Dieses Buch ist erschreckend. Das Thema wurde in der Öffentlichkeit bisher wenig wahrgenommen. Aber die Idee der Privatstädte sollte bei allen, die die Hoffnung auf eine gerechtere Gesellschaft mit wirklicher Demokratie noch nicht aufgegeben haben, die Alarmglocken schrillen lassen. Mit diesen Projekten wird der Neoliberalismus auf die Spitze getrieben. Es soll in diesen Städten keinerlei öffentliche Kontrolle mehr geben. Sie werden zu Unternehmen, in denen die Eigentümer*innen das Sagen haben – Proprietarismus statt Demokratie und Wohlfahrtsstaat sind das erklärte Ziel. Analog zu den bereits in einigen Ländern existierenden Sonderwirtschaftszonen, in denen im Land geltende Zoll- und Steuergesetze, Arbeitsrechte und Umweltschutz zugunsten der dort investierenden Unternehmen außer Kraft gesetzt sind, soll der Staat in Privatstädten die Kontrolle an die Unternehmen übergeben, die dort ihre eigenen Gesetze machen, ihre eigene Gerichtsbarkeit einführen und private Sicherheitskräfte einsetzen wollen.

Seit 2008 arbeiten Netzwerke aus Firmen, Instituten, Stiftungen, Akademikern und Unternehmern (in diesem Zusammenhang tauchen fast ausschließlich Männer auf) an der Entwicklung von Privatstädten. Auch nach der Wirtschaftskrise fordern sie weitere Privatisierungen, mit dem Argument, es sei eben immer noch zu viel staatlich reguliert gewesen. Der Unternehmer Titus Gebel, einer der Hauptbetreiber der Idee in Deutschland, möchte so schnell wie möglich die ersten Privatstädte entstehen sehen, um mit diesen Modellen die Vorzüge des proprietaristischen Ansatzes praktisch vorführen zu können. Er hofft sogar, „die ersten Privatstädte noch zu seinen Lebzeiten in Deutschland erleben zu dürfen“ (117). Aber zunächst suchen sich die Betreiber für ihre Experimente kleine, ärmere und autoritär geführte Staaten aus, in denen sie von den Regierungen größere Zugeständnisse erwarten können.

Das erste Land der Begierde war Honduras. Dort wurden unter maßgeblicher Beteiligung von Titus Gebel und weiteren deutschen Unternehmen bereits die Privatstadt Próspera auf der Insel Roatán sowie zwei weitere Projekte vereinbart. Eine günstige Voraussetzung war der Putsch gegen den linksliberalen Präsidenten Zelaya 2009. Zwei Jahre später änderte der Nationalkongress die Verfassung und ließ Sonderentwicklungszonen (RED) zu. 2012 wurde der Rechtsanwalt und Menschenrechtsaktivist Antonio Trejo von Unbekannten erschossen, unmittelbar nachdem er die RED im Fernsehen kritisiert hatte. Er gehörte zu der Anwaltsgruppe, die gegen das RED-Gesetz Verfassungsbeschwerde eingelegt hatte. Im November 2012 erklärte der Oberste Gerichtshof das Gesetz dennoch für verfassungswidrig, weil damit „die drei wichtigsten Elemente des Staates“ verletzt worden seien, „das Staatsterritorium, die Staatsbevölkerung und die Staatsgewalt“ (73). Die Bevölkerung hätte für den Zutritt zu diesen Zonen eine Sondergenehmigung gebraucht. Das Gericht segnete so weitgehende Einschränkungen zugunsten der unternehmerischen Freiheit nicht ab. Dieser juristische Rückschlag führte zum Rückzug einiger Betreiber. Aber für die Projekte in Honduras bedeutete dies nur eine kurze Pause. Im Dezember wurden vier der fünf Obersten Richter*innen vom Nationalparlament entlassen und ihr Urteil zu den RED wurde für nichtig erklärt. Und schon im Januar 2013 wurden die Privatstädte erneut gesetzlich zugelassen, jetzt unter dem Namen ZEDE (Sonderzonen für Entwicklung und Beschäftigung). Nach weiteren Tagungen, Treffen mit Regierungsangehörigen und Investorenkonferenzen kam es 2019 zur Registrierung von Próspera. 2020 begann der Bau der ZEDEs Próspera, Orquidea und Ciudad Morazán.

In Próspera ist eine Art Ständedemokratie vorgesehen. „Von den neun Ratsmitgliedern werden vier vom Unternehmen Honduras Próspera LCC bestimmt, zwei werden von den Land- und Grundbesitzer*innen gewählt, wobei sich das Gewicht der Wählerstimme aus der Quadratmeterzahl des Besitzes ergeben soll. (…) In anderen ZEDEs hingegen scheint gar kein Wahlrecht vorgesehen zu sein.“ (100)

Es soll die Möglichkeit der E-Residentschaft geben: Virtuelle Bürger*innen, die die Privatstadt nie betreten, können dort Unternehmen gründen und Dienstleistungen in Anspruch nehmen. In Ciudad Morazán soll eine Maquiladora-Zone mit Wohngebieten entstehen, und in Orquidea ist die Produktion von Chili und Tomaten für den Export geplant. Für die lokale Bevölkerung bleibt in erster Linie die Rolle, ihre Arbeitskraft an die Besitzer der Städte zu verkaufen, ohne Rechte, ohne irgendeine soziale Absicherung, wie in der Frühzeit des Kapitalismus.

