Callao ist der Hafen von Lima. Dort arbeiten viele Menschen, manche leben dort auch, viele kommen jeden Tag aus anderen Barrios zur Arbeit nach Callao. Wenn die besser gestellten Limeños einen Ausflug zum Hafen unternehmen, dann nur zu bestimmten Orten, wo sie sich sicher fühlen. Einer davon ist La Punta, ein Wohnviertel mit wunderschönen Häusern, das aussieht wie ein Stück des schicken alten Viertels San Isidro, aber mitten im Meer. Die BewohnerInnen von La Punta genießen ihre Parks, der Verkehr hält sich in Grenzen und das Leben ist friedlich und sicher.
Ein weiteres klassisches Ausflugsziel für die Limeños ist Real Felipe, eine Festung, die in der Kolonialzeit Callao und Lima vor den Piraten schützte und heute ein Marinestützpunkt ist. Am 2. Mai 1866 leisteten die chalacos (so nennen sich die BewohnerInnen von Callao selbst) von der Festung Real Felipe aus einen derart entschiedenen Widerstand gegen den Beschuss durch die spanischen Kriegsschiffe, dass die Spanier aufgaben und sich auf die Philippinen zurückzogen. Wegen dieser Heldentat wurde Callao zur Provincia Constitucional ernannt, mit eigener Verwaltung und politischer Selbstständigkeit, unabhängig von Lima. Neben dem Fort bieten Ausflugsboote den BesucherInnen Fahrten über die Bucht und zu den vorgelagerten Inseln an. Im Sommer kann man dort Seelöwen beobachten und neben ihnen schwimmen. Seit einigen Jahren ist die Benutzung von Rettungswesten dabei vorgeschrieben.
Bei solchen Besuchen werden das Zentrum von Callao und die verrufenen popularen Viertel gemieden. Wenn jemand Anstalten macht, La Punta oder die Festung Real Felipe zu verlassen, wird ihm geraten aufzupassen. Und so werden diese Ausflüge gemacht, ohne mit einem einzigen chalaco zu sprechen.
Direkt neben dem Fort Felipe beginnt unser Weg in das gefährliche, schlecht angesehene Callao. Neben dem alten Kai (der alten Mole) wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts sehr schöne Häuser gebaut. Guillermo Ronald, ein Immigrant mit schottischen Wurzeln, ließ sich hier ein herrschaftliches Bürogebäude errichten, mit sieben Stockwerken. Innen gab es eine Passage mit Boutiquen, ähnlich wie die italienischen corsos, die sogenannte Pasaje Ronald, mit den Büsten verschiedener berühmter Musiker und Maler.
Ganz in der Nähe, am Eingang zum José-Gálvez-Platz, dem Helden der Schlacht vom Zweiten Mai, verkauften jüdische HändlerInnen Stoffe und es stand dort ein weiteres großes Bürogebäude. Im Lauf der Zeit, als zunehmend mehr chalacos nach Lima zogen und die Kriminalität anstieg, verfiel die Gegend immer mehr. Die Pasaje Ronald wurde geschlossen und der Gálvez-Platz wurde zum Treffpunkt für Betrunkene und Drogenabhängige. Nur noch einige mutige Menschen trauen sich, unter dem Schutz von Polizei und serenos (früher waren das Nachtwächter, im Großraum Lima sind serenos heute städtische Angestellte, die mit nichttödlichen Waffen (Druckluftpistolen) ausgerüstet sind und die Unsicherheit in den Straßen bekämpfen sollen), die alten Häuser bei den Rundgängen zu besichtigen, die die Stadt einmal im Jahr organisiert.
Mitten im Zentrum von Callao, in einem Haus in der Moctezuma-Straße, findet man das Restaurant El Rincón de Santiago, nur eine Straße vom Markt entfernt. Ein Besuch dieses Restaurants führt mitten in eine echte chalaco-Erfahrung. Das Restaurant liegt im Patio eines einstöckigen Hauses. Es besteht aus Erde, die Wände aus Holz und Pappe, zusammengehalten mit Nägeln und Kronkorken. Ein kleiner Vorhang trennt die Tische des Speisesaals von dem Wohnzimmer, wo die Familie fernsieht. Wenn es sehr voll ist, kann man auch dort essen. Ein großes Foto zeigt Santiago, den verstorbenen Inhaber, der nicht nur Koch, sondern auch Unterstützer des Fußballclubs Porteño („Die vom Hafen“) war. Der Club löste sich in den 70er-Jahren auf.
