In tropischen Gebieten greifen Bauern und Bäuerinnen bis heute auf eine sehr alte, präkolumbische Methode zurück, um aus kargen Böden Ertrag zu ziehen. Sie säubern ein Stück Land von seiner Vegetation, beackern es und ernten, lassen es dann für einige Jahre brach liegen, roden ein neues Stück Land und beginnen von vorn. Die Ruhepausen und die Beachtung einer komplementären Fruchtfolge ermöglichen es, zu den jeweiligen Feldern zurückzukehren und sie wiederum zu bebauen. Diese Form des Ackerbaus, der an widrige Gegebenheiten angepasst ist, nennt man Brandrodung, in Zentralamerika Roza, tumba, quema. So auch der Name von Claudia Hernández‘ Roman von 2017. Brandrodung ist Claudia Hernández‘ literarisches Prinzip.
Jedes der 40 Kapitel des Buchs ist wie eine durch Brandrodung entstandene Parzelle. Jede der nur wenige Seiten umfassenden Miniaturen steht für sich und hat doch mit allen anderen zu tun. Sie beschreibt eine neue Phase eines immerwährenden Überlebenskampfs, der gleichzeitig ein Vorher, ein Nachher und ein Jetzt ist. Die meistbenutzte Zeitform ist das Präsens, aber es gibt auch Kapitel im Futur, die schon geschehen sein können, oder in einer Vergangenheit, die vielleicht erst noch sein wird. Die erzählten Geschichten weisen nach vorne oder nach hinten, ergänzen sich, so wie der Bauer oder die Bäuerin ein verlassenes Feld neu bestellt, wenn die Zeit gekommen ist. Adjektive sind gänzlich abwesend. Es wird nichts ausgemalt, die Bestandsaufnahme ist nüchtern, wie der Ackerboden karg ist. Niemand hat einen Namen. Auch dies ist sinnbildlich: Es geht um Situationen, in die Tausende Kämpfer*innen geraten sind. Die Protagonistin ist lediglich „ella“ (dt. „sie“), ihre Töchter sind die Erstgeborene sowie Erste, Zweite und Dritte, die bei ihr aufgewachsen sind.
Die vier Töchter stammen von mehreren Compañeros, jeweils Lebensabschnittsgenossen. Zwei starben während oder wegen des Kriegs, einer ging mit einer anderen Frau weg. Drei Töchter wachsen gemeinsam mit der alleinerziehenden Mutter auf, ein Spiegel der salvadorianischen Realität.
Erst in der zweiten Reihe stehen männliche Familienmitglieder. Alle sind tot und treiben so auch nicht die Handlung voran. Für den Fortgang des Geschehens dagegen wichtig sind Großmütter und ehemalige Mitkämpferinnen. Dass alle Hauptpersonen Frauen sind, fast alle aus derselben Familie stammen und bisweilen offenbar ihre Rollen vertauschen, verwirrt die Lektüre und klärt sie zugleich. Wie bei der Brandrodung geht es eben darum, immer wieder neu anzufangen, das Beste aus dem wenigen Vorhandenen zu machen, sich zu stützen und zu ergänzen.
Und so wie der einmal gerodete Boden in tropischen Gebieten mager ist, liefert der Roman nicht die großen Informationen über Krieg und Nachkriegszeit in El Salvador. Es gibt keine Massaker und großen Siege. Der eigentliche Plot ist nicht mehr als dies: Ein junges Mädchen geht in die Guerilla. Im Laufe der Jahre bekommt sie dort vier Töchter, von denen ihr die erste abgenommen und ohne ihr Wissen ins Ausland verkauft wird. Nach dem offiziellen Ende des Krieges kämpft sie einen anderen Kampf, den um ein würdiges Leben für sich und ihre Töchter. Das ist nur auf den ersten Blick unspektakulär. Denn die Kapitel holen aus dem vermeintlich dürren Handlungsboden eine Unmenge an Einblicken in Krieg und Nachkriegszeit heraus, die jede Polemik vermeiden. Dennoch machen sie jedes Heldenepos, sei es über die Vaterlandsrettung durch das Heer oder die Vaterlandsbefreiung durch die Guerilla, buchstäblich lächerlich. Allerdings macht Claudia Hernández die Männer selbst nie lächerlich. Der männlichen Heroisierung setzt die Autorin den stillen, beharrlichen, nicht patriarchalischen, eben den Frauenblick entgegen.
