Im Jahr 2020 erschienen in Deutschland gleich zwei autobiografische Bücher der afrokaribischen Autorin Maryse Condé. In „Mein Lachen und Weinen“ reflektiert sie ihre Kindheit und Jugend in Guadeloupe, in „Das ungeschminkte Leben“ schreibt sie über die Studienzeit in Paris, vor allem aber ihre Jahre in den gerade unabhängig gewordenen afrikanischen Staaten Guinea, Ghana, Elfenbeinküste und Senegal, wo sie zwischen 1959 und 1970 lebte (siehe Besprechung in der ila 440). Nun ist im Trierer Litradukt Verlag das dritte ihrer Erinnerungsbücher erschienen, das den Bogen vom Beginn der 1970er-Jahre bis zum Beginn der 2010er-Jahre spannt.
Die genannten Bücher sind jedoch keine dreibändige Autobiografie der 1937 als Maryse Bocoulon geborenen Autorin. Am ehesten könnte noch der Band „Das ungeschminkte Leben“ als klassisch chronologischer Lebensbericht durchgehen. Dagegen versammelt „Mein Lachen und Weinen“ 17 Erzählungen, die zusammen ein lebendiges Bild der ersten beiden Lebensjahrzehnte der Autorin zeichnen und gleichzeitig die gesellschaftlichen Strukturen und Geschlechterverhältnisse im kolonialen Guadeloupe veranschaulichen.
Der 2015 im französischen Original erschienene und nun auf Deutsch vorliegende Band „Köstliches und Kostbares“ mit dem Untertitel „Kulinarische Reisen“ ist wieder völlig anders. Tatsächlich geht es in dem Buch unter anderem um gutes (und manchmal auch schlechtes) Essen und auch um zahlreiche Reisen Maryse Condés zu Symposien, Vorträgen und Lesungen auf der ganzen Welt. Es ist aber mitnichten eines dieser Bücher, in denen Autor*innen Geschichten erzählen, sich zu ihrer Leidenschaft fürs Kochen bekennen und deshalb in jedes Kapitel einige Rezepte einbauen. Die werden wahrscheinlich selten nachgekocht, weil geöffnete Romanseiten beim Kochvorgang eher hinderlich sind.
Als ich mich vor vielen Jahren mit einer lettischen Freundin über Literatur unterhielt, hatte ich gerade einige Bücher chinesischer Autor*innen gelesen. Ich weiß nicht, ob es Zufall war, aber mir war aufgefallen, dass in all diesen Texten Essen eine große Rolle spielte und die mitunter sehr sinnliche Beschreibung von Mahlzeiten (nicht von Rezepten) breiten Raum einnahm. Die Freundin, eine Kennerin der Literatur der ehemaligen UdSSR, meinte, in der Literatur der sowjetischen Republiken sei ebenfalls gelegentlich vom Essen die Rede gewesen. Aber bei den Titeln, die ihr spontan einfielen, hätte die Beschreibung dessen, was die Leute zu sich nehmen, vor allem dazu gedient, soziale Unterschiede sichtbar zu machen. Mit dem Schreiben über Mahlzeiten können also unterschiedliche Dinge ausgedrückt werden: persönliche Erinnerungen, emotionale Erfahrungen, familiäre Konstellationen, soziale und ethnische Hierarchien, nationale Vorlieben, koloniale Verhältnisse, religiöse Traditionen, ja sogar politisch-ideologische und ästhetische Positionen. Um vieles davon geht es auch in Maryse Condés Buch „Köstliches und Kostbares“.
Beginnen wir vielleicht mit dem Letztgenannten und seiner doppelten Bedeutung. Maryse Condé ist kulinarisch alles andere als eine Puristin. Die Auffassung, dass ein Gericht nur auf eine ganz bestimmte Art zubereitet werden darf, um authentisch kostbar zu sein, ist ihr ein Graus. Beim Kochen ist für sie alles erlaubt, was schmeckt. Das ist dann im zweiten Sinne kostbar. Es gibt keine kulinarischen Glaubenssätze.
