Kriegsmaschine, Gefängnis und Fabrik

Sklaverei ist für uns eine weitgehend historische Angelegenheit. Das Thema scheint weit weg zu sein, verriegelt in der Geschichte. Begrenzt ist unser Wissen über viele afrikanische Bevölkerungsgruppen, ihre Sprachen und Lebensweisen oder über ihre Herkunftsorte, wie etwa den Senegal, Gambia oder die Goldküste, aus denen sie verschleppt und an Plantagen in den Amerikas und der Karibik verkauft wurden. Das vor Kurzem im Verlag Assoziation A erschienene Buch des US-amerikanischen Historikers Marcus Rediker, „Das Sklavenschiff“, legt uns eine Geschichte vor, wie sie sich in 400 Jahren zwischen den afrikanischen und amerikanischen Häfen abspielte, eine wortgewaltige und schmerzhafte Geschichte von unten. Durch die Augen von Protagonist*innen und die Erinnerung von Antagonist*innen kann die Geschichte dieses Zivilisationsbruchs betrachtet werden, dessen schmerzhafte Folgen bis in unsere Gegenwart hinein unbearbeitet sind. Irgendwie ein Klotz am Bein: Reparationen, Wiedergutmachung, Gedenken – weit gefehlt.

Viele Jahre arbeitete ich in brasilianischen Favelas. Meist war ich der einzige Weiße weit und breit. Ein großer Teil der Favela-Bewohner*innen sind Nachfahren der fünf Millionen Versklavten, die mit ihrer Sklavenarbeit Brasilien das Tor zur Zivilisation öffneten. Redikers Schwerpunkt liegt indes auf dem angloamerikanischen atlantischen Sklavenhandel des 18. Jahrhunderts. Eine wichtige Rolle spielte hierbei die „Middle Passage“[fn]In der Geschichtsschreibung wird der Sklavenhandelsweg als Middle Passage bezeichnet, weil sie die mittlere Etappe einer dreiteiligen Reise war, die in Europa begann und endete. Die erste Etappe beinhaltete eine Ladung, die häufig Eisen, Stoff, Brandy, Schusswaffen und Schießpulver umfasste.[/fn], über die 14 Millionen Versklavte jeden Geschlechts und Alters den sich globalisierenden Kapitalmärkten zugeführt wurden. Rediker trägt wissenschaftliche Erkenntnisse zusammen, Tagebücher, Biografisches, Manifeste, Gedichte. Er schildert die Entwicklung der abolitionistischen Bewegung, die 1807 in England zum Verbot des Sklavenhandels, aber erst 1834 zur Freilassung aller Versklavten in den Kolonien des britischen Empires führte. In Brasilien geschah dies erst 1888. Heute, im 21. Jahrhundert, hören wir den Aufschrei US-amerikanischer Autor*innen, die die Sklavenbefreiung anzweifeln. Ihr bedeutendster Vertreter ist Frank B. Wilderson III mit seinem bahnbrechenden Werk „Afropessimismus“ (siehe auch ila 462).

„Das Sklavenschiff“ ist eine oft schmerzhafte Lektüre. Der Bericht offenbart immer wieder unerträgliche Details über Grausamkeiten, die man sich nicht vorstellen will. Liegt das tatsächlich in unserer Natur? Rediker erforscht den Ursprung des Kapitalismus und der Globalisierung, bei dem mit dem Sklavenschiff „ein riesiges, komplexes, technologisch ausgeklügeltes Folterinstrument“ in Gang gesetzt wurde. „Tausende von Sklavenschiffen haben den Atlantik überquert, Millionen von Gefangenen zu den Plantagen der Neuen Welt transportiert und zur Entstehung einer mächtigen kapitalistischen atlantischen Ökonomie beigetragen.“ Das Sklavenschiff, ein schwimmendes Imperium, ist eine „machtvolle Kombination aus Kriegsmaschine, mobilem Gefängnis und Fabrik“. Versklavte sind unter Deck auf weniger als einem Quadratmeter eingelagert und mit anderen zusammengekettet, deren Sprache sie bisweilen nicht verstehen. Unter der Herrschaft von Kapitän und Offizieren schuftet die freie Lohnarbeit auf dem Schiff, vom Schiffsjungen bis zum Vollmatrosen, die ihrerseits die Versklavten misshandeln. Schließlich der Kapitän, der ein absolutistischer Alleinherrscher ist: „Zu der langen Liste der Rollen, die der Sklavenschiffskapitän in der schnell wachsenden kapitalistischen atlantischen Ökonomie innehatte, muss eine weitere hinzugefügt werden: Terrorist.“

Rediker berichtet ebenso vom Widerstand der Versklavten. „Der atlantische Sklavenhandel war in gewisser Hinsicht ein vierhundert Jahre langer Hungerstreik.“ Mit Peitsche und brutaler Zwangsernährung wurde alles getan, damit die Investition Sklave erhalten blieb. Bisweilen gelang den Versklavten eine offene, oft blutig verlaufende Revolte. Immer wieder schafften sie es, über Bord zu springen, hinab zu den gierigen Haien, die dem Sklavenschiff über den ganzen Atlantik folgten. Selbstmord war ein radikales Nein zur Deformierung eines freien Menschen in mobiles Eigentum, in eine Ware. Trotz scheinbar unüberwindbarer Grenzen entwickelten angekettete Sklaven im bestialisch stinkenden Unterdeck neue Sprachen, kulturelle Praktiken, Bindungen sowie die Grundlage für neue Gemeinschaften. Ein Epos des Widerstands in einem barbarischen Universum, das Mut macht.