Sommer 2010 in Berlin: Es sind gefühlte 35 Grad. Die Kumbia Queers machen Soundcheck in der Raumerweiterungshalle, einem kleinen, selbstorganisierten Veranstaltungsort mit trans*feministischem Fokus. Drinnen ist es nochmal 10 Grad wärmer. In der Luft liegt eine Mischung von Aufregung, großer Freude und ängstlicher Erwartung – es ist das allererste Konzert der mexikanisch-argentinischen Band Las Kumbia Queers in Europa. Wir rechnen optimistisch mit etwa 60-100 Besucher*innen. Nach und nach trudeln die Leute ein. Wir trauen unseren Augen kaum. Als das Konzert beginnt, befinden sich etwa 250 Menschen auf dem Gelände. Es passen nicht alle in die Halle, also hören viele von draußen zu. Nach den ersten Takten kocht die Stimmung. Alle tanzen und springen, viele Besucherinnen ziehen sich fast komplett aus. Der Schweiß läuft in Strömen. Hinterher beschwert sich Sängerin Ali Gua Gua, dass sie wegen der Hitze fast in Ohnmacht gefallen wäre, aber dabei liegt ein Grinsen auf ihrem Gesicht.
DIY, Do It Yourself, einfach selber machen: Ohne diesen alten Spirit des Punk mit seiner Frechheit und Unbekümmertheit hätte es diese Geschichte wohl nicht gegeben. Mutig war schon die Gründung der Band 2007. Fünf Punkerinnen beschließen, Cumbia zu spielen, ein in Lateinamerika populäres, aber in der Punkszene eher verächtlich betrachtetes Genre, und sie brechen mit ihrer queeren Frauenband in eine Männerdomäne ein. Nach ersten Erfolgen in Argentinien und anderen Ländern in Lateinamerika wollen sie Europa erobern. Mit der Zusage, auf einem Festival in Russland spielen zu können und von dort auch die Flüge finanziert zu bekommen, fragten sie Anfang 2010 bei mir (Birgit) an, ob wir ein paar Konzerte in Deutschland organisieren könnten und ich sie als Roadmanagerin begleiten würde. Die Lust ist groß, uns verbinden Freundschaften mit den Bandmitgliedern. Wir haben die Kumbia Queers bereits in Argentinien gesehen und wissen, wie mitreißend sie sein können, obwohl zumindest ich vorher eher nicht so viel mit Cumbia anfangen konnte. Außerdem bewegen wir uns in Köln und Berlin in der alternativen und queeren Musikszene, haben einige Kontakte und auch schon öfters Konzerte organisiert.
Mitten in die Planungen platzt die Neuigkeit herein, dass das Festival in Russland ausfällt und wir somit auch noch sechs Transatlantikflüge stemmen müssen. Dafür reichen natürlich zwei bis drei Konzerte in DIY-Zusammenhängen und auf Bauwagenplätzen nicht aus. Eine ganze Tour muss her. Wir halten inne und haben plötzlich Angst vor unserer eigenen Courage. Wir haben noch nie die Verantwortung für eine ganze Tour übernommen. Alex von Malavida Music ist zwar als Beraterin dabei, kann aber aufgrund zu vieler anderer Touren nicht übernehmen. Außerdem: Kann eine hier noch völlig unbekannte Band überhaupt die Kosten von einer Tour und sechs Transatlantikflügen einspielen, oder ist das der komplette Irrsinn? Gerade Frauen*bands haben es immer noch schwerer als Männer*bands. Es gibt oft von vornherein mehr Zweifel an ihrer Professionalität. Sie werden häufig nicht ernst genommen und/oder als Exotinnen wahrgenommen. Hinzu kommt, dass Cumbia in Europa zu diesem Zeitpunkt noch eher ein Nischendasein fristet. Alles in allem sind das keine guten Voraussetzungen. Aber egal. Die Lust am Irrsinn ist mal wieder größer. Die Kumbia Queers überzeugen uns schließlich, weiter zu machen, und so nimmt das Projekt seinen Lauf.
