Nachdem sie bereits im März 2010 den Oscar-Romero-Preis bekommen hatte (vgl. ila 334), erhielt die Menschenrechtsinitiative MediNetz Bonn im Sommer zwei weitere Auszeichnungen, im Juli 2010 die Sebastian-Dani-Medaille der SPD-Ratsfraktion und zwei Monate später den Integrationspreis der Stadt Bonn, der am 4. September im Rahmen des jährlichen interkulturellen Kultur- und Begegnungsfestes verliehen wurde. Als Reaktion auf den menschenverachtenden Zustand, dass Flüchtlingen ohne Aufenthaltstitel in Deutschland das Grundrecht auf medizinische Versorgung verweigert wird, wurde MediNetzBonn im Sommer 2003 gegründet.
Allein für die internationale Stadt Bonn schätzt man die Zahl der Menschen ohne Aufenthaltsstatus auf ca. 4000. Sie leben hier in der Illegalität. Ihr bloßer Aufenthalt ist nach deutschem Rechtsverständnis Straftatbestand, also ein kriminelles Delikt. Ihnen allen ist deshalb eines gemeinsam: die ständige Furcht vor Entdeckung, Denunziation und Abschiebung. Die bundesdeutsche Gesellschaft profitiert von diesen Ausgegrenzten ohne Papiere, denn die meisten arbeiten in Haushalten, in der Kinderbetreuung, als Putzhilfen, in der Pflege alter und kranker Menschen, einige auch in der Gastronomie oder auf dem Bau. Ihre Bezahlung liegt weit unterhalb der üblichen Tarife und entbehrt jeder sozialen Absicherung.
Zwar haben Menschen ohne Papiere auch soziale Rechte, und die Menschenrechte gelten auch für sie. Aber diese Rechte lassen sich nur mit dem Risiko, als „Illegale/r“ denunziert und abgeschoben zu werden, in die Praxis umsetzen. Krankheit wird für diese Menschen daher zu einem Sicherheitsrisiko und zu einer privaten Katastrophe: sie können keine Krankenversicherung abschließen, da jeder behördliche Kontakt mit einer Überprüfung der Personalien verbunden ist. Häufig wird deshalb im Krankheitsfall zunächst eine Eigenbehandlung versucht. Erst wenn eine professionelle Behandlung unvermeidlich geworden ist, wird meist auf Privatrechnung und unter falscher Identität eine Arztpraxis aufgesucht. Um eine notwendige und unaufschiebbare Behandlung bezahlen zu können, verschulden sich die kranken Menschen dann oft bei ihren ArbeitgeberInnen, Bekannten oder Verwandten oder aber müssen die Behandlung aus Kostengründen wieder abbrechen.
Angesichts dieser Situation versucht MediNetzBonn diesen Menschen eine qualifizierte medizinische Behandlung zugänglich zu machen und sie im Krankheitsfall aufzufangen. Menschen, die sonst keine Hilfe bekommen würden. Dem Verein MediNetzBonn ist es gelungen, ein tragfähiges Netz, bestehend aus einer Vielzahl von in Heilberufen tätigen Personen, aufzubauen und mit diesem großen Kreis von bereitwilligen Fachkräften eine kostenlose medizinische, psychologische und zahnmedizinische Behandlung für Flüchtlinge ohne Papiere bzw. Menschen mit unsicherem Aufenthaltsstatus zu gewährleisten.
Am 2. Februar 2004 wurde mit der Vermittlungs- und Beratungstätigkeit begonnen. Seitdem besuchen jeden Montag im Durchschnitt sechs bis zehn PatientInnen die MediNetz-Sprechstunde, die im Archivraum der ila im Bonner Oscar-Romero-Haus abgehalten wird. Insgesamt kamen seit Beginn der Vermittlungstätigkeit 2838 kranke Menschen in die MediNetz-Sprechstunde und wurden an qualifizierte HeilberuflerInnen vermittelt. Die Skala der Vermittlungen reicht von der Überweisung zu AllgemeinmedizinerInnen wegen Magenschmerzen über Zahnschmerzen, orthopädische Leiden, Schwangerschaftsbetreuungen und Geburten bis hin zu lebensrettenden Operationen, z.B. bei einem perforierten Blinddarm, einer perforierten Gallenblase oder bei Krebserkrankungen.
Im Laufe von nunmehr gut sechseinhalb Jahren wurde MediNetz so im Bonner Raum für Flüchtlinge zur etablierten Anlaufstelle – nicht nur in Fragen medizinischer Hilfe. Alle beteiligten HeilberuflerInnen arbeiten unentgeltlich. Dennoch entstehen z.T. erhebliche Kosten für aufwändige Diagnostik oder Medikamente, die die PatientInnen nicht selber bezahlen können, für Krankenhausaufenthalte, Operationen, die Betreuung von Geburten, Impfungen für Kinder etc. Diese werden ausschließlich aus Spendengeldern finanziert. Ausgehend von der Überzeugung, dass Menschenrechte wie die auf Gesundheit, Schulbildung für Kinder, gerechten Arbeitslohn etc. auch für Menschen ohne gültigen Aufenthaltstitel zu gelten haben, weil sie über Fragen des Aufenthaltsrechtes stehen, beschränkt sich MediNetzBonn nicht auf die Beratungs- und Vermittlungstätigkeit, sondern versucht durch politische Arbeit eine breitere Öffentlichkeit für diese Problematik zu schaffen.
Es ist auf Dauer nicht hinzunehmen, dass eine Initiative wie das Bonner MediNetz und die kooperierenden HeilberuflerInnen mit Hilfe von Spenden diese medizinische Versorgung zu leisten versuchen. Die praktische Arbeit ist keine Lösung, sondern nur ein notwendiges Provisorium in einer inakzeptablen Situation. Daher setzt sich MediNetzBonn für die bundesweite Einführung eines anonymisierten Krankenscheins ein, der Menschen ohne Aufenthaltstatus den vollen Zugang zur Regelversorgung sowie die freie Arztwahl ermöglicht. Und damit würde MediNetz dann auch endlich überflüssig werden, wie wir es uns bei der Gründung vor sieben Jahren vorgenommen hatten. MediNetz hofft, dass die Öffentlichkeit anlässlich der Preisverleihungen den politischen Forderungen nach einem freien Zugang zum deutschen Gesundheits- und Bildungssystem für alle hier lebenden Menschen etwas Nachdruck verleihen wird.