Es ist wirklich erstaunlich, was alles zwischen zwei Buchdeckel unter dem Thema lateinamerikanische ExilBilder passt: Kurzgeschichten von lateinamerikanischen SchriftstellerInnen, zum Teil erstmals übersetzt, Reflexionen von SchriftstellerInnen über ihr Exil, literaturkritische Analysen von WissenschaftlerInnen, Texte von und über bildende KünstlerInnen im Exil. Die Bandbreite reicht von zweiseitigen Interviews bis zu 20seitigen Essays, von höchst poetischer, quasi kondensierter Sprache bis hin zu ausführlichen Lebensbeschreibungen, von Gesprächen, Briefen, Fotos bis hin zu kompliziert gedrechselten Sätzen, die vor Fremdwörtern strotzen – letztere übrigens ausnahmslos von der wissenschaftlich-analytischen Seite und nur im Einleitungsteil.
Ein Gobelin, wie Mitherausgeberin Ana Maria Bieritz es nennt, ein bunter Teppich, das Angebot an die LeserInnen, sich zu bedienen, herauszuzupfen, gegenzulesen, selbst zusammenzustellen – und von daher äußerst gelungen. Das lateinamerikanische Kulturschaffen im europäischen Exil (das nordamerikanische, wie im Untertitel erwähnt, taucht eher am Rande auf) ist nach einem kurzen Interesse in den siebziger und achtziger Jahren hierzulande eher am Rande wahrgenommen worden. Exilliteratur, das ist im deutschen Sprachgebrauch vor allem die Literatur der von den Nazis vertriebenen SchriftstellerInnen. Wie groß die Bandbreite an schriftlicher und künstlerischer Auseinandersetzung mit Exil, Vertreibung, Entwurzelung, Heimatlosigkeit und Verortung von lateinamerikanischer Seite in und mit Deutschland und Europa ist – und wie erhellend und treffend und vergnüglich zu lesen das ist und wie viel das mit uns selbst zu tun hat, das alles wird in diesem Buch ans Licht gebracht. Wie gesagt, das Ganze ist ein Sammelsurium, eine Kunst- und Wunderkammer, wo man vielleicht ein Talmistück weglegt, eine Muschel ans Ohr drückt, um das Meer rauschen zu hören, und den verschlungenen Pfaden eines Labyrinthes folgt, um hinterher am Ausgangspunkt erstaunt einen alten Bekannten zu erblicken.
Auch die innere Aufteilung des Teppichs ist manchmal labyrinthisch: der erste Teil „Deutschland als literarischer Raum des Exils“ könnte auch mit BRD-DDR-Chile in den siebziger und achtziger Jahren überschrieben werden und enthält wunderschöne Geschichten und Interpretationen dazu, die nach weiterer Beschäftigung mit dem Thema drängen. Der zweite Teil ist den bildenden KünstlerInnen gewidmet: dem Fotografen Luis Cruz, der Aktionskünstlerin Cecilia Boisier und dem Graphiker Santos Chávez. Die meisten besprochenen Werke werden abgebildet, dennoch ist es eine literarisch-lebensgeschichtliche Auseinandersetzung mit den KünstlerInnen. Der dritte Teil, „Topographie des literarischen Exils“, scheint eher eine geographische Ausdehnung als eine inhaltliche Zusammenfassung zu meinen: Pablo Nerudas Exil in Mexico und Spanien, Ernesto Krochs Lebenswanderung zwischen Uruguay und Deutschland und die cubanische Exilliteratur in den USA werden hier zusammen mit einer Reflexion von Hernán Valdés über den Standort der in den siebziger Jahren im Ausland glorifizierten chilenischen Exilierten im Heute zusammengefasst. Warum, wissen die HerausgeberInnen.
Auch die Überschrift des vierten Teiles „Kulturelle Schaffensbedingungen im Exil“ ist nicht ganz schlüssig, denn dieses Thema zieht sich natürlich durch das ganze Buch. Aber hier finden sich zwei längere Artikel der ila-AutorInnen Erick Arellana und Julio Mendívil, die – beide zugleich künstlerische Ver(w)ortungen und politische „Reise“beschreibungen – mitten hinein in die Frage nach lateinamerikanischem Exil heute dringen. Denn sowohl Kolumbien als auch Peru bringen politisch Verfolgte hervor, aber keinen politischen Gegenentwurf, den die hiesige Linke bejubeln könnte. Identitätsprobleme, die Frage nach „unseren Kulturen“, der Verlust eindeutiger Zuordnungen und die Auflösung aller Sicherheiten haben Exilierte auch in der Vergangenheit begleitet, sind aber hier vorherrschend geworden. Oder – wie es Julio Mendívil als kleine Provokation aufwirft – das Konzept Exil wäre ohne den Gesamtdiskurs nationaler Identitäten (und das hurrapatriotische Geschrei der Nationalstaaten) nicht denkbar. Geht man diesen Gedanken weiter nach, so trifft die Frage des Exils, der Verortung und der Entwurzelung uns alle.
Der letzte Teil heißt „Sprachbilder/ Sprachwelten des Exils“, und hier sind alle Beiträge von Frauen zusammengefasst. Ob der Kehraus gewollt war oder nicht, so ergibt diese Zusammenstellung höchst interessante Gegenüberstellungen. Obwohl die vorgestellten Schriftstellerinnen Cristina Peri Rossi, Cristina Sicar, Ana Vásquez Bronfman von ihrer Biographie her in die Phase der lateinamerikanischen Diktaturen und ihrer Exilierten passen und sich ihre Werke auch mit dieser Exilerfahrung befassen, so führt die Lektüre ihrer Romane in eine Welt, in der die eigene zu einer fremden wird. Die Ablehnung, sich durch nationale Zuordnungen festlegen zu lassen oder sich diesen sogar radikal zu widersetzen (Julio Mendívil), führt in der Genderperspektive der Interpretin Susanne Dölle dazu, das angebliche Paradies, aus dem die Exilierten vertrieben wurden, als Traumbild zu erkennen, das in Wirklichkeit ein Schlachtfeld der Machtkämpfe zwischen Mann und Frau, von Mensch(en) gegen Mensch(en) war und ist und überall ist. Lateinamerikanisches Exil in Europa – die Erfahrungen von Brüchen und Veränderungen, Herausforderungen und Horizonterweiterungen durch das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft – wird zur Metapher für die Lebensbedingungen der Gegenwart.
Sebastian Thies, Susanne Dölle, Ana Maria Bieritz (Hrsg.): ExilBilder : lateinamerikanische Schriftsteller und Künstler in Europa und Nordamerika. Berlin: edition tranvia 2005, 280 Seiten, 22,- Euro