Esto es el país de las fosas
Señoras y señores
Este es el país de los aullidos
Este es el país de los niños en llamas
Este es el país de las mujeres martirizadas
Este es el país que ayer apenas existía
Y ahora no se sabe dónde quedó
Dies ist das Land der Gräber
Meine Damen und Herren
Dies ist das Land des Geheuls
Dies ist das Land der Kinder in Flammen
Dies ist das Land der gemarterten Frauen
Dies ist das Land das gestern kaum existierte
Und von dem nun nicht bekannt ist wo es blieb
Ausschnitt aus dem Gedicht Ayotzinapa des mexikanischen Dichters David Huerta
Wie gerne hätte ich mir einen anderen Zugang zur Poesie für meine Tochter gewünscht. Doch in diesen Tagen kann es in Mexiko wohl nicht anders sein. Am 2. November, dem Tag der Toten, war das auf schwarzem Hintergrund großflächig aufgedruckte Gedicht Ayotzinapa des mexikanischen Dichters David Huerta Teil einer gleichnamigen Installation im Museum für Zeitgenössische Kunst in der Stadt Oaxaca. Seitdem wird es unter SchülerInnen und Studierenden über Facebook und andere soziale Netzwerke verbreitet und diskutiert. Wenige Tage nach dem 2. November macht mir meine Tochter schon fast entrüstet Vorwürfe, weil ich den Text nicht kenne. Das Gedicht Huertas ist nicht nur ein Beispiel für die Reaktion vieler KünstlerInnen auf das Verschwindenlassen der 43 StudentInnen von Ayotzinapa. Es ist auch ein Beispiel, wie diese künstlerischen Reaktionen von vielen Menschen aufgesogen werden, um den kollektiven Schrecken und den Schmerz besser verarbeiten zu können. So gut wie jeden Tag gibt es irgendwo im Land eine Performance, ein Konzert, eine Installation, eine Ausstellung, die Bezug auf die 43 verschwundenen und die drei zuvor ermordeten Studierenden nimmt.
Im Kollektiv „Kunst und Kultur“ haben sich Mitglieder aus verschiedenen Kunstschulen des ganzen Landes zusammengefunden. Mitte November legten sich die StudentInnen mit roter Farbe bedeckt auf den Vorplatz der mexikanischen Oper in Mexiko-Stadt. Die Performance endete mit Chorstücken aus dem Requiem von Mozart.
Die Choreografische Werkstatt der Autonomen Nationaluniversität UNAM realisiert ein Projekt „Vereint für Ayotzinapa“. Jüngst erklärte Gloria Contreras, die 80-jährige Leiterin der Choreografischen Werkstatt: „Wie nie zuvor wird es unsere Kultur sein, die Mexiko rettet. Sie ist unsere Identität und unsere Kraft.”
In Guerrero haben sich ZeichnerInnen und MalerInnen aus verschiedenen Regionen des Bundesstaates zusammengetan. Mit verschiedenen Techniken haben sie die Gesichter der 43 Verschwundenen auf Leinwänden im Format 125 x 90 Zentimeter festgehalten. Einer der Initiatoren ist Joel Amateco, Lehrer für bildende Künste an der pädagogischen Landhochschule von Ayotzinapa, an der die Verschwundenen studierten. Amateco beschreibt in der Wochenzeitschrift proceso die Reaktionen, als die KünstlerInnen die Portraits auf der Alameda, der Flaniermeile in Guerreros Hauptstadt Chilpancingo, anfertigten: „Die Leute waren beeindruckt, schauten uns zu. Ohne uns zu kennen, ermutigten sie uns. Wir fühlten, durch die Pinselstriche jeden einzelnen dieser jungen Verschwundenen ins Gedächtnis rufen zu können.“ Ein weiterer Maler berichtete, die ganze Zeit „mit einem Kloß im Hals“ gezeichnet zu haben. Die Familienangehörigen der Verschwundenen unterstützten das Projekt unter der Bedingung, auch die in der Nacht vom 26. auf den 27. September von Polizei und Drogenkartell ermordeten Studierenden zu zeichnen. Ihre Namen – Julio César Mondragón, Julio César Ramírez und Daniel Solis – werden in diesen Tagen oft vergessen. Die Portraits sollen als Wanderausstellung durch das ganze Land reisen.
Ein ähnliches kollektives Projekt rief bereits im Oktober Valeria Gallo mit „IllustratorInnen aufseiten Ayotzinapas“ ins Leben. Viele der Zeichnungen der KünstlerInnen sind nur mit einem Satz versehen. „Ich, Patricia, will wissen, wo Jesús Jovany Rodriguez Tlatempa und Christian Alfonso Rodriguez sind“, steht dann da zum Beispiel. Andere KünstlerInnen kommentieren ausführlicher: „Es gibt Momente, in denen das Zeichnen sich in etwas mehr als ein Ausdrucksmittel oder eine Darstellung verwandelt. Die Zeichnung wird zu einer solidarischen Geste und einer Begleitung, eine symbolische Form, die Freiheit eines Verschwundenen einzufordern – aus der Gefangenschaft oder dem Grab“, schreibt Eduardo Mirafuentes unter sein Portrait des 18-jährigen verschwundenen Leonel Castro Abarca. „Ich kann nicht einfach so mein Leben fortführen, als ob nichts geschehen würde“, erklärt Gallo in einem Interview ihr Engagement. Mitte November hatten sich bereits mehrere Dutzend KollegInnen an der Aktion beteiligt. Fast 400 Beiträge waren bis zu diesem Zeitpunkt ins Netz gestellt (http://ilustradoresconayotzinapa.tumblr.com/).
