Das argentinische Guernica liegt südlich der Hauptstadt in der Provinz Buenos Aires. Im Juli hatten hier 2500 Familien mit 3000 Kindern ein brachliegendes Gelände besetzt, Hütten gebaut und erste Infrastruktur geschaffen. Mehr als 100 Tage dauerte der Versuch, die Krise gemeinsam solidarisch anzugehen. Am 29. Oktober wurde die Besetzung jedoch mit einer gewalttätigen Räumung beendet. 4000 Polizisten rückten an, unter der Führung von Sergio Berni, dem Sicherheitsminister der Provinz Buenos Aires. Zu seiner fragwürdigen Geschichte gehört u. a. die Teilnahme am Militäraufstand der sogenannten Carapintadas (Tarngesichter) 1987, mit dem die Straffreiheitsgesetze durchgesetzt wurden.
Sie kamen mit Tränengas, Gummigeschossen, Bleischrot, Hunden und Baggern, um die Hütten, den Gesundheitsposten und die Schule zu zerstören, die Besetzer*innen zu vertreiben und zu demütigen. Sie pinkelten auf Hütten, misshandelten Frauen und beleidigten sie sexistisch. Staatsanwälte und Polizisten machten Selfies vor der Kulisse von brennenden Hütten und feierten die Räumung.
Während Familien versuchten, ihre Matratzen und andere Habseligkeiten in Sicherheit zu bringen, leisteten vor allem die Jugendlichen Widerstand nach dem Beispiel der Primera Línea in Chile. Einige hatten Schilde gebastelt, um sich vor Gummigeschossen und Kugeln zu schützen, andere sich mit Steinen ausgerüstet, mit denen sie die Polizei empfingen. Wie in der Bewegung in Chile gibt es jetzt auch hier als Sanitäter*innen gekennzeichnete Brigaden, die von Nachbar*innen und solidarischen Leuten aus dem Gesundheitswesen gebildet werden. So konnten sie den Vormarsch eine Zeit lang aufhalten, aber der bewaffneten Übermacht waren sie nicht gewachsen. Die Räumung endete mit 39 Verhafteten, vielen Verletzten und einem 18-jährigen Verschwundenen. Die Familien sind wieder obdachlos.
Die Besetzung in Guernica war die größte der derzeitigen Welle in Argentinien. Sie ist zur Ikone geworden, weil die Besetzer*innen es geschafft haben, nicht wie die meisten anderen sofort geräumt zu werden. So hatten sie Zeit, sich solidarisch zu organisieren, in den vier Barrios, in die sie die Besetzung aufgeteilt hatten. Wie in den meisten Bewegungen der letzten Zeit standen auch hier die Frauen in der ersten Reihe. Für viele von ihnen war es die erste Erfahrung von Kampf und kollektiver Organisierung. Sie hätten nie gedacht, dass sie einmal an der Spitze einer Bewegung stehen würden, die auf den Titelseiten der Zeitungen erscheint. Mit ihrem Motto #NiUnaMenosSinVivienda – #KeineMehrOhneWohnung – beziehen sie sich ausdrücklich auf die feministischen Bewegungen.
Als erstes wurde im Barrio La Lucha (Kampf) eine Frauenkommission gegründet. Dann kamen Compañeras aus den anderen Barrios dazu, und schließlich wurde daraus eine Nachbarschaftskommission mit Beteiligung von Männern und Jugendlichen. Die Besetzer*innen sind auf der Suche nach demokratischen Entscheidungsstrukturen und organisieren sich in Versammlungen. Es ging hier nicht nur um das Wohnen, sondern auch um eine andere Form von Leben, um Solidarität und gemeinschaftliche Beziehungen. Sie bekamen Hilfe von solidarischen Lehrer*innen, die eine Schule aufbauten, und Leuten aus dem Gesundheitswesen, die einen Gesundheitsposten errichteten. Soziale Organisationen und Kolleg*innen aus übernommenen Betrieben brachten Spenden und bildeten Schutz. Es gab Unterstützung von linken Parteien. Aber die Besetzer*innen kamen nicht aus linken Organisationen. Viele von ihnen werden wohl die derzeitige peronistische Regierung gewählt haben, die letztes Jahr im Dezember den hyperneoliberalen Präsidenten Macri abgelöst hat und mit einem gigantischen Straßenfest im Zentrum von Buenos Aires euphorisch gefeiert wurde. Diese Regierung entfesselt jetzt die Repression gegen die eigenen Wähler*innen.
