Mindestens fünf Leben lebte die außergewöhnlich schöne, selbstbewusste und begehrte Tina Modotti: In Italien war sie Textilarbeiterin, in Kalifornien Stummfilmschauspielerin, in Mexiko Avantgardefotografin, dann international tätige Sowjetagentin und immer war sie Muse, Freundin oder Geliebte von Künstlerinnen und Künstlern oder Politikern der 1920er und 30er Jahre. Zu ihren Gefährten zählte alles, was Rang und Namen hatte: Edward Weston, Diego Rivera, Frida Kahlo, John Dos Passos, Ezra Pound oder Anna Seghers. Einer der Organisatoren des Krimifestivals Semana Negra im spanischen Gijón, Angel de la Calle, hat vor einigen Jahren einen preisgekrönten Comic über das kurze und bewegte Leben der mexikanischen Kommunistin vorgelegt, der nunmehr auf Deutsch erschienen ist. Er ist durchgängig in schwarz-weiß gehalten, die (handschriftlichen) Texte sind stellenweise schwer zu entziffern, doch wer durchsteigt, wird mit einem hohen Lesegenuss belohnt, der auf die politischen und künstlerischen Abenteuer der Protagonistin zurückzuführen ist.
Tina Modotti kommt 1913 nach San Francisco, wo die italienische Immigrantin im Theater und Stummfilm Erfolge feiert. Hier lernt sie den gefeierten Fotografen Edward Weston kennen, dessen Modell und begeisterte Schülerin sie wird. In den 20er Jahren gehen sie zusammen nach Mexiko, werden in der örtlichen Künstlerszene heimisch und knüpfen Kontakte zur radikalen Linken des brodelnden, zwischen Revolution und Konterrevolution hin und her gerissenen Landes. Modottis Haus avanciert bald zum Treffpunkt mexikanischer, nordamerikanischer und lateinamerikanischer Künstlerinnen, Politiker und Intellektueller.
Dies ist der Kontext, in dem sie sich zur bahnbrechenden Fotografin entwickeln kann, die sich durch ihr soziales Engagement und einen starken ästhetischen Impuls auszeichnet, hier entstehen ihre wichtigsten Werke, die heutzutage in den großen Museen der Welt zu finden sind. 1929 nimmt ihr Leben eine dramatische Wende. Zu Jahresbeginn wird ihr Liebhaber, der cubanische Emigrant und KP-Führer Julio Antonio Mella, auf offener Straße von Schergen des cubanischen Diktators Machado erschossen. Die Behörden verdächtigen Tina Modotti, in den Politmord verwickelt zu sein, und die Zeitungen des Landes breiten ihr freizügiges, emanzipiertes Privatleben, unterlegt mit Westons Aktfotos von ihr, vor einer neugierigen Leserschaft aus.
Die Regierung verweist sie des Landes. Hals über Kopf verlässt sie Mexiko und geht nach Europa, ins krisengeschüttelte Berlin. Hier beginnt sie mit ihrer Untergrundarbeit und ihrer Agententätigkeit für Stalin. Über Moskau und Paris gelangt sie 1934 ins revolutionäre Asturien. Als der Bürgerkrieg ausbricht, begibt sie sich nach Barcelona, wo sie als Dolmetscherin am II. Kongress zur Verteidigung der Kultur teilnimmt. Einige Biografen vermuten, dass Modotti im Auftrag Moskaus Schriftsteller und Intellektuelle aus aller Welt ausspionierte. Im April 1939 reist sie mit falschem Pass auf der Queen Mary nach New York, wo ihr die Einreise verweigert wird. Sie muss weiter nach Mexiko, der Ort auf der Welt, wo sie am wenigsten hin will. Sie hat panische Angst davor, dass die Presse ihr wieder nachstellt.
Am 20. August 1940 wird in Coyoacán Leo Trotzki von Ramón Mercader, einem spanischen Agenten des sowjetischen Geheimdienstes KGB, mit einem Eispickel erschlagen. Die Modotti sieht in Trotzki, so de la Calle, einen „Verräter“ und „Naziagenten, der zu Recht in der Hölle schmort“. Ob ihr ehemaliger Geliebter und KGB-Kollege Vittorio Vidali bei diesem Verbrechen eine Rolle spielt, ist ungeklärt. Ihre letzten Jahre verbringt die Modotti zurückgezogen in der mexikanischen Hauptstadt. Als sie am 6. Januar 1942 unter mysteriösen Umständen auf dem Rücksitz eines Taxis stirbt, ist sie erst 46 Jahre alt.
Angel de la Calle macht aus seiner Passion für die Modotti keinen Hehl. Jahrelang hat er sein Comic-Vorhaben verfolgt, Leben und Werdegang der Modotti studiert, unzählige spanische, mexikanische, italienische, deutsche und nordamerikanische Publikationen über die Fotografin gelesen. Mit seinem Partner bei der alljährlichen Organisation der Semana Negra, Paco Ignacio Taibo, hat er sich immer wieder über die Fakten ausgetauscht. Beide tauchen übrigens als Protagonisten in der Graphic Novel auf und rekonstruieren in Rückblenden, ähnlich wie in einer Rahmenerzählung, nicht nur die Szenen aus dem Leben der Modotti, sondern auch die Wirren und ideologischen Zerwürfnisse und Verblendungen der Zwischenkriegszeit. Elena Poniatowska, Christiane Barckhausen-Canale oder Margaret Hooks haben mit ihren Büchern die Modotti in Europa populär gemacht. In Angel de la Calles Comic wird sie endgültig zur Kultfigur.
Angel de la Calle, Modotti. Eine Frau des 20. Jahrhunderts, Berlin (Rotbuch) 2011, 272 Seiten, 16,95 Euro