Andere Initiativen sind eher individuell und abstrakter, so die Performance Lacrimatorio 43 im hauptstädtischen Museum Carillo Gil. Die Künstlerin und Aktivistin Alda Ardemani schnitt zwei Stunden lang scharfe Zwiebeln und füllte mit den Tränen 43 kleine transparente Becher mit den Fotos der 43 Studenten daneben. Die Performance war als Video tagelang im Museum zu sehen. Ohne dass sie sich selbst als KünstlerInnen sehen, kenne ich aus meinem eigenen Freundes- und Bekanntenkreis viele, die sich künstlerisch in kleinen Gruppen oder auch nur den eigenen vier Wänden mit Ayotzinapa auseinandersetzen. Der Aspekt der Kunst als politischer Intervention tritt dabei in den Hintergrund. Doch die persönliche Art, sich mit dem Schicksal der Studenten auseinanderzusetzen, geht vielfach einher mit einer persönlichen Politisierung. Es ist die Stimmung des „Ya Basta“, des „Es reicht“, mit dem vor 20 Jahren die aufständischen ZapatistInnen offiziell die mexikanische Bühne betraten.
Ayotzinapa hat einen Nerv in der mexikanischen Gesellschaft getroffen und nicht nur in dieser. Rapper René Pérez Joglar alias „Residente“ von der puertoricanischen Band Calle 13 erklärte dies nach einem Gespräch mit dem Vater eines verschwundenen Studenten indirekt: „Es ist sehr bewegend, was er mir erzählte, denn ich bin gerade Vater eines Jungen geworden.“ Residente erschien übrigens nicht nur bei der Grammyverleihung in Las Vegas mit dem T-Shirt-Aufdruck „Ayotzinapa. Es fehlen 43.“ Beim Konzert von Calle 13 am 22. November im Sportpalast in Mexiko-Stadt überließen er und seine Band Mikrofon und Bühne minutenlang den Familienangehörigen der Studenten. „Wir wollen nicht, dass einer von Euch die Nummer 44 wird“, sagte eine der Mütter den Tausenden von Zuhörern. Das gesamte Konzert geriet zu einer Protestveranstaltung. Vielleicht nicht immer so klar wie Calle 13 haben doch auch viele andere KonzertkünstlerInnen ihre Auftritte in Mexiko und anderswo genutzt, sich zu Ayotzinapa zu äußern.
Selbst im Fußball sind die verschwundenen StudentInnen ein Thema. Als Mexiko am 12. November in Amsterdam ein Freundschaftsspiel gegen die Niederlande bestritt, wedelten beim Abspielen der mexikanischen Nationalhymne auf einmal schwarze Taschentücher in der Luft und auf Plakaten erschienen die Konterfeis der Verschwundenen. Ein Teil des Publikums solidarisierte sich spontan und zeitweise war von den Rängen statt der Fangesänge der Schrei „Justicia, justicia!“ zu hören. Der bei Madrid spielende mexikanische Fußballstar Javier „Chicharito“ Hernández hat mehrfach per Twitter seine Solidarität mit den 43 und ihren Familienangehörigen geäußert. Und als Eduardo Herrera von der Erstligamannschaft der Pumas, des Teams der Autonomen Nationaluniversität, am 23. November ein wichtiges Tor schoss, zeigte er mit seinen Händen die Zahl 43 an.
Hinter fast allen der zahlreichen Aktionen steht nicht in erster Linie die Absicht, ein „Kunstwerk“ zu schaffen. Sie spiegeln vielmehr eine allgemeine Stimmung der Empörung und Erschütterung wieder, die sich Ausdruck verschaffen muss. Die Attacke von Polizei und Drogenkartell auf die Studierenden sowie die bisherigen Reaktionen des mexikanischen Staates werden von vielen als Angriff auf die gesamte mexikanische Jugend verstanden. Darum weigern sie sich, die Studenten von Ayotzinapa sterben zu lassen, machen sie mit ihren „Werken“ lebendiger, als sie es je waren. Zu den drei in der Nacht vom 26. auf den 27. September ermordeten Studenten gehört Julio César Mondragón. Seine Folterer schnitten ihm die Augen aus, zogen ihm die Gesichtshaut ab. Auf der Massendemonstration vom 20. November, dem Tag der mexikanischen Revolution, ist mit dem mexikanischen Nationalpalast im Hintergrund ein kleiner Junge mit einem gemalten Plakat zu sehen: „César, ich bin dein Gesicht.“