Wir fragen überall herum wegen Auftrittsmöglichkeiten, und da wir uns eher in der queeren bzw. Politszene als im Profi-Musikbusiness bewegen, organisieren nun auch Freund*innen und Genoss*innen Konzerte für uns, die teilweise noch weniger Ahnung davon haben als wir. Die Netzwerke gegenseitiger Unterstützung von politischen und subkulturellen Bewegungen funktionieren. Auf beiden Seiten des Atlantiks arbeiten wir mit Hochdruck. Die Kumbia Queers aktivieren aus der Ferne ebenfalls alle ihre Kontakte in Europa, was den Tourplan immer mal wieder spontan durcheinanderbringt. Aber letzten Endes ergibt sich eine runde Tour, in der von heruntergekommenen Punkrockschuppen über autonome Zentren und Bauwagenplätze bis hin zu kleinen queeren Clubs und Festivals alles dabei ist. Im autonomen Zentrum KTS in Freiburg oder bei der Brüsseler queeren Party Gelatina sind die Leute anfangs eher noch skeptisch, aber spätestens beim zweiten Song ist das vorbei. Alle vergessen, dass sie eigentlich nur zu Punk pogen oder bei elektronischer Musik cool in der Ecke stehen wollten, und fangen an, wild zu tanzen und herumzuhüpfen. Das erste Konzert in der Berliner Raumerweiterungshalle war damit symptomatisch: Egal welcher Laden – die Kumbia Queers rocken sie alle.
Am musikalischen Erfolg des Unternehmens konnte es also keinen Zweifel geben. Bei der Buchhaltung sah es dagegen eher finster aus. Abgesehen von warmem Essen bei Auftritten bestand die Ernährung der ersten Touren hauptsächlich aus Einkäufen beim Discounter. Die Unterbringung fand privat statt. Das war zwar low-budget, aber dafür meistens umso herzlicher. Oft schliefen wir in liebevoll hergerichteten (Privat-)Zimmern und wurden nicht nur einmal von einem ausladenden Frühstückstisch im Garten überrascht. Aber es gab auch Orte, wo wir nach einem anstrengenden Tag in Räumen mit verdrecktem Bad oder gebrauchtem Kondom auf der Matratze übernachten mussten.
Neben den Gagen ist auch das Merchandising eine wichtige Einkommensquelle. Natürlich konnte die Band nur eine begrenzte Menge an CDs und T-Shirts mitbringen. Ziemlich schnell stellten wir fest, dass die Leute mehr kaufen wollten, als da war. Also startete die Band kurzerhand in Backstageräumen und einmal auch auf einem Festivalgelände eine T-Shirt-Produktion. Nachdem wir bei einem Spontanabstecher in diverse Second-Hand-Läden alle vorhandenen einfarbigen Shirts aufgekauft hatten und die Gitarristin Pilar Schablonen hergestellt hatte, wurden alle verfügbaren Leute für den T-Shirt-Druck herangezogen.
Finanziell war die Tour ein Reinfall. Wir mussten so viele Kosten einspielen, dass es nur knapp gelang, die Ausgaben zu decken. Trotzdem gab es einige Leute und Veranstaltungsorte, die selbst bei einer Band aus Südamerika, aus einem strukturell ärmeren Land und mit immensen Reisekosten, der Meinung waren, dass sie Soli spielen bzw. keinen Eintritt verlangen sollte. Der letzte Schock am Ende der Tour war dann ein Schaden an dem geliehenen Tourbus, den vorher niemand bemerkt hatte, der aber teuer war.
Es gab jedoch sehr viel Unterstützung – auch finanzielle. So war es Rolf, einem anderen aus unserem Grüppchen, der in Köln ebenfalls an der Tour-Organisation beteiligt war, zum Beispiel noch gelungen, etwas Kulturförderung durch den WDR zu bekommen. Francis Gay, Musikredakteur bei Funkhaus Europa, war sofort begeistert von den Kumbia Queers, als er die CD gehört hatte: „So was muss man ja unterstützen.“ Er organisierte einen Mitschnitt des Konzertes in Düsseldorf, was nicht nur gute Werbung war, sondern auch honoriert wurde (und bei späteren Touren noch öfter wiederholt wurde). Nicht vergessen werden sollte auch die Unterstützung in den ersten Jahren durch engagierte Clubbetreiber*innen, so etwa das Gebäude 9 und der Club Bahnhof Ehrenfeld in Köln, der Hafenklang in Hamburg oder das SO 36 in Berlin.
