Die Anden sind ein Kettengebirge, das sich in mehreren, parallel verlaufenden Gebirgszügen im Westen Südamerikas über mehr als 7000 km von der Karibik bis nach Patagonien durch sieben Nationalstaaten erstreckt und die trockene Pazifikküste im Westen mit dem sich weit nach Osten erstreckenden Amazonastiefland verbindet. Ironischerweise verdanken die Anden ihren Namen gerade den Ostabhängen der Andenkordillere, an denen das Tiefland beginnt, beziehungsweise den Menschen, die dort lebten. Die Inka nannten sie anti (Quechua: Osten) oder anti runa (Menschen aus dem Osten). Der östliche Teil ihres Staates, den sie wegen des Widerstands der antis nie sehr weit Richtung Osten ausdehnen konnten, hieß antisuyu. Zu Beginn der Kolonialzeit waren daher mit anti oder antis, in der hispanisierten Form andes, die bewaldeten Täler im Osten Cuscos gemeint. Später beschrieben die spanischen Kolonisatoren mit andes das gesamte Gebirge.
Heute denken wir bei „Anden“ am ehesten an das Hochland der Zentralanden in Peru und Bolivien, je nach Definition auch in Ecuador, Nordchile und Nordwestargentinien. Dabei stellen die Anden ein Mosaik ökologischer Zonen dar, in dem Berg- und Küstenlandschaften (umso trockener, je weiter man sich nach Süden begibt), Gletscher, Wüsten, weite Hochebenen und Täler zu finden sind, die sich in ihren klimatischen Bedingungen, Flora und Fauna unterscheiden. Auf der ökologischen Diversität, die sich durch klimatische Veränderungen und menschliche Aktivitäten in stetigem Wandel befand, gründete auch die räumliche Organisation der Gesellschaften in den Anden.
Bei der Definition des Andenraums und seiner inneren Gliederung sind seit den 30er-Jahren neben geographischen vor allem kulturhistorische Kriterien angewendet worden, wobei sowohl die Küstenregionen als auch die Ostabhänge als integrale Bestandteile gelten. Mit der Publikation des Handbook of South American Indians 1946 von Julian H. Steward wurde der Begriff des „andinen Kulturraums“, den ein bestimmtes Set kultureller Elemente von anderen unterscheidet, oder der „andinen Kultur“ in den Sozial- und Kulturwissenschaften etabliert. Mit dieser „Geburtsurkunde“ (Marisol de la Cadena[fn]Marisol de la Cadena (1990): De utopías y contrahegemonías: El proceso de la cultura popular. Revista Andina 8, 1[/fn]) des Konzepts von lo andino konnten „Andine Studien“ entstehen und Forschende aus Europa oder den USA begannen, sich als „Andinisten“ zu bezeichnen.
Unter andinos versteht der spanisch-bolivianische Anthropologe Xavier Albó[fn]Xavier Albó (1990): Lo andino en Bolivia: Balance y prioridades. Revista Andina 8, 2[/fn] diverse soziokulturelle Gruppen im Andenraum, deren Identität sich auf die eine oder andere Weise auf die vorkoloniale Vergangenheit beziehe, wobei er gleichzeitig anmerkt, dass ihre gegenwärtige Lebensweise weit mehr von der Kolonialzeit und Moderne geprägt ist. Dennoch, lo andino war lange mit der Vorstellung von indigenen Bauern und BäuerInnen in abgelegenen und isolierten Dörfern in den Bergen assoziiert, die von der Moderne ausgeschlossen seien. Das wurde unter anderem durch anthropologische Forschungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts befördert, die sich immer wieder auf als spezifisch „andin“ verstandene Themen wie Reziprozität (Prinzip der gegenseitigen Ergänzung), Kosmologie, den landwirtschaftlichen Kalender und vermeintlich „traditionelle Bräuche“, die sich seit der Zeit der Inka nicht verändert hätten, konzentrierten. Es bestand die Tendenz, den Widerstand der indigenen Gesellschaften gegenüber äußeren Einflüssen, ihre interne Homogenität, den gemeinschaftlichen Geist (die Idee, dass alle Mitglieder der Gemeinschaft für das Wohl derselben arbeiteten) und seine lange Tradition zu betonen. Von besonderem Interesse waren beispielsweise die ayllus in Nordpotosí, denen attestiert wurde, viele vorkoloniale Charakteristika beibehalten zu haben und daher zu den „traditionellsten“ noch existierenden Formen von gesellschaftlicher Organisation in den Anden zu zählen.
Die Vorstellung des ayllu als Inbegriff einer idealen Gemeinschaft und der Rückgriff auf die vorspanische Vergangenheit sind auch wesentliche Aspekte für Strömungen des indigenismo. Das allgemeine Bestreben dieser sehr heterogenen kulturellen und politischen Bewegung in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, einer Phase intensiver intellektueller Debatten in den Nationalstaaten auf dem Weg zur Moderne, war es, die indigene Bevölkerung nach Jahrhunderten der Marginalisierung zu verteidigen und sie in das nationale Projekt mit aufzunehmen. Angeklagt wurden die dominanten Sektoren der Gesellschaft, die etwa durch das Festhalten an semifeudalen Landbesitzstrukturen für die verzögerte Entwicklung verantwortlich seien. Die indios, eigentlich eine kolonialzeitliche Tributkategorie, mit der die kulturell heterogene Bevölkerung in Abgrenzung zu den Spaniern verallgemeinernd bezeichnet wurde, galten den indigenistas als entscheidende Komponente für die vorgestellte und gewünschte Neugestaltung der nationalen Gesellschaften, wobei unterschiedliche Versionen von indios konstruiert wurden, denen gemeinsam ist, dass sie Projektionen von außen waren. Sie wurden gleichzeitig als Repräsentanten der vor allem ökonomischen Rückständigkeit der Gesellschaften (die es zu modernisieren galt) und als Träger des als nobel angesehenen vorspanischen, in Peru vor allem des inkaischen, Erbes porträtiert. Auch in diesem Kontext entstand lo andino (wenn auch nicht dieser Begriff, sondern der des indio ins Zentrum gestellt wurde) als ideologische Konstruktion von Intellektuellen in zersplitterten und von Weißen und mestizos dominierten Gesellschaften, die dazu diente, soziale und politische Forderungen aufzustellen, und dabei kulturelle Ansprüche der „vergessenen“ andinen Bevölkerung mit einschloss.
