Korruption – die eigentliche Konterrevolution

Morales wurde bekannt als Ökonom und als Leiter des Instituts für US-amerikanische Studien an der Uni Havanna und gehörte zum sehr überschaubaren Kreis cubanischer Intellektueller, die regelmäßig an US-Universitäten zu Gast waren. Zur Kennzeichnung der Geschichte der US-cubanischen Beziehungen sprach er von der „Theorie der reifen Frucht“. Und die reife Frucht Cuba fiel ja tatsächlich vom spanischen Baum direkt in den Schoß Washingtons, trotz formaler Unabhängigkeit. Daraus entwickelte sich laut Morales ein Besitzanspruchsdenken Washingtons, das bis heute andauert und durch die spätere Geschichte der Revolution nur noch weiter befeuert wurde. Die Fixierung vieler Cubaner*innen auf Miami und die USA sah er kritisch, denn diese befördere den absurden Vergleich der Lebenswirklichkeit eines unterentwickelten Landes mit der der mächtigsten Nation der Erde. Er sah eher die karibischen Inseln als kulturellen Bezugspunkt für Cuba, schon aufgrund der gemeinsamen
afrokaribischen Geschichte.

Kaum jemand befasste sich so intensiv wie Morales mit heiklen innenpolitischen Phänomenen wie der Korruption und der neuen sozialen Ungleichheit zwischen den Hautfarben, deren Ursprünge er in den Verarmungs- und Entsolidarisierungsprozessen der sogenannten „Sonderperiode“ der 1990er-Jahre verortete.

Sein Text „La corrupción en Cuba: ¿la verdadera contrarrevolución?“ erschien 2010 auf der Homepage des Künstlerverbands UNEAC und war eine Bombe. Morales präzisierte seine Haltung in einem Interview von 2016. Die Korruption sei ein heimlicher Angriff auf die normativen Grundlagen der Revolution. Sie untergrabe Präsenz, Potenziale und Prestige des Staates und damit die Steuerungsfähigkeit der Gesellschaft. Das hartnäckige Phänomen sei besonders gefährlich, wenn man es verschweige und nicht bekämpfe.

Esteban Lazo, Mitglied des Politbüros und heutiger Parlamentspräsident, war not amused. Über so etwas spreche man nicht in der Öffentlichkeit, denn das schade dem Ansehen Cubas. Dass es genau umgekehrt sein könnte und vielmehr die ewige Geheimniskrämerei Cuba Schaden zufügt, kam Lazo offenbar nicht in den Sinn und nicht nur ihm nicht; so eine Erkenntnis hätte ein dialektisches Denken erfordert, das man in Cuba nicht immer voraussetzen kann. Der Artikel verschwand von der Homepage und Lazo initiierte erfolgreich ein Parteiausschlussverfahren gegen Morales. Dass Morales somit ausgerechnet auf Betreiben eines anderen Afrocubaners die PCC verlassen musste, war bitter. Doch ein Jahr später äußerte sich Raúl Castro zur Korruption mit fast identischer Wortwahl wie Morales und sorgte gleichzeitig für die Wiederaufnahme in die Partei.

Morales‘ besonderes Interesse galt der Hautfarbe als Benachteiligungsfaktor. Der beispiellose soziale Aufstieg der Afrocubaner*innen durch Teilhabe an Bildung und sozialen Rechten kam in der Krise der 1990er-Jahre zum Stillstand. Nicht mehr die formale Bildung, sondern der Zufall –
etwa Kontakte nach oben oder ins Ausland – bestimmte nun die soziale Stellung. Afrocubaner*innen fielen wieder zurück und waren in zentralen Bereichen wie Politik, Medien und Tourismus ohnehin unterrepräsentiert. Für Morales bietet jedoch nur die jetzige politische Verfasstheit Cubas die Möglichkeit, Benachteiligung zu überwinden, es müsse aber der Wille da sein. Kritik am möglichen Einfallstor für ein Othering durch Betonung differenzierender Merkmale wie ethnische Herkunft etc. war seine Sache nicht. Vielmehr sei die Erfassung der Hautfarbe als Benachteiligungsindikator unabdingbar, um statistische Daten aussagekräftig zu machen und eine offene Diskussion über Ungleichheit zwischen den Hautfarben zu befördern, die durch die Revolution nur partiell korrigiert worden sei. Das Engagement zeigte Wirkung, schließlich konnte er sich über Fortschritte in der Sensibilisierung der Politik für das Thema freuen.

Der eigentlich so warmherzige Morales hatte keine Scheu davor, dicke Bretter zu bohren und dadurch nicht von allen geliebt zu werden. Unvergessen blieb auch sein Appell an die Freund*innen Cubas, dem Land nicht immer nach dem Mund zu reden, denn dadurch helfe man Cuba nicht.

Esteban Morales erlag mit 79 Jahren einem Herzinfarkt.