Der Schaden am Bus konnte dank einer Spendenkampagne bezahlt werden. Unschätzbar ist auch die nicht-materielle Unterstützung und Solidarität: Es fanden sich immer Leute, die den Bus fuhren, sich um Merch-Verkauf kümmerten, die uns in ihr Zuhause einluden oder uns die Stadt zeigten, die Werbung machten, ihre Kontakte aktivierten oder einfach trotz kaum vorhandener finanzieller Ressourcen ein großartiges kleines Event mit viel leckerem Essen und guter Stimmung organisierten. Erinnert sei hier neben den bereits erwähnten Orten an die Leute vom Wagenplatz aus Leipzig, die jedes Konzert super liebevoll organisierten, oder auch an Hedda aus Malmö, die uns spontan am Off-Tag zu sich aufs Land einlud, wo wir einen Tag zwischen Wiesen und Traktoren verbrachten. Die vielen Kontakte, die auf diesen ersten Touren geknüpft wurden, der politische Austausch und neue Freundschaften legten den Grundstein für viele weitere Begegnungen und Touren. Trotz all dem finanziellen Druck und Stress hatten diese Wochen allen Beteiligten größten Spaß gemacht. Dass diese Geschichte weiter gehen müsste, daran gab es keinen Zweifel.
Von anderen Bands aus Lateinamerika haben wir gehört, dass sie ihre Europatouren fast nur noch als Arbeit betrachten. Jedes Jahr ein paar Monate im Nightliner zu touren ist für sie kein Vergnügen mehr, aber es schafft die finanzielle Grundlage, um den Rest des Jahres zu Hause über die Runden zu kommen. Die Kumbia Queers haben es geschafft, beides dauerhaft miteinander zu verbinden: das Sichern ihres Lebensunterhaltes sowie die Freude am Spielen und am jährlichen Wiedersehen mit den vielen Freund*innen, die sie jetzt auf dieser Seite des Atlantiks haben.
Inzwischen wird die Band auch für große Festivals und Hallen gebucht. Vieles ist professioneller geworden, übernachtet wird immer häufiger in Hotels. Trotz allen Erfolges dürfen jedoch auch heute die Lieblingsbauwagenplätze der ersten Jahre auf dem Tourplan nicht fehlen. Und trotz der höheren Einnahmen funktionieren die Kumbia Queers weiterhin als Kollektiv. Gleichzeitig gibt es immer wieder Diskussionen rund um die Frage, wie Gelder verteilt werden. Es geht dabei um Arbeitsanteile, aber auch darum, wer welche Privilegien und Zugriffsmöglichkeiten auf ökonomische Ressourcen und auf Fördermöglichkeiten hat. Natürlich befinden wir deutschen Unterstützer*innen, die wir hier leben und weitgehend finanziell abgesichert sind, uns in einer komplett anderen Situation als eine Band, die aus einem von einer Wirtschaftskrise gebeutelten Land des globalen Südens kommt. Das ist eine wichtige Diskussion, die nicht zu Ende ist und unserer Ansicht nach immer geführt werden muss, wenn es zu einer solchen Zusammenarbeit zwischen „Nord“ und „Süd“ kommt.
Die Pandemie hat ökonomische Ungleichheiten, sowohl zwischen Ländern des globalen Südens und des Nordens als auch innerhalb einzelner Länder, verschärft. Viele kleine Clubs und viele alternative Räume für Subkulturen und politische Kämpfe sind weltweit von der Schließung bedroht oder mussten gar schon aufgeben. Kleine Bands und Musiker*innen, die von ihrer Musik leben, wie die Kumbia Queers, sehen ihre Existenz in Gefahr. Wo es allerdings hier in Deutschland zumindest theoretisch die Möglichkeit gibt, als freischaffender Künstler oder als Clubbetreiberin staatliche Unterstützung zu erhalten, gibt es diese Möglichkeit in den meisten Ländern des globalen Südens nicht. Auch hier ist globale Solidarität gefragt sowie das Kämpfen um den Erhalt von subkulturellen und anderen Freiräumen und um die Existenzsicherung von Menschen, die diese schaffen.