Dabei ist die Zubereitung von spannenden Gerichten unbedingt ein kreativer Prozess. Die Autorin stellt sie sogar auf die gleiche Stufe wie das Schreiben. Dies hätten literarische Freund*innen immer wieder empört zurückgewiesen. Schreiben sei Kunst, Kochen nur Alltagsbeschäftigung. In ihrer Ablehnung solcher bildungsbürgerlichen Hierarchien hätte sich die Opernliebhaberin Maryse Condé sicher bestens mit dem italienischen Komponisten und (undogmatischen) Kommunisten Luigi Nono verstanden, der einmal sagte, einen guten Streik zu organisieren sei genauso schwierig und aufwändig, wie eine gute Oper zu schreiben. Nono hat in seinem sehr produktiven kompositorischen Leben nur drei Opern fertigstellen können …
Auch zu der in postkolonialen und linksliberalen Kreisen in den letzten Jahren heftig diskutierten Frage der kulturellen Aneignung vertritt Maryse Condé aus kulinarischer Perspektive eine ganz klare Position: „Woher auch immer wir kommen, wir haben das Recht, uns ein Gericht anzueignen. Ob wir es unverändert nachkochen oder beliebig variieren. Gerichte haben keine Nationalität. Sie sind nicht für eine geschlossene Gesellschaft bestimmt, sondern stehen jeder und jedem zur freien Verfügung.“ (S. 71f.)
Das Buch „Köstliches und Kostbares“ (es enthält übrigens kein einziges Rezept) beschränkt sich allerdings keineswegs auf Maryse Condés – wir ahnen es: köstliche – Schilderungen, wie sie klassische Gerichte variierte und damit Gäste, die gerne ihre Einladungen zu Abendessen annahmen, entweder empörte oder begeisterte. Es zeigt vor allem die scharfe, hellsichtige Beobachterin, die in der Lage ist, anhand kleiner Episoden oder Erlebnisse mehr über die politischen und gesellschaftlichen Strukturen eines Landes oder einer Region auszusagen, als ganze Bücher das vermögen. Dabei geht sie meist von eigenen Erfahrungen aus. So erfasst sie die nach wie vor tiefe ethnische Segregation der südafrikanischen Gesellschaft anhand der Reaktionen von Südafrikaner*innen unterschiedlicher Hautfarbe auf ihr gemeinsames Erscheinen mit ihrem weißen Lebensgefährten. Oder den sowohl durch die Hautfarbe als auch die soziale Herkunft geprägten Rassismus der indischen Gesellschaft über ihre demütigende Behandlung als schwarze Frau, die allein wegen ihres Aussehens zu einer niederen Kaste oder gleich zu den Dalits, den noch schlechter angesehenen Kastenlosen, gehören müsse. Oder die Abgrenzung der afroamerikanischen Community in den USA gegenüber Menschen aus der Karibik oder Afrika, die nicht die gleichen Formen der Diskriminierung wie die schwarzen US-Bürger*innen erlebt haben.
Spannend sind auch die Fragen, die sie aufgrund ihrer Beobachtungen aufwirft. Am stärksten hat mich eine Bemerkung zur Gewalt und Alltagskriminalität im Post-Apartheid-Südafrika beschäftigt: „Hatte die furchtbare Gewalt, die das Land seit dem Ende der Apartheid entstellte, ihren Ursprung nicht zum Teil auch in der befohlenen Vergebung und Versöhnung? Da sich das Volk nicht an seinen einstigen Peinigern vergreifen durfte, wandte es sich, in einem Akt der Selbstverstümmelung, gegen die eigenen Leute. Wahrscheinlich musste die Gefahr eines Bürgerkriegs gebannt werden, aber standen denn keine anderen Mittel zur Verfügung?“ (S. 154). Die „friedliche Überwindung der Apartheid“ wird bis heute weltweit als Erfolgsgeschichte gefeiert. Kritische Fragen, wie die von Maryse Condé, die, wie sie betont, auf die Gedanken ihres „geistigen Vorbilds“ Frantz Fanon zurückgehen, passen nicht in dieses Bild. Die Autorin wollte sie eigentlich dem damaligen südafrikanischen Präsidenten Nelson Mandela stellen. Doch das Treffen kam leider nicht zustande. Es wäre sehr interessant gewesen zu lesen, was Mandela dazu gesagt hätte.
