Für Eduardo Galeano war er ein Seeräuber, der im Auftrag nordamerikanischer Bankiers an der Spitze einer Mörderbande über die mittelamerikanischen Länder herfiel, plünderte, brandschatzte und die Bewohner massakrierte. Die Rede ist vom Freibeuter William Walker, der Geißel Mittelamerikas um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Noch heute ziehen die fünf Nationen des Isthmus eine gehörige Portion Stolz, Identität und Bewusstsein aus dem gemeinsamen Kampf gegen die Eindringlinge aus dem Norden. Helden, die sich im Freiheitskampf hervortaten, wurden zu Namensgebern von Flughäfen, Plazas, Überlandstraßen.
Wer war dieser William Walker? Woher kam er und warum dieser Feldzug gen Süden? Dies und noch viel mehr sind die Themen des Romans Pura Vida des französischen Romanciers Patrick Deville (geb. 1957), Vertreter des nouveau roman, also jener neuen Schriftstellergeneration, die weniger Theorie und Gattung als vielmehr wieder die eigentliche Aufgabe des Romanciers, also das Erzählen, in den Mittelpunkt ihres Schaffens stellt. Mit seinem Pura Vida betritt Deville Neuland, sowohl in thematischer wie in gattungstheoretischer Hinsicht, denn er sprengt den Rahmen des historischen, biographischen Romans, Einheit des Ortes, der Zeit und Handlung kommen abhanden, nicht eine Person, vielmehr eine Region bzw. die großen Männer einer Region stehen im Mittelpunkt des Werks. Die abenteuerliche Lebensgeschichte des William Walker gab bereits die Vorlage für eine klassische Romanbiographie und ein Drehbuch ab: Der deutsche Autor Alfred Neumann verfasste in den 40er Jahren im kalifornischen Exil den Walker-Roman „Der Pakt“, und in den 60er Jahren spielte Marlon Brando den Walker in einer Hollywood-Produktion.
Für Deville ist Walker ein verwöhnter Junge aus Nashville, Tennessee, der nie Elend kennen gelernt hatte und in seiner Jugend durch die Lektüre der Romantiker, vor allem seines Vorbilds Lord Byron, erschüttert wurde. Der frühe Tod der einzigen Liebe seines Lebens soll den finsteren jungen Mann in einen furchtbaren, skrupellosen Raubritter verwandelt haben, dessen einziger Wunsch und Ehrgeiz darin bestand, Präsident einer Republik zu werden, weshalb er immer wieder versuchte, Gebiete der südlichen US-Nachbarn zu annektieren. Zunächst in Nieder-Kalifornien und Sonora, mexikanischen Gebieten, die er mit einigen Dutzend Kämpfern aus Europa und Nordamerika eroberte und als präsidiale Republik mit ihm an der Spitze proklamierte, später in Nicaragua und Honduras, wo er schließlich durch die mittelamerikanischen Armeen besiegt wurde. Am 12. September 1860, gerade mal 46 Jahre alt, wurde er in Honduras standrechtlich erschossen.
Zuvor hatte er in den von ihm beherrschten Gebieten, ganz im Sinne der interessierten Investoren aus den Südstaaten, die Sklaverei wieder eingeführt und in Nicaragua die von Cornelius Vanderbildt kontrollierte Transitstrecke für Pferdekutschen zwischen Nicaragua-See und Pazifik an sich gerissen sowie den Bau eines Kanals zwischen den Ozeanen verfolgt. Daher also wehte der Wind! Nicht die großen Vorbilder Bolívar und Morazán mit ihren Einigungsbestrebungen oder der Freund der Griechen, Lord Byron, standen Pate. Das waren nur Walkers Jugendgespinste. Walker war nichts anderes als ein Anhänger oder Interessenvertreter der „manifest destiny“, also jener imperialistischen Idee der „offensichtlichen Bestimmung“, die in der Karibik und in Mittelamerika ein natürliches Anhängsel der nordamerikanischen Union sah.
Pura Vida sprudelt nur so vor Anekdoten, Geschichten, Berichten und Lebensbildern. Der Roman ist kein Epos, kein Lebensbild, kein historischer Roman über William Walker, wie der Untertitel suggeriert. Er ist vielmehr ein Kaleidoskop der Geschichte Mittelamerikas, jener 200 Jahre von der Unabhängigkeit bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. Fast alles, was Rang und Namen hat in der Historie jener Region, wird zum Protagonisten in Devilles Werk, die Guten und die Bösen, die Engel und die Teufel, von Francisco Morazán, dem Helden der Unabhängigkeit, und eben Walker und seiner Bande, über Augusto César Sandino und seinen Mörder, Tacho Somoza, bis hin zu Ernesto Cardenal und Sergio Ramírez. In weiteren Hauptrollen: Simón Bolívar als sterbender Held und Vorbild für die revolutionäre Nachkommenschaft, Che Guevara als Engel der Revolution, Fidel Castro als graubärtiger Kronos und Despot, der Dichter Roque Dalton, Kind und Opfer der salvadorianischen Revolution.
Auch weniger prominente Männer – und um Männer geht es in dem Roman ausschließlich – werden in kurzen Kapiteln („Leben und Sterben des…“) vorgestellt, etwa der in den 90er Jahren zum Tode verurteilte cubanische Geheimdienstler Antonio de la Guardia oder der venezolanische Abenteurer Narciso López, der in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts vergeblich versuchte, Cuba den Spaniern zu entreißen und dabei scheiterte, mit der Folge, dass sich viele seiner (auch deutschen) Kämpfer dem nicaraguanischen Abenteuer des Piraten Walker anschlossen. All diese mittelamerikanisch-karibischen Helden und Antihelden scheiterten. Das Scheitern ist eben ein zentrales Thema des Romans, denn Deville sieht darin offensichtlich weitaus mehr erzählerisches Potenzial als im Triumph, etwa der cubanischen oder nicaraguanischen Revolution, die für Deville ein gescheitertes Experiment darstellen.
Pura Vida ist voller Ironie und Spott, Deville kennt keine Ehrfurcht, weder vor Ernesto Cardenal, über den er sich lustig macht, noch vor Che Guevara, dem gescheiterten Revolutionshelden, den er mit dem gescheiterten Abenteurer Walker vergleicht. Zugleich liefert Deville aber in seinem Roman, der mehrere Lesarten erlaubt, eindrückliche Porträtskizzen lateinamerikanischer Persönlichkeiten, und in denen stecken epische Ansätze, die das Zeug zu großen Romanbiographien haben.
Patrick Deville, Pura Vida. Leben und Sterben des William Walker, Haymon, Innsbruck-Wien 2007, 304 Seiten, 19,90 Euro