In Manfred Eisners Roman „Crescendo bis Fortissimo“ deutet zunächst nichts darauf hin, dass Südamerika und speziell Bolivien für die auftretenden Personen irgendwann einmal eine Bedeutung haben könnte. Schauplatz der Handlung ist vielmehr Oldenmoor, eine fiktive Kleinstadt in Schleswig-Holstein in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts. Dort sind Heiko und Clarissa Keller mit ihren beiden kleinen Kindern zu Hause. Den Kellers geht es gut. Man lebt in gediegener Bürgerlichkeit. Heiko ist einer von zwei Geschäftsführern einer Brotfabrik, Clarissa Lehrerin, die ihren Beruf nach der Geburt ihres ersten Kindes aufgegeben hat. Ihre Familie, das verarmte Adelsgeschlecht derer von Steinberg, opponierte zunächst gegen die Ehe mit Heiko, war aber am Ende froh, dass dieser sie vor dem völligen ökonomischen Absturz bewahrte. Heikos Mutter war ebenfalls eine von Steinberg, die aber von ihren Eltern und Geschwistern geächtet wurde, als sie eine Beziehung zu dem besitzlosen Kunstmaler Oskar Keller einging. Mit ihm zog sie nach Kiel, wo ihr Sohn geboren wurde. Kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs verschwand Oskar Keller unter ungeklärten Umständen, seine Frau nahm sich kurz darauf das Leben. Heiko kam unter die Obhut der von Steinbergs in Oldenmoor, wo er als gerade so geduldete Waise aufwuchs.
Inzwischen scheint sich alles bestens für ihn zu entwickeln. Doch der Nationalsozialismus verändert auch das Leben in Oldenmoor. Ein mutiger Lokalredakteur wird von der Gestapo abgeholt, ein kommunistischer Arbeiter erschossen, ein Pastor, der sich der Bekennenden Kirche anschließt, abgesetzt, ein jüdischer Junge aus der Schule geworfen, dessen Eltern wenig später die Existenzgrundlage entzogen. Auch Heikos Jugendfreund Josef Rembowski, der Besitzer und Mit-Geschäftsführer der Brotfabrik, gerät unter Druck. Als polnischer Staatsbürger soll er nicht länger an der Spitze eines deutschen Unternehmens stehen. Um eine drohende Enteignung zu verhindern, überschreibt er pro forma die Mehrheit der Geschäftsanteile auf Heiko und zieht sich aus der Leitung der Fabrik zurück. Nun verlangen die Nazis von Heiko einen Nachweis seiner „arischen” Herkunft. Doch den kann er nicht erbringen, weil er keine Unterlagen über seinen Vater hat, er weiß nur, dass dieser im vormals österreichischen Böhmen geboren wurde. Da die NS-Behörden ihrerseits jedoch nicht nachweisen können, dass Heiko kein Arier ist (u.a. weil die tschechoslowakischen Behörden sich weigerten, bei Recherchen zur „Sippenforschung“ mit dem NS-Regime zu kooperieren), erhält Heiko schließlich einen „einstweiligen Abstammungsbescheid als vorbehaltlich nachgewiesener Arier“. Damit ist er zwar kein vollwertiger „Volksgenosse“, darf aber einen Betrieb besitzen und führen.
Anders als die Nazis kann Heiko in eigenen Nachforschungen seinen biographischen Hintergrund klären. Er findet heraus, dass sein Vater Jude war. Sobald dies den Behörden bekannt würde, wäre er nicht mehr der angesehene Bürger, sondern ein gefährdeter Halbjude.
Inzwischen befinden wir uns im Jahr 1938. Nach der Besetzung Österreichs greifen die Nationalsozialisten auch nach der Tschechoslowakei. Für Heiko ist es nun nur eine Frage der Zeit, bis diese auf seine jüdische Wurzeln stoßen.