Die Investorengruppe El Bellaco S.A. hat das Eigentum an dem Gelände geltend gemacht und die Räumung verlangt, um eine Gated Community mit Golfclub und künstlichen Seen zu bauen. Das Gelände von 360 Hektar, von denen 60 besetzt wurden, hat sie während der Diktatur erworben. Vorsitzender war damals und bis 2013 ein enger Mitarbeiter von Diktator Videla. Laut einem Gesetz der Provinz Buenos Aires von 2012 müssen bei Immobilienprojekten dieser Größenordnung zehn Prozent für Sozialwohnungen oder soziale Zwecke bestimmt sein, und Grundstücke, die mehr als fünf Jahre brach liegen, können beschlagnahmt werden. Architekt*innen und Geograf*innen der Universitäten von Buenos Aires und La Plata arbeiteten mit Berufung auf das Gesetz einen Plan zum Bau einer Siedlung aus. Bis zum Tag vor der Räumung gab es Verhandlungen, bei denen die Delegierten schon zugestimmt hatten, eines der besetzten Barrios zu verlassen, auf ein Übergangsgelände umzuziehen, und sich mit 30 Hektar bzw. 1400 Parzellen zufrieden zu geben. Dies war die Zahl der Familien, die einer erneuten Zählung zufolge allen Widrigkeiten getrotzt und durchgehalten hatten. Gewitter hatten das Gelände zwischenzeitlich in eine Schlammwüste verwandelt. Es gab Angriffe der Polizei. Unterstützer*innen der Arbeitslosenorganisation CTD Aníbal Verón aus Guernica waren mit Bleikugeln beschossen und einer von ihnen schwer verletzt worden. Ärzte ohne Grenzen wurden am Betreten des Geländes gehindert. Und es gab immer wieder Versuche, die Einheit durch Geld zu zerstören. Familien wurden Elektrogeräte oder bis zu 45 000 Pesos (knapp 500 Euro) für das Verlassen der Besetzung angeboten. Gegen die Unbeugsamen wurde trotz aller Gesetze und entgegen den Versprechungen bei den Verhandlungen die Räumung durchgezogen.
Die Pandemie hat die soziale Lage in Argentinien durch Entlassungen und den Wegfall der informellen Jobs erheblich verschärft. Innerhalb eines Jahres gingen 2,5 Millionen Arbeitsplätze verloren. Das staatliche Institut INDEC schätzt für das zweite Trimester 2020 eine Zahl von 20,8 Millionen Armen, 46 Prozent der Bevölkerung. Im Vergleich zum Vorjahr ist dies ein Anstieg um 9,6 Prozent, was 4,4 Millionen neue Arme bedeutet. Die Situation ist schlimmer als im Krisenjahr 2001. Viele Familien können ihre Mieten nicht mehr bezahlen. So kommt es seit Juli zu einer neuen Welle von Landbesetzungen. Die Besetzer*innen fordern, dass der Staat die Gelände kauft und sie die Parzellen in Raten abbezahlen können.
Neun Millionen Menschen leben in Argentinien offiziell zur Miete. 40 Prozent von ihnen haben wegen der Krise Schwierigkeiten, ihre Mieten zu bezahlen. Hinzu kommen die vielen nicht registrierten Mieter*innen von informellen Behausungen. Auf das Krisendekret, das die Mieten einfriert und Räumungen verbietet, können diese sich nicht berufen. In Argentinien fehlen drei bis vier Millionen Wohnungen, und zwölf Millionen Personen, ein Drittel der Bevölkerung, haben Wohnungsprobleme. 15 Prozent der Argentinier*innen haben keinen Zugang zu Trinkwasser und mehr als 40 Prozent sind nicht an das Abwassersystem angeschlossen. Seit Anfang Juli gab es nach Angaben des Sicherheitsministeriums 140 Besetzungsversuche im Großraum Buenos Aires und La Plata, und auch in anderen Provinzen wird Land zum Wohnen besetzt.
Landbesetzungen für Wohnraum haben in Argentinien eine lange Geschichte seit den 1960er-Jahren, und in organisierterer Form seit 1981, in der Endphase der Diktatur. Diese hatte mit einem Programm zur Beseitigung der Villas, wie die Armenviertel genannt werden, zigtausende Menschen mit Gewalt aus den innenstadtnäheren Bereichen entfernt. Die Vertriebenen schufen sich mit den selbstorganisierten Siedlungen neuen Wohnraum. Im Großraum Buenos Aires entstanden in dem Jahrzehnt bis 1990 insgesamt 109 Siedlungen, in denen etwa 173 000 Menschen lebten. Inzwischen leben landesweit vier Millionen Menschen, fast zehn Prozent der Bevölkerung, in den 4416 registrierten Barrios Populares, den Stadtvierteln, die aufgrund der Vertreibung der ärmeren Bevölkerung aus den Stadtzentren entstanden sind. Die Barrios der Besetzer*innen von Guernica sind nun wieder eine Brache, und letztere kämpfen auf der Straße weiter für einen Ort zum Leben.
www.anred.org/ – www.laizquierdadiario.com/ – www.correpi.org