staatlichen Minen nun nicht mehr mit viel Glück und hohen Weltmarktpreisen riesige Gehälter erzielen, dafür gibt es mehr Gleichheit und Sicherheit. Von daher liegt es auf der Hand, dass die Dachverbände der Minenkooperativen, die so stark gegen die Verstaatlichung wettern, tatsächlich nicht die prekären MinenarbeiterInnen vertreten, sondern letztlich die finanzstarken Interessen und ihre eigene Position als Verwalter, die von reichen socios bezahlt werden. Diese besondere Form der Kooperativen hat jedenfalls Hierarchien hervorgebracht, die nichts mehr mit gemeinschaftlicher Arbeit zu tun haben, sondern harte Ausbeutungsstrukturen verschleiern. Der Konflikt um Colquiri wurde zudem dadurch instrumentalisiert, dass der Konzern, der enteignet werden sollte (die Glencore-Tochter Sinchi Wayra) vorher schnell ihre Bergwerke an die Kooperativen übergab und sich dadurch Kaufrechte auf die Rohstoffe sicherte. Der Staat konnte dann nicht mehr das Unternehmen enteignen, wie er es eigentlich vorgehabt hatte, sondern musste die Kooperativen enteignen, die neue Einnahmequellen gewittert hatten.
Die Diskussion um die Rolle der genossenschaftlichen Minen wird in Bolivien sehr emotional geführt. Die Regierung pocht darauf, dass die Erträge des Erdreichs und damit der Minen allen gehören und sich nicht in den Händen weniger befinden sollten. Verschwiegen wird dabei, dass die Minen nur dann interessant sind, wenn sie Einnahmen erzielen; sobald sie ausbleiben, werden die ArbeiterInnen sich selbst überlassen. Eine Debatte darüber, dass die Organisation innerhalb der Kooperativen den Maßstäben von Kooperativen (auch nach bolivianischem Gesetz) nicht genügt, findet nicht statt. Es geht eben auch der Regierung nicht primär um die Arbeitsbedingungen in den Minen, sondern darum, den Staat ins Zentrum zu rücken und alle strategischen Sektoren der Wirtschaft zentral zu kontrollieren. Dabei stehen genossenschaftliche Ansätze im Weg. Um diese „Kooperativen“ in Bolivien ist es nun nicht besonders schade, um den Ansatz genossenschaftlicher Arbeitsorganisation hingegen schon.