Wer war diese Gego, die diesen Namen offenbar erst in Venezuela annahm? Sie selbst äußerte sich wenig zu ihrer Vergangenheit. 1987 erhielt Gego einen Brief von Professor Trapp, der Studien über die Schicksale der aus Hamburg vertriebenen JüdInnen durchführte und sie um Auskunft über ihre Erfahrungen bat. Fast zwei Jahre hindurch schrieben sich die beiden. Der Professor bat in den Briefen um eine persönliche Biographie Gegos dieser Jahre, schickte Fragebögen, die vor allem die Umstände der Emigration erforschen wollten. Gego wich aus, sagte, sie habe zu viel zu tun, sie müsse ihren Nachlass für Kinder und Enkel ordnen. Dennoch beantwortete sie seine Fragen – nur schickte sie ihm nie die Antwort. Insgesamt drei Versionen dieser von Trapp erbetenen Biografie fanden sich in ihrem Nachlass – sie starb am 17.9.1994 in Caracas. 1999 erhielt die nach ihrem Tod in Caracas gegründete Stiftung Gego einen Koffer, in dem Gego zeitlebens eigene Texte, Gedankensplitter, für sie wichtige Briefe und Korrespondenzen aufgehoben hatte, die sie sabidurías nannte. Aus diesen Selbstzeugnissen entstand 2005 das englisch/spanische Buch Sabidurías and other texts by Gego. In dem liebevoll von María Elena Huizi und Josefina Manrique editierten Buch ist die ausführlichste Version des nie abgeschickten Briefes nachgedruckt. Danach hatte sie die antisemitische Verfolgung so erlebt:
Gegos jüdische Familie war seit langem in Hamburg ansässig. Ihr Urgroßvater gründete 1815 das Bankhaus Goldschmidt & Sohn. Sie kam als sechstes von sieben Geschwistern zur Welt, besuchte zunächst die Stadtschule und bekam später Privatunterricht, da sie „zart und empfindlich“ war. Noch später besuchte sie eine Privatschule, wo sie sich langsam zum Enfant terrible entwickelte, wie sie selbst schrieb, mit starker Neigung zu eigenen Meinungen. Mit 16 Jahren wollte sie die letzten drei Jahre an der Lichtwarkschule absolvieren, bekam aber keinen Platz und wehrte sich mit Händen und Füßen gegen eine Mädchenschule. Daraufhin lernte sie zu Hause für das externe Abitur, durch das sie beim ersten Versuch durchfiel. Die Mutter kommentierte diese Nachricht mit den Worten: „Wie gut, dann bleibst du noch eine Zeit lang zu Hause“.
Gego hatte sich schon früh für Kunst interessiert, war mit Architekturstudenten befreundet und entschloss sich deshalb, in Stuttgart Architektur zu studieren. Sie schreibt, sie habe während ihres Studiums – es begann im Wintersemester 1932/33 – nie antisemitische Äußerungen von Professoren oder KommilitonInnen erlebt, sei aber auch allen Aktivitäten aus dem Weg gegangen und arbeitete, wenn möglich, zu Hause. Im August 1938 sei ihr plötzlich klar geworden, wie sehr sie in Gefahr schwebte, und sie fragte bei ihrem Professor Paul Bonatz nach. Dieser wusste bis dahin angeblich nicht, dass sie Jüdin war, und versprach, sich im Ausland nach Arbeitsmöglichkeiten für sie umzuhören. Unter den Professoren gab es dann ein Abkommen, ihr so rasch wie möglich alle Arbeiten zum Abschluss zu geben, damit sie ihr Diplom vor ihrer Ausreise machen konnte. „Nicht alle Deutschen waren Nationalsozialisten“, schreibt sie. Mit der Bescheinigung, dass sie ihre Studienfächer abgeschlossen habe, bewarb sie sich bei allen potentiellen Auswanderungsländern um eine Arbeitserlaubnis. Das erwies sich aber 1938/39 als schwierig.
In die USA wollte sie nicht, „aus Idiosyncrasie gegen dieses Land“. Lakonisch beschreibt sie, wie sie Verwandte im „jüdischen Gemeindehaus“ besucht, wohin diese zwangsweise umziehen mussten, und andere am Kai verabschiedet, denen die Ausreise glückte. Sie beschreibt nüchtern, wie sie auf Familienbesuch in München am Tag nach der Kristallnacht knapp den Nazis entkam und wie es den anderen Familienmitgliedern erging, die auch alle entkommen konnten. Ein Schwager, der als Anwalt mit der Gestapo Kontakt hatte, um JüdInnen die Auswanderung zu ermöglichen, wurde zwar verhaftet, aber wieder freigelassen. Ihre Eltern bekamen im März 1939 ein Einreise-Visum nach England. Gego blieb, um den Verkauf und die Auflösung von Hab und Gut und die Finanzangelegenheiten zu regeln. Da bekam sie ein Arbeitsangebot in Caracas, Venezuela – die Antwort auf die vielen Anträge, die sie gestellt hatte. Sie schreibt: „Lateinamerika war mir nie als Ziel vorgeschwebt.“
Sie schloss das Haus ab, warf die Schlüssel in die Alster und fuhr allein mit dem Schiff zunächst nach Southampton, wo sie Familie hatte. Sie hatte aber nur ein Durchreisevisum für England. Da alle Versuche scheiterten, ein anderes Einreiseland als Venezuela zu finden, entschloss sie sich, doch dorthin zu gehen, ohne zu wissen, wer denn dieser Salomon war, der ihr eine Arbeit angeboten hatte, und ohne ein Wort Spanisch zu sprechen. In Caracas wohnte sie zunächst in deutschen Pensionen und entdeckte, dass Salomon nicht wirklich Arbeit für sie hatte. Sie versuchte also, Arbeit als Architektin zu finden, und nach mehreren Monaten Suche gelang ihr das auch. Sie lernte nach wenigen Monaten in Caracas über deutsche Emigrantenkontakte ihren späteren Ehemann Ernst Gunz kennen, der mit seiner Familie ebenfalls nach Caracas emigrieren musste. Sie bauten zusammen eine Tischler- und Lampenwerkstatt auf. Gego bekam zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter. Nach der Geburt des zweiten Kindes löste sie die Werkstatt auf, und ihr Mann übernahm Import- und Exportvertretungen. 1951 trennte sich das Ehepaar, 1953 erfolgte die Scheidung.
Soweit die frühe Biografie gemäß dem nie abgeschickten Brief an Professor Trapp. 1952 lernte sie den Designer, Fotografen, Graphiker und Journalisten Gerd Leufert kennen und lieben. Mit ihm blieb sie bis zu ihrem Lebensende zusammen. Beide arbeiteten auch künstlerisch sehr produktiv zusammen, viele Projekte, vor allem Außenarbeiten wie öffentliche Skulpturen oder Fassaden, schufen sie gemeinsam (z.B. Edificio Cediaz, Avenida Casanova, Caracas, und Edificio Ince, Avenida Nueva Granada, Caracas). Gerd Leufert wurde 1914 in Memel geboren, studierte Kunst in Hannover und München und wurde Werkbund- Mitglied. Er nahm am Zweiten Weltkrieg als Soldat teil und arbeitete nach dem Krieg als Graphikdesigner. 1951 zog er nach Venezuela, angezogen von dem neuen Ölreichtum.
Beide zogen 1953 nach Tarma an der venezolanischen Küste, wo Gego anfing, zu malen und Holzschnitte herzustellