Die FAO, die UN-Organisation für Landwirtschaft und Ernährung, gibt an, dass sich die Zahl der chronisch unterernährten Menschen in Guatemala von 1991 bis 2001 mehr als verdoppelt habe: von 1,4 auf 2,9 Millionen Personen. Dies entspricht einem Anstieg von 16 auf 25 Prozent der guatemaltekischen Bevölkerung. Seither ist es, auch durch die Kaffeekrise, kaum besser geworden. Im Gegenteil, der jüngste Bericht des UN-Entwicklungsprogramms UNDP gibt an, dass die extreme ländliche Armut in Guatemala zwischen 2000 und 2002 von 24 auf 31 Prozent angewachsen ist. Als extrem arm gilt in dieser Berechnung, wer weniger als einen Dollar am Tag zur Verfügung hat. Weiterhin haben die Vereinten Nationen wiederholt darauf aufmerksam gemacht, dass in keinem Land Lateinamerikas so viele Kinder unter fünf Jahren an chronischer Unterernährung leiden wie in Guatemala: 49,3 Prozent. Unter den gleichaltrigen Kindern der indigenen Bevölkerung liegt der Anteil nach UN-Angaben noch weit höher: bei 69 Prozent. Der Frieden wirkt unwirklich, wenn er nicht im Magen ankommt.
Das Menschenrecht auf Nahrung, dem sich auch Guatemala völkerrechtlich verpflichtet hat, wird in vielfältiger Weise verletzt. Die aktuelle Regierung Berger hat es in den ersten fünf Monaten auf einen Rekord von 27 gewaltsamen Landvertreibungen gebracht. Gewaltsame Vertreibungen bäuerlicher Gruppen von der bestehenden Ernährungsbasis gelten seit langem als klassisches Beispiel der Verletzung der staatlichen Respektpflicht gegenüber dem Menschenrecht auf Nahrung. Meistens werden bei diesen Aktionen mehrere Menschenrechte verletzt. Die blutigste Vertreibung seit Unterzeichnung des Friedensvertrags ereignete sich am 31. August 2004 in der Finca Nuvea Linda: Elf Menschen, darunter sechs Bauern und fünf Sicherheitskräfte, haben dabei ihr Leben verloren. Nach den Untersuchungen des staatlichen Menschenrechts-Prokurators wurden mindestens drei der Bauern regelrecht exekutiert.
Der Fall Nueva Linda hat erneut gezeigt, wie konfliktiv und gewalthaltig die ungelöste Landfrage weiterhin ist. Die staatliche Landkonfliktschlichtungsstelle Contierra zählte im August dieses Jahres 919 Konflikte, von denen die meisten bereits seit Jahren bekannt sind und nicht gelöst werden konnten. Die staatliche Reaktion auf die Problematik ist als weitgehend ignorant zu bezeichnen. Contierra hat ein äußerst schwaches Mandat und die finanzielle Ausstattung einer Nichtregierungsorganisation. Wer mit Contierra über konkrete Konflikte gesprochen hat, kann sich kaum des Eindrucks der gutmeinenden, institutionalisierten Machtlosigkeit erwehren.
Die Arbeitskonflikte auf den Kaffeeplantagen haben in den vergangenen Jahren an Quantität und Qualität zugenommen. Vielfach versuchten die Fincabesitzer die seit Jahrzehnten, manchmal seit Generationen in der finca lebenden und arbeitenden Menschen widerrechtlich zu entlassen. Als Antwort darauf wurden zahlreiche fincas von den Arbeiterfamilien besetzt. Der Rechtsstaat hat in mehreren Fällen sehr einseitig funktioniert. Wenn die Arbeiterinnen und Arbeiter juristisch den Fall gewonnen haben, passiert nichts. Sie werden weder wieder eingestellt, noch werden ihnen die seit Jahren ausstehenden Löhne nachgezahlt, selbst wenn die Gerichte so definitiv geurteilt haben. Wenn sie aber angesichts der jahrelangen Straflosigkeit die finca besetzen, gibt es keine säumigen Richter und es fehlt nicht an Polizisten in Kampfanzügen. Ein bemerkenswerter Fall in dieser Hinsicht war in diesem Jahr der Konflikt in der Finca María de Lourdes: Sie gehört Familienangehörigen des Staatspräsidenten. Wenige Tage nach der Übernahme der Regierung durch Oscar Berger wurde dort die erste gewaltsame Vertreibung durchgeführt. Den arbeitsrechtlichen Prozess hatten die Arbeiterfamilien schon seit Jahren gewonnen. Im Juli entführten und vergewaltigten Sicherheitskräfte der Finca eine 15-jährige Tochter aus einer der Arbeiterfamilien im Beisein des Finca-Verwalters. Massiver nationaler und internationaler Protest führte in den letzten Monaten dazu, dass eine akzeptable Verhandlungslösung gefunden wurde. Doch die meisten Arbeitsrechtsverletzungen in den fincas genießen weiter Straflosigkeit.
