Die beiden Kasseler Romanisten Patrick Eser und Jan-Henrik Witthaus sind Herausgeber eines informativen Buches, das die seit einigen Jahren zu beobachtende Rechtswende in Lateinamerika aus politikwissenschaftlicher, kultureller, soziologischer und (literatur)-historischer Sicht unter die Lupe nimmt.
Die zwölf Autor*innen untersuchen wechselseitige Einflüsse zwischen Lateinamerika und dem Norden (Trump, europäischer Rechtspopulismus), juristische Kampagnen gegen unliebsame Politiker*innen (lawfare), den grassierenden Antifeminismus, das Ausbreiten evangelikaler Bewegungen oder die Rückkehr des Militäreinflusses in mehreren Ländern. Zudem wird klar, dass dieser Rechtstrend keineswegs ohne Widerstände abläuft. Einige Beobachter*innen sprechen bereits von einer Gegenbewegung und verweisen auf die Proteste in Chile, Brasilien, den erneuten peronistischen Wahlsieg in Argentinien oder den der MAS in Bolivien.
Darüber hinaus befassen sich vier Historiker*innen und Literaturwissenschaftler*innen mit antisemitischen und antipopulistischen Vorbildern in der argentinischen Literatur, dem Einfluss italo-faschistischer Ästhetiken auf den Peronismus oder dystopischen Romanen vom Río de la Plata, die als eine Vorwegnahme der jüngsten Rechtstendenzen gelesen werden können. Die Berliner Literaturwissenschaftlerin Susanne Klengel untersucht gar den ästhetischen Einfluss von Ernst Jünger auf das Werk des chilenischen Autors Roberto Bolaños. Dieser interdisziplinären Herangehensweise in der Interpretation der Rechtswende liegt die Überzeugung zugrunde, dass nicht nur den harten Fakten wie Besitz- und Machtverhältnissen eine Bedeutung zukommt, um gesellschaftliche Entwicklungen zu beschreiben, sondern auch der „Software“, etwa kulturellen Programmen und Ästhetiken.
In einem lesenswerten Aufsatz beschreibt der Marburger Soziologe Dieter Boris die lateinamerikanischen Pendelbewegungen, die Rechts- und Linkstendenzen der letzten Jahrzehnte. Er sucht nach Gemeinsamkeiten in Bolivien, Brasilien oder Ecuador. Die zu Beginn der 2000er-Jahre aufkommenden Linksregierungen geraten dort spätestens ab 2015 aufgrund des Umschwunges in der Weltkonjunktur, des damit einhergehenden Preisverfalls für Rohstoffe und dem darauf folgenden Einbruch der Binnenmarktentwicklung unter Druck. Die gerade in den Mittelstand aufgestiegenen ärmeren Schichten empfinden ihre Verhältnisse als prekär und suchen ihr Heil in rechten Alternativen. Konservative Regierungen übernehmen in den folgenden Jahren wieder die Macht.
Parallel dazu verliert das demokratische politische System durch Korruption und Nepotismus der herrschenden Parteien an Ansehen, und das Militär kehrt wegen der Ausbreitung von Kriminalität und Gewalt sowie der Ineffizienz der Politik als deren „Kooperationspartner“ zurück. Die Bekämpfung der Befreiungstheologie seit Mitte der 1980er-Jahre habe schließlich dem raschen Wachstum evangelikaler Gruppierungen wie der „Pfingstkirche mit ihrer Proklamation der Theologie der Prosperität“ Vorschub geleistet.
Der Kasseler Politikwissenschaftler Hans-Jürgen Burchardt fragt nach der Verantwortung der progressiven Regierungen für Lateinamerikas Rechtsruck und identifiziert in seiner Analyse die Punkte, die ihn begründen. Die Linksregierungen versäumten es, durch ein gerechtes Steuersystem Umverteilung oder den Abbau von Ungleichheiten herbeizuführen. Sozialleistungen seien noch immer an formale Beschäftigungsverhältnisse gekoppelt und die Hälfte der Erwerbstätigen, im informellen Sektor tätig, falle durch die exklusiven Sozialsysteme. Über 120 Millionen meist junge Lateinamerikaner*innen steckten in prekären Arbeitsbeziehungen, verdienten wenig und seien „für die wirtschaftliche Entwicklung der Region kaum relevant“. Zudem stellten progressive Regierungen wie die von Evo Morales in Bolivien den eigenen Machterhalt in den Vordergrund und legten autoritäre Tendenzen an den Tag, etwa bei der Bekämpfung sozialer Bewegungen, die das extraktivistische Entwicklungsmodell infrage stellten. Krisenzeiten bringen in Lateinamerika auch produktive Antworten hervor, so Burchardt. Er verweist auf neue Ideen und Partizipationsformen, den schonenden Umgang mit der Natur als Rechtssubjekt und die indigene Kosmovision des „Guten Lebens“. Dem Kontinent komme bei unserer derzeitigen zentralen Aufgabe, soziale Kohäsion und ökologische Nachhaltigkeit zu versöhnen, eine zentrale Rolle zu.
Die Lektüre lohnt sich, denn wir erhalten klare Antworten auf viele wichtige Fragen und Orientierung bei manch undurchsichtigen Entwicklungen.