Die Idee des sich nicht verändernden, homogenen andinen Menschen drückt mit den Worten des peruanischen Historikers Alberto Flores Galindo[fn]Alberto Flores Galindo (1986): Buscando un inca. Identidad y utopía en los Andes. La Habana: Casa de las Américas[/fn] die erfundene oder ersehnte Geschichte aus, nicht aber die Realität einer fragmentierten Welt. Für Bestrebungen, dieser unter Rückgriff auf die inkaische Vergangenheit zu begegnen und hieraus Lösungen der gegenwärtigen Probleme und Visionen für die Zukunft zu entwickeln, prägte er den Begriff der „andinen Utopie“.
Bei Repräsentationen der Bäuerinnen und Bauern im Hochland und ihren Lebensweisen (in wissenschaftlicher und anderer Literatur, Filmen oder Fotografien) als unveränderlich und damit ahistorisch, die auch als „Andinismus“ (Orin Starn[fn]Orin Starn (1991): Missing the Revolution: Anthropologists and the War in Peru“. Cultural Anthropology 6, 1[/fn]) bezeichnet werden können, schwingen häufig dichotome Betrachtungsweisen mit. Gegensatzpaare wie Hochland/Tiefland beziehungsweise Hochland/Küste, Land/Stadt, Tradition/Moderne, andin/westlich, indígena/mestizo, unter Rückgriff auf die kolonialen Kategorien indios/Spanier und schließlich sie/wir dienen dazu, das Andine, d.h. auch das Andere, zu generalisieren. Die Grenze zwischen einem deskriptiven Sinn von „andin“ und essenzialisierenden Annahmen über lo andino ist dadurch mindestens verschwommen.
Eine einzige andine Tradition hat es in den Anden (inklusive der Küste und dem beginnenden Amazonastiefland) auch in der langen vorspanischen Zeit nie gegeben. Sie stellt keine lineare Entwicklung dar, sondern ist gekennzeichnet von einem Nebeneinander regionaler Gesellschaften, die über weite Distanzen hinweg miteinander in Interaktion traten und sich in Austauschprozessen gegenseitig beeinflussten. Spondylus-Muscheln oder Federn von in den Tropen beheimateten Vögeln, die die Inka sehr wertschätzten, waren im Hochland nicht zu finden. Umgekehrt findet sich die chakana („Kreuz des Südens“ oder „andines Kreuz“) in der materiellen Kultur verschiedener archäologischer Kulturen wieder. Die Periodisierung der vorspanischen Zeit durch ArchäologInnen bringt zum Ausdruck, dass sich Phasen überregionaler politisch-kultureller Vereinheitlichungen (Horizonte) mit Zeiten der regionalen Diversifizierung (Zwischenperioden) abwechselten.
Auch heute kann sich lo andino nicht auf eine bestimmte Essenz, nur auf Indigene, Bauern und Bäuerinnen oder Quechua sprechende Menschen beziehen. Es ist kaum angebracht, von der „andinen Kultur“ zu sprechen und sie ausschließlich (mit einem Blick auf die Vergangenheit) im Andenhochland zu verorten, zumal kaum jemand von sich selbst sagen würde, er oder sie sei andino oder andina. Referenzen für die eigene Identität sind viel eher Dorf X oder ayllu Y, das Hochland (serrano) oder die Sprache (üblicher bei Aymara- als bei Quechua-SprecherInnen).
Stattdessen muss lo andino als dynamisches Konzept verstanden werden, das eine Vielzahl von Merkmalen, die kontinuierlich in Bewegung sind und sich verändern, und beispielsweise die Präsenz des Hochlands an der Küste miteinbezieht. Gerade aufgrund der enormen Migrationsbewegungen im 20. Jahrhundert ist die „andine Kultur“ immer mehr mit Identitäten und Lebensweisen assoziiert, die an mehrere Orte statt an einen einzigen gebunden sind,. Auch durch die Erfahrung der in die Städte migrierten Menschen, dass ihnen dort eine verallgemeinernde „andine Identität“ zugeschrieben wurde, entwickelten sie dort ein Bewusstsein für gewisse kulturelle und historische Gemeinsamkeiten, die sich etwa in der „andinen Musik“ oder der „andinen Folklore“ widerspiegeln.
Das Andine erscheint, vergleichbar mit von Nationalitäten abgeleiteten Adjektiven oder dem „Indigenen“, als leerer Signifikant (Ernesto Laclau), als Worthülse, die mit diversen Inhalten gefüllt wurde und wird, insbesondere von Menschen, die über die Anden, nicht aus den Anden heraus sprechen.