Die Besitzerin des Hauses, die Witwe von Santiago, bereitet nur drei Gerichte zu: cebiche (Salat aus in Zitronensaft marinierten Meeresfrüchten, ursprünglich roher Fisch), jalea und sudado (Suppe mit Fisch oder Fleisch), in großen Portionen, nicht auf einzelnen Tellern. Ihr Sohn oder ihre Schwiegertochter kalkulieren dann die Portionen nach Größe und Volumen der Gäste. Für Sie passt ein cebiche für 25, heißt es dann. Die Portion, die für drei reicht, kostet weniger als ein Einzelgericht in einer cebichería in San Isidro und die Würzung ist viel authentischer. Die Señora hat ihren eigenen Stil, so gibt es zu cebiche Bratkartoffeln anstelle der Yucca, die normalerweise dazu serviert wird. Die meisten BesucherInnen des Rincón de Santiago sind Männer, und sie trinken zu ihrer cebiche Bier oder Inca Kola. Es ist kein Restaurant, in das man mit Kindern geht oder um seine Freundin zu beeindrucken. Viele kommen direkt nach dem Fußballspiel zum Essen.
Manchmal trifft man dort auch Menschen, die aus Nostalgie nach Callao zurückkommen, wie die drei älteren Herren im terno (dreiteiliger Anzug), die wir dort treffen. Wie so viele andere, haben sie Callao in den 50er- oder 60er-Jahren verlassen. Sie erzählen, dass Santiago früher in einem Restaurant gekocht hat, das vor allem Italiener besuchten. Als diese wegzogen, machte das Restaurant zu und Santiago begann, zu Hause zu kochen.
Sie erinnern sich daran, dass Callao nie ein sicherer Ort war, in der Nähe des Marktes gab es auch früher Überfälle und Betrunkene. Der Unterschied zur heutigen Situation, erklären sie uns, seien die Drogen, die schafften mehr Gewalt, und die Bandenkriminalität. Viele Jugendliche wüchsen in einer Umgebung auf, wo die Kriminalität der einzige Ausweg zu sein scheint. Zum Abschluss warnen uns die drei Herren noch: „Uns tun sie nichts, weil sie uns kennen, aber passen Sie bloß auf!“
Wenn wir den Rincón de Santiago verlassen und einen Häuserblock weitergehen, finden wir in der Avenida Saénz Peña den wichtigsten Markt der Provinz. Das Gebäude stammt aus den 30er-Jahren. Es ist ein luftiger und inspirierender Ort, wo man fast alles findet: von Karnevalsverkleidungen für Kinder bis zu Obst und Gemüse. Es gibt auch Stände mit CDs und Kassetten, spezialisiert auf Salsa.
Besonders interessant sind die Stände der SchneiderInnen. Es ist einfach, sich dort einen Dreiteiler oder ein Kleid anpassen zu lassen. Eine andere Besonderheit sind die chicharrones, Stände, wo ältere Chinesinnen Brot mit chicharrón (geröstetes Schweinefleisch) und anderen Füllungen verkaufen. Auch die Fruchtsäfte sind phänomenal.
Die Fußgängerzone rund um den Markt von Callao ist voller Leben, nirgendwo ist Polizei zu sehen oder irgendein Hinweis, darauf, dass die Gegend gefährlich ist. Es gibt auch Stände, die sehr sittenstrenge evangelikale Filme verkaufen.
Ein obligatorischer Halt ist das Chinarestaurant Chau in der Cochrane-Straße, nicht so sehr wegen der chaufa (chinesisch-peruanisches Reisgericht) oder den tallarines (Spezialnudeln), sondern weil es hier den besten chinesischen Kuchen in diesem Teil der Welt gibt. Es gibt die besten corbatas, pasteles de Belén, frejol colado, min paos mit unterschiedlichen Füllungen. Alles hergestellt von einer alten Chinesin, die dort ständig sitzt, während ihre Enkelin den Kuchen serviert.
Seit einigen Monaten gehört zu einem Streifzug durch Callao auch ein Besuch des historischen Zentrums, denn die wichtigsten Gebäude sind renoviert worden und es haben sich dort Kunstgalerien niedergelassen. Die legendäre Pasaje Ronald ist heute ein Ort, an dem KünstlerInnen ihre Werke ausstellen, darunter der berühmte Bildhauer Víctor Delfin. Es gibt dort auch ein Sushi-Restaurant und andere Feinschmeckerläden. Mehrere Gebäude des historischen Zentrums von Callao sind von einer Künstlergruppe restauriert worden, die sich Callao Monumental nennt. Ein altes Hutgeschäft, das fast ein Jahrhundert geschlossen war, ist heute ein Café. Das Gebäude der Hafenbehörde ziert inzwischen ein buntes Graffito. In einer Gegend, die bis vor kurzem völlig heruntergekommen war, herrscht heute plötzlich Wohlstand, und, noch erstaunlicher, Sicherheit. Wir laufen durch zwei Sträßchen, die mit Graffiti bedeckt sind, bis zum José-Gálvez-Platz, der seine schönen Gartenanlagen behalten hat. Die Läden der jüdischen HändlerInnen sind verschwunden, aber nirgendwo hat man den Hauch eines Risikogefühls. Man sieht gut gekleidete Leute mit Kindern an der Hand, wo man vor nicht mal drei Monaten in ständiger Alarmbereitschaft war und das ohne jede Präsenz von Polizei, serenos oder privaten Wachleuten.