Für den Fall, dass es doch einmal Konflikte mit dem Staat geben sollte, dessen Land sich die Betreiberfirmen der Privatstädte aneignen, gründen sie vorausschauend Tochtergesellschaften in wirtschaftlichen Partnerstaaten dieser kleinen Länder, um gegebenenfalls mit internationalen Schiedsgerichtsverfahren drohen zu können. Andreas Kemper hat dieses Netzwerk aus Think Tanks, Privatuniversitäten, Unternehmen, Stiftungen und Personen akribisch durchleuchtet. Wer war in welchen Firmen und Institutionen tätig, wer hat sich wo getroffen, wer finanziert die Projekte? Einige Namen tauchen immer wieder auf. In Deutschland gehören vor allem die Unternehmer Titus Gebel und Daniel A. Gottschald zu den Betreibern, in England der Brexit-Architekt Shanker Singham, in den USA finanziert der PayPal-Gründer und Milliardär Peter Thiel Institute und Stiftungen, und auch illustre Namen wie Patri Friedman sind dabei. Er ist der Enkel von Milton Friedman, dem Vordenker der Chicago School, wo er die Ideen des Neoliberalismus weiterentwickelte und die sogenannten Chicago Boys ausbildete – Chilenen, die später am Putsch gegen Salvador Allende und der Durchsetzung des Neoliberalismus in Chile beteiligt sein sollten.

Diese Verfechter eines radikalisierten Neoliberalismus eignen sich übrigens nicht nur Land und Gemeingüter an, sondern auch Begriffe. Sie bezeichnen sich gerne als „libertär“, als Libertarians, und ihr Projekt als „Anarcho-Kapitalismus“. Andreas Kemper fasst die Demokratiefeindlichkeit dieser Pseudo-Anarchist*innen und ihre Verachtung gegenüber Armen zusammen: „Hinter dem Denken von ‚Klasse statt Masse‘, ‚Spitzenförderung statt Breitenförderung‘ steckt die Abwertung der Armen. Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet ein Tochterunternehmen der TU München (TUM) die Privatstadt-Idee förderte, gehört doch die TUM zu den Exzellenz-Unis mit ihren ‚Exzellenz-Clustern‘. Wir dürfen uns diese Privatstädte nicht als einzelne Enklaven vorstellen. Ja, sie können auch als Rückzugsorte für Reiche funktionieren oder speziell in Honduras für kriminelle Drogenhändler (Narcos), oder schlicht als neue Form von ‚Steueroasen‘. Aber wie Daniel A. Gottschald und das ‚Brexit-Brain‘ Shanker Singham herausarbeiteten, sind es Cluster oder Knotenpunkte, die über Korridore, virtuelle Waren-Autobahnen, miteinander verbunden werden sollen. Es geht um die Errichtung einer Parallelwelt für die Superreichen.“ (117f)

Angesichts des undurchsichtigen Geflechts von Personen und Firmen, die das Projekt der Privatstädte vorantreiben, war es eine gute Idee, ein Glossar zu erstellen. Leider führen aber von den wirklich sehr zahlreichen Pfeilverweisen im Text viele ins Leere. Häufig sind angezeigte Namen oder Begriffe in dem 30-seitigen Glossar nicht zu finden. Das unnötige Blättern stört zwar den Lesefluss, aber dieser Mangel schmälert keineswegs den Wert der Detektivarbeit, die Andreas Kemper im Untergrund der Reichen und Mächtigen geleistet hat, um die finsteren Pläne und ihre Betreiber ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen. Es scheint in vielen Fällen nicht einfach gewesen zu sein, die Zusammenhänge aufzudecken und Hinweise zu verifizieren.

Am Ende des Buches geht Kemper auf den Widerstand der Volksgruppe der Garífuna auf der Insel Roatán ein, die damit landesweit Versammlungen und Proteste gegen die Privatstädte auslöste. Dieser Widerstand hatte nun Erfolg. Seit Anfang des Jahres ist Xiomara Castro in Honduras an der Regierung. Sie bezeichnet sich als demokratische Sozialistin und ist erklärte Gegnerin der Privatstädte. Am 20. April, kurz nach Erscheinen des Buches, kam aus Honduras die Nachricht, dass der Kongress sich einstimmig für die Aufhebung der ZEDEs entschieden hat. Demzufolge wären alle erteilten Konzessionen hinfällig. Der Beschluss muss 2023 noch ratifiziert werden. Aber das Projekt der Privatstädte in Honduras ist damit erstmal wieder gestoppt. Eine gute Nachricht. Aber keine Entwarnung.