War ihr Buch „Das ungeschminkte Leben“ über weite Passagen als Leidensgeschichte einer mehrfach ausgegrenzten und mit zutiefst verletzender männlicher Ignoranz konfrontierten Frau zu lesen, ist der Grundton in „Köstliches und Kostbares“ ein überwiegend positiver. Als Autorin und Hochschullehrerin, vor allem an US-amerikanischen Universitäten, war sie nunmehr, anders als in früheren Lebensphasen, finanziell abgesichert und außerdem bei den Studierenden beliebt. Zudem wuchsen ihr Ansehen und ihr Bekanntheitsgrad als Autorin kontinuierlich. Sie lebte, als sie das französischsprachige Original des Buches fertigstellte, seit Jahrzehnten in einer nach eigener Beschreibung sehr befruchtenden und bereichernden Beziehung.
Dennoch gibt es einen Schatten in ihrem Leben, nämlich das Verhältnis zu ihrem 1997 verstorbenen Sohn Denis, auf das sie immer wieder eingeht und dabei auch sehr offen über ihr eigenes Fehlverhalten, konkret ihre Homophobie, schreibt. Anders als ihre drei Töchter sei Denis als kleiner Junge schüchtern und zart gewesen, was sie „unmännlich“ fand. Deshalb habe sie ihn in Zeltlager und Kurse geschickt, wo er Schwimmen, Leichtathletik und Boxen lernen sollte. Er habe das gehasst, sei aber hingegangen, um ihre Erwartungen zu erfüllen. Als er ihr als Jugendlicher eröffnet habe, dass er schwul sei, habe sie mit Ablehnung reagiert. Über Jahre hätten Mutter und Sohn danach keinen Kontakt gehabt. Sie habe nur gehört, dass Denis in der Elfenbeinküste lebe, wo er teilweise aufgewachsen war.
Ihre Homophobie habe sie erst überwunden, als sie in den USA lehrte. Anfangs hätten sie die vielen Schwulen und Lesben, etwa in Berkeley, gestört. Sie hätten sie schmerzhaft an ihren verlorenen Sohn erinnert. Mit der Zeit habe sie begriffen, dass dieselben Leute, die gegen Schwarze und Juden hetzten, auch Homosexuelle diskriminierten. Erst diese politische Erkenntnis habe dazu geführt, dass sie sich gegenüber anderen Lebensformen öffnen konnte.
So konnte sie auch wieder eine Beziehung zu ihrem Sohn aufbauen, als er Anfang der 90er-Jahre aus Afrika nach Paris zurückkehrte. Da war Denis Bocoulon bereits an Aids erkrankt. Während seiner letzten Lebensjahre wurde ihre Beziehung immer enger, bis er 41-jährig 1997 an den Folgen der Immunschwäche starb. Er ist übrigens das einzige ihrer vier Kinder, das eine schriftstellerische Laufbahn wie die Mutter einschlug. Seine drei zwischen 1992 und 1994 erschienenen Romane „Mon mari est capable“, „Crépuscule“ und „Le chien qui fume“ waren vergleichsweise erfolgreich, die Literaturkritik bezeichnete Denis Bocoulon als große literarische Hoffnung.
Der Tod ihres Sohnes stürzte Maryse Condé in eine tiefe Depression, sie konnte eine Zeitlang nicht arbeiten. Erst langsam fand sie ins Leben zurück und begann wieder zu schreiben. Das ist ein großes Glück für ihre Leser*innen auf der ganzen Welt, wie das vorliegende Buch einmal mehr zeigt.