Für große Teile der ländlichen Bevölkerung ist der Frieden ähnlich landlos wie der Krieg. Der Agrarzensus, der im Januar 2004 veröffentlicht wurde, ergibt, dass weiterhin weniger als 2 Prozent der Landbesitzer über 57 Prozent des Landes verfügen, während 90 Prozent aller Bäuerinnen und Bauern auf durchschnittlich einem Hektar zu überleben versuchen. Die Variationen zum letzten Agrarzensus von 1979 sind minimal. Der im Zuge der Friedensverträge etablierte Landfonds hat daran nichts geändert. Angesichts einer geschätzten Nachfrage von 300 000 landlosen oder extrem landarmen Bauernfamilien ist die Bilanz des Landfonds mager: Seit 1997 bis Juli 2004 konnte der Landfonds lediglich an 16 000 Familien Land vermitteln. Dass die wenigsten Familien in der Lage sind, die erhaltenen Kredite für den Landkauf zurückzuzahlen, weist bereits auf die nächste Problematik hin, die nach und nach deutlich wird: die neue Agrarschuld, um deren Erlass in wenigen Jahren gekämpft werden wird. Sonst verlieren selbst die wenigen Begünstigten des Landfonds ihre Existenzgrundlage wieder. Um die Rechte der Bäuerinnen und Landarbeiterinnen ist es noch schlechter bestellt. Zwar gab es durch die Einführung der gemeinschaftlichen Besitzurkunden (co-propiedad) für die Frauen gesetzliche Verbesserungen. Dennoch werden diese neuen Regeln nur teilweise umgesetzt (siehe das Interview mit Eulalia Silvestre und Irma Velásquez in diesem Heft). Was die Arbeitsrechte der Frauen auf den fincas angeht, so gilt weiterhin die offen diskriminierende Regelung des Artikel 139 des guatemaltekischen Arbeitsgesetzbuches, nach dem die Frauen in den fincas nicht als eigenständige Landarbeiterinnen mit den gleichen Rechten und Lohnansprüchen wie die Männer anerkannt werden, sondern als Helferinnen (coadyuvantes) ihres Partners.
Zu den Landrechten der indigenen Bevölkerung haben die Berichte der UN-Mission immer wieder und bis auf den heutigen Tag erfolglos die Umsetzung der entsprechenden Bestimmungen aus dem Abkommen über die Identität und die Rechte der indigenen Bevölkerung gefordert. Weder wurden die gesetzlichen Regelungen erlassen, um die traditionellen Landrechte der indigenen Bevölkerung anzuerkennen, noch wurden signifikante Anstrengungen unternommen, um geraubtes Land zurückzugeben, noch wurden, wie es in dem Abkommen steht, besondere Anstrengungen unternommen, um den Landzugang für indigene Gemeinden zu ermöglichen. Ein illustrativer und geschichtsträchtiger Fall ist die Finca La Perla im Quiché. In den Zeiten des Konfliktes wurden die Finca La Perla und die Massaker in ihrem Umfeld zu einem Symbol der brutalen Repression gegen die umliegenden ixil-Gemeinden. Alle Versuche seit dem Ende des Krieges, die relativ leicht zu erforschende illegale Aneignung von indigenem und kommunalem Land durch die Finca La Perla rückgängig zu machen, sind bislang erfolglos geblieben. Insbesondere die staatliche Landkonfliktschlichtungsstelle Contierra hat zwar den Fall untersucht, eine ernsthafte politische Initiative traut sie sich jedoch nicht zu. Die Landfrage kann letztlich nicht geklärt werden, solange die Machtfrage so eindeutig zugunsten derjenigen Strukturen und Gruppen beantwortet wird, die daran interessiert sind, dass sich gar nichts ändert.
Als hoffnungsvoller Indikator ist immerhin zu verzeichnen, dass sich in den letzten Jahren zwei wichtige Bündnisse immer stärker mit Protesten und politischen Vorschlägen in die öffentliche Debatte eingeschaltet haben: die nationale Koordination der Bauernorganisationen CNOC, die einen Entwurf für eine umfassende Agrarreform in Guatemala entwickelt hat und politisch vertritt, und die Plataforma Agraria, die sich mit politischen Initiativen zur Überwindung der Kaffeekrise und Vorschlägen zur ländlichen Entwicklung profiliert hat. Die Zwischenbilanz des Friedensprozesses im Hinblick auf die Landfrage ist dürftig. Doch wird es der guatemaltekischen Regierung kaum möglich sein, sich auf Dauer gegenüber den offenkundigen Konflikten zu verschließen.