Zuerst einmal haben Frauen im Krieg mit der Waffe gekämpft, auch wenn Männer, egal ob Soldaten oder Guerilleros, sie lieber als Sexobjekte und Uniformwäscherinnen unter sich missbrauchen wollten. Sich zu behaupten war nie einfach. Oft gab es Situationen, in denen die Protagonistin nur durch („männlich“ konnotierten) Mut einer Vergewaltigung entkam. Gewalt und Vergewaltigung waren im Krieg und sind auch im Frieden allgegenwärtig. Claudia Hernández betreibt allerdings keine Viktimisierung der Frauen, sie sind nie Opfer. Die Mutter bringt ihren Töchtern das Schießen bei und lässt sie aus gutem Grund nie allein. In der Ex-Guerillero-Siedlung, in der sie lebt und eine Mehlmühle betreibt, wird sie nicht nur bestohlen und hat daher finanzielle Einbußen hinzunehmen. Ein Mann und später dessen Sohn, stellvertretend für viele, stellen ständig Mädchen und Frauen nach, nicht zuletzt, um sie zu erniedrigen. Selbst der verheiratete Ortsvorsteher, ein früherer Compañero aus den Bergen, versucht die Protagonistin zu seiner Geliebten machen. Als sie sich der von ihm erwarteten Rolle verweigert, bestraft er sie durch Übergehen bei staatlichen Zuwendungen. Der Roman brandmarkt indessen nicht einfach die Männer, das wäre vereinfachende Schwarz-Weiß-Malerei. Statt solch einer indirekten Bestätigung der herrschenden Auffassung, der zufolge die Männer stark und gewalttätig sind, steht hier das patriarchale System am Pranger, das auch viele Frauen verinnerlicht haben. Im Dorf, und selbst in der Siedlung der Ex-Kämpfer*innen, heißen viele Frauen die Wünsche der zweiten Tochter, Medizin zu studieren, nicht gut. Starrsinnig, oder prinzipienfest wie die Mutter, boxt sie sich als Landei in der fremden Hauptstadt durch, fällt aufgrund ihrer mangelhaften Provinzvorbildung im universitären Hauptstadtmilieu durch, steht doch wieder auf und setzt am Ende ihr Studium im Ausland fort. Nachbarinnen und Verwandte, die ohnehin den ehemaligen Kämpfer*innen misstrauen, reden der Mutter immer wieder zu, den Töchtern doch einen Mann zu suchen, damit sie ihre Erfüllung darin fänden, Kinder zu kriegen und den Gatten zu bekochen. Die älteste der bei der Protagonistin aufgewachsenen Töchter lässt sich dadurch tatsächlich von ihrem Studium abbringen und heiratet. Erst später stellt sie fest, dass das nicht das Richtige war. Dauerhaftes Miteinander, ja Liebe zwischen Männern und Frauen ist in diesem Roman (in dieser Realität?) ein seltenes Gut.
Neid und Missgunst sowie der permanente Verdacht, am Tod von Angehörigen schuld zu sein, sind dagegen in der Siedlung der Ex-Kämpfer*innen allgegenwärtig. Manche Großeltern vermuten hinter jedem Besuch einen getarnten Versuch, Geld für Kinder einzuheimsen, die nicht vom eigenen Sohn sind. Die Welt ist nicht besser, nicht sozialer geworden. Auch deswegen sieht die Protagonistin die Guerilla-Zeit in den Bergen als gescheitert an, wählt nicht einmal die Partei, die aus der Guerilla hervorgegangen ist. Den Kampf um Unterstützung für ehemalige Kämpfer*innen gibt sie auf, da sie sich trotz ihres Hörschadens nicht für versehrter hält als andere. Auch die Erniedrigungen im Bewilligungsverfahren hält sie nicht mehr aus.
Bemerkenswerterweise gibt es in diesem Roman nur einen einzigen Ortsnamen: Paris. Ein Ort der Wünsche und Projektionen. Im Roman jedoch steht er für das Ende von Illusionen. Nach Paris verkauft wurde die älteste Tochter der Protagonistin, nachdem sie diese in den Bergen geboren, auf Geheiß der Kommandanten ab- und, wie sie dachte, in Pflege gegeben hatte. Nach dem Krieg ist das Kind einfach weg, von Nonnen verkauft (Kirchenleute sind an anderer Stelle übrigens auch große Unterstützer*innen des Befreiungskampfes). Als die Mutter die verschwundene Tochter endlich findet und zu ihr reist, will diese nichts von ihr wissen, ist ohnehin depressiv. Die Mutter, die das Geld für den Transatlantikflug nur unter großen Schwierigkeiten hat zusammenbringen können, kann diese Erkenntnis nur schwer verkraften. Viel später – oder zumindest am Ende der Buchlektüre – nimmt sie symbolisch Abschied von der Tochter und gleichzeitig von der gerade gestorbenen Mutter. Wiederum ein zirkuläres Element, das Inhalt und Form des Buchs vereint.
Die schmerzliche Suche nach im Krieg zwischen 1981 und 1992 geraubten Kindern von Guerilleras oder aus gebrandschatzten Dörfern ist in El Salvador eine traurige, ja oftmals dramatische Realität. In El Salvador waren es Tausende Kinder, von denen 435 inzwischen gefunden wurden. Maßgeblich hierfür war die unermüdliche, oft bedrohte Arbeit der Organisation „Pro Búsqueda“ (siehe u.a. ila 371, 350, 331). Der Roman setzt deren Suche und Mitarbeiter*innen ein kleines Denkmal. Viele Eltern und Kinder haben tatsächlich eine ähnlich schwierige (Nicht-) Beziehung, wie sie der Roman beschreibt, selten war die Wiederbegegnung – oft über Kontinente hinweg – einfach.
Es war der Verlag „Laguna Libros“ in Kolumbien, der Claudia Hernández nahelegte, die 40 Geschichten des Buchs einen „Roman“ zu nennen. Nach fünf Bänden mit Erzählungen ist „Roza, tumba, quema“ damit der erste Roman der 1975 geborenen salvadorianischen Erzählerin, die 2004 mit dem Anna-Seghers-Preis ausgezeichnet wurde. Keine Frage, dass dieser Roman unbedingt übersetzt werden muss. Als literarischer Genuss und als Anleitung, den salvadorianischen Prozess zu verstehen. Interessanterweise wurde der Roman nach seiner Vorstellung auf der Buchmesse von Bogotá 2017 mehrfach als wichtiger Schlüssel für den gegenwärtigen Friedensprozess in Kolumbien bezeichnet. Auch dort ist der Frieden offiziell beschlossen und der Krieg weiterhin allgegenwärtig. Die Protagonistin von „Roza, tumba, quema“ vergisst das in keinem Moment und ist für alle Fälle bestens gewappnet. Dass die Leser*innen dies am Ende der Lektüre ebenfalls erfahren, macht aus den 40 Geschichten eben einen einzigartigen Roman.