„Wie habt ihr das geschafft?“, fragen wir einen der Künstler.
„Wir arbeiten mit den Leuten. Jetzt haben sie Arbeit.“
Tatsächlich sieht man einige Jugendliche aus der Gegend, die jetzt als Stadtführer bei den Graffiti-Touren auftreten, die zurzeit bei den Limeños in Mode gekommen sind.
„Und die Häuser? Was ist mit den Leuten, die da gewohnt haben?“
„Alle Häuser, die wir benutzen, waren verlassen. Sie gehören der Stadt oder den Sozialbehörden. Wir haben sie nur restauriert.“
In manchen Häusern wohnen die Menschen aus dem Viertel noch. Manchmal bitten sie die KünstlerInnen um ein Graffito oder Wandbild, das an einen Familienangehörigen erinnern soll.
„Die Leute sind zufrieden, weil sie jetzt Arbeit haben und besser leben“, erklärt uns der Künstler.
Die BewohnerInnen des nun künstlerisch aufgewerteten historischen Viertels von Callao finden es toll, dass die Straßen jetzt schöner und sicherer sind und sich sogar mal eine Gruppe von Graffititouristen hierher verirrt. Den Begriff „Gentrifizierung“ haben sie noch nicht gehört. Dabei wird sich wohl auch Callao diesem Schicksal nicht entziehen. Großinvestor ist der israelische Unternehmer Gil Shavit. Er hat die Galerie Ronald im alten Stil neu hergerichtet und darin Kunstgalerien und Gourmettempel installiert. Die Graffiti wurden von KünstlerInnen aus ganz Lateinamerika im Rahmen von internationalen Graffitifestivals gemalt. Bisher trauen sich noch nicht allzu viele Limeños in das immer noch anrüchige Callao. Aber dies kann sich schnell ändern, wenn die Kunstszene sich dort einmal etabliert hat. Dann gewinnen die alten heruntergekommenen Häuser an Wert, und die bisherigen BewohnerInnen, die bisher keine oder ganz wenig Miete bezahlen, werden es sich nicht mehr leisten können, in Callao zu wohnen.
Noch hat Callao von beidem: neue aufregende und fast leere Galerien, und unbekümmerte BewohnerInnen, die am Sonntagmorgen mit ihren Hunden auf der Plaza herumlümmeln, dich um einen Sol anbetteln und meinen, „Gentrifizierung“ sei eine neue Fernsehserie. Aus den bunt bemalten alten Gebäuden mit der Wäsche vor den Fenstern erschallt am Sonntagmittag bereits laute Salsa-Musik. Ein Hauch von Havanna am Pazifik. Noch.
Was im gut katholischen und bigotten Lima die Heilige Rosa für die Reichen und Weißen ist, das ist Sarita Colonia für die Armen, Schwarzen, Entrechteten und Halunken dieser Stadt: die Volksheilige, vom Vatikan nie anerkannt, aber bei den Limeños präsent als Bildchen in den Stadtbussen, als Wandmalerei, als Devotionalie. Sarita Colonia, die Migrantin aus den Bergen von Huaraz, Waise, Kindermädchen, mit 26 Jahren im Jahr 1940 an Malaria gestorben und in einem Massengrab verscharrt, ist die eigentliche Heilige der PeruanerInnen. Sie hat keine Wunder gewirkt, sie war nicht berühmt, noch hat sie zu Lebzeiten Außergewöhnliches getan, das ihre große Verehrung erklären würde. Ihr – fiktives – Grab auf dem Friedhof Baquijano von Callao ist heute ein Mausoleum und eine Pilgerstätte für alle Mühseligen und Beladenen Limas. Als vor 30 Jahren viele PeruanerInnen aus der Not heraus das Land verließen, wurde Sarita, die Migrantin von den Bergen, auch zur Schutzheiligen der peruanischen MigrantInnen im Ausland. Das Gesicht der unscheinbaren jungen Frau mit den langen schwarzen Haaren findet man nicht nur am Friedhof, sondern auch im Gefängnis in Callao, das ihren Namen trägt.
Und, so will es eine Stadtlegende, wer verhindern will, dass die Männer an ihre Hauswand urinieren – der malt darauf einfach ein Bild der Sarita Colonia. Vor dem unschuldig dreinblickenden ausdruckslosen Bildnis der Sarita Colonia knicken in Lima auch die schwersten Jungs ein.