Er beginnt seine Ausreise aus Deutschland vorzubereiten. Noch ist er nicht den Schikanen und der bürokratischen Ausplünderungsmaschinerie ausgesetzt, die den Juden und Jüdinnen die Flucht erschweren. Sein Freund Josef Rembowski lebt inzwischen in Bolivien, ein ehemaliger Schulkamerad ist nach England emigriert. Beide unterstützen Heiko von ihren Exilorten aus bei der Beschaffung der notwendigen Papiere. So gelingt ihm Anfang 1939 die Ausreise, bevor seine jüdische Abstammung den Behörden bekannt wird. Über London und Buenos Aires flieht er nach Bolivien, einem der wenigen Länder, die 1939 ihre Grenzen für jüdische Flüchtlinge nicht dicht gemacht hatten, sondern sie willkommen hießen, wenn sie angaben, in der Landwirtschaft arbeiten zu wollen. Ob sie tatsächlich landwirtschaftliche Kenntnisse hatten, wurde glücklicherweise nicht überprüft.
Weitaus schwieriger gestaltet sich die Emigration seiner Frau Clarissa und der Kinder, weil ihre Ausreise zunächst durch den deutschen Überfall auf Polen verhindert wird. Zwar sind sie im Besitz eines Transitvisums für die Niederlande, dieses verliert jedoch durch den Kriegsbeginn seine Gültigkeit. Auch ein zweiter Versuch einer Schiffspassage ab Genua scheitert zunächst. Erst im dritten Anlauf können sie 1940 mit dem (sprichwörtlich) letzten Schiff, das von Italien nach Südamerika fahren kann, Europa verlassen und über den chilenischen Hafen Arica Heiko nach Bolivien folgen.
Der Autor Manfred Eisner weiß, worüber er schreibt, wenn er die Themen Nationalsozialismus, Flucht und Exil aufnimmt, denn sie haben auch seine eigene Biografie bestimmt. Er ist der Sohn des in Böhmen geborenen Dirigenten und Komponisten Erich Eisner, der in der Weimarer Republik als Kapellmeister bei verschiedenen Orchestern in Österreich und Deutschland tätig war. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten durfte Erich Eisner als Jude nicht mehr als Dirigent an öffentlichen Bühnen arbeiten. Er leitete daraufhin das ambitionierte Orchester des Jüdischen Kulturbundes in Bayern. Nach der Reichspogromnacht im November 1938 wurde er verhaftet und ins KZ Dachau verschleppt. Unter der Bedingung, Deutschland umgehend zu verlassen, kam er 1939 frei und konnte nach Bolivien emigrieren. Einige Monate später folgten ihm seine Frau und sein 1935 geborener Sohn Manfred. Bis zu seinem Tod 1956 spielte Erich Eisner eine herausragende Rolle im bolivianischen Musikleben. Er baute in La Paz das Orquesta Sinfónica Nacional auf und wurde sein erster Chefdirigent. Als Dank und Ehrerbietung an sein Zufluchtsland komponierte er 1942/43 die Cantata Bolivia, ein eindrucksvolles Werk für Solostimmen, Chor und Orchester auf Texte der bolivianischen Lyrikerin Yolanda Bedregal, das vom öffentlichen Konzertbetrieb in Deutschland leider bisher weitgehend ignoriert wird.
Manfred Eisner übersiedelte nach dem Tod seines Vaters in die Bundesrepublik, wo er viele Jahrzehnte als Lebensmittelingenieur tätig war. In den letzten Jahren widmete er sich verstärkt dem Schreiben und veröffentlichte zwei Romane, in deren Mittelpunkt Heiko und Clarissa Keller sowie das ländliche Schleswig-Holstein stehen, wo er heute lebt.
Im vorliegenden Roman gelingt es Eisner darzustellen, wie der Nationalsozialimus in das Leben von Menschen eingreift, die dachten, sie könnten sich irgendwie mit dem Regime arrangieren. Durch den gelungenen Kunstgriff, dass Heiko Keller zunächst nichts über seine jüdische Herkunft weiß, geht er zunächst davon aus, dass er nichts zu befürchten hat. Zwar steht er von Beginn an dem Nationalsozialismus kritisch gegenüber, verhält sich aber politisch unauffällig und wähnt sich in Sicherheit. Er ahnt nicht, dass ihn der Ortsgruppenleiter der NSDAP und ein Richter argwöhnisch beobachten und versuchen, belastendes Material zusammenzutragen, der eine, weil er einen Groll gegen Clarissa hegt, der er unterstellt, seinen Sohn in der Schule ungerecht behandelt zu haben, der andere, weil er Heiko nicht verzeihen kann, dass sich Clarissa für diesen entschieden hat, obwohl auch er sie umworben hat.
In einem Interview vor vielen Jahren sagte mir der Schauspieler und Dramatiker Peter Lehmann, der in Chile als Kind jüdischer Emigranten geboren wurde und aufwuchs, an den deutschen Romanen und Erzählungen über die NS-Diktatur fehle ihm ein wesentliches Element, das lateinamerikanischer Belletristik über die Militärdiktaturen fast immer innewohne, nämlich die Entzauberung der Täter. In der deutschen antifaschistischen Literatur seien die Nazis immer brutal, zynisch, unberechenbar und ideologisch verbohrt, was sie zweifellos gewesen seien. Aber sie seien auch kleinkariert, von Neid zerfressen, korrupt und häufig armselige Gestalten gewesen. Das aber lese man fast nie. Ich war damals von dieser Aussage überrascht und als ich darüber nachdachte, fielen mir als Gegenargument nur die Exilromane der Kölner Autorin Irmgard Keun ein, die für mich zum Besten gehören, was über den Nationalsozialismus geschrieben wurde. In Manfred Eisners Roman finde ich nun auch solche spießigen Nazis, Menschen, zu deren Wesen es gehört, beleidigt zu sein, und die es anderen übel nehmen, dass sie erfolgreicher oder lebenstüchtiger sind. Zudem eignen sie sich mit widerrechtlichen Tricks das Vermögen der Verfolgten an, im konkreten Fall das Haus des inhaftierten Lokaljournalisten. Zu den Stärken des Romans zählen auch kleine Details, wie etwa die Erwähnung, dass Heiko auf seiner mehrtägigen Bahnfahrt von Buenos Aires in Richtung La Paz von einem jüdischen Mitreisenden in die Grundlagen seiner Religion eingeführt wird. Viele assimilierte Juden und Jüdinnen in der Weimarer Republik hatten mit den religiösen Traditionen wenig am Hut. Erst als sie von den Nazis zu Juden gemacht und – im günstigsten Fall – aus Deutschland vertrieben wurden, begannen sie sich für die Religion als eine Grundlage der jüdischen Identität zu interessieren.
Das deutsche Umfeld in der Kleinstadt Oldenmoor kommt im Roman gut, für mich etwas zu gut weg. Wer kein überzeugter Nazi und Parteigenosse ist, steht dem Nationalsozialismus kritisch gegenüber. Die meisten halten sich nur aus Angst zurück. Zwar wird mehrfach in Gesprächen bedauert, wie viele Leute den Nazis hinterherliefen, aber im Buch begegnen uns fast nur anständige Menschen. Selbst manche Nazis, wie ein ortsansässiger Fotograf oder der erwähnte Amtsrichter, unterstützen schließlich die Ausreisebemühungen von Heiko beziehungsweise Clarissa Keller. Auch wenn es wichtig ist, an diejenigen zu erinnern, die Verfolgte unterstützt haben, ihnen hat Manfred Eisner den Roman gewidmet, soll nicht der Eindruck entstehen, dass es sich bei ihnen um mehr als eine mutige kleine Minderheit gehandelt hat. Inzwischen ist vielfach belegt, dass die Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung keineswegs nur von den Partei- und Staatsorganen betrieben, sondern von BerufskollegInnen, MitschülerInnen und NachbarInnen aktiv mitgetragen wurde. Und wenn bei der Versteigerung des Hausrats der aus ihren Wohnungen vertriebenen oder deportierten jüdischen MitbürgerInnen ein Schnäppchen zu machen war, waren längst nicht nur überzeugte NationalsozialistInnen zugegen.
Dieser kleine Einwand schmälert aber nicht die insgesamt gelungene Darstellung des Lebens unter einer Diktatur, die zwar einerseits sehr klar definiert hatte, wen sie zerstören und vernichten wollte, deren Praxis es aber hervorbrachte, dass urplötzlich auch Menschen aus der „Volksgemeinschaft“ ausgeschlossen werden konnten, die sich das nie vorgestellt hätten. Für mich ist es immer wieder faszinierend, dass inzwischen 70 Jahre nach der Zerschlagung der NS-Diktatur noch immer interessante literarische Zeugnisse enstehen und zu entdecken sind, die in der Tradition der Literatur des Exils stehen und darin verwurzelt sind. Manfred Eisners „Crescendo bis Fortissimo“ ist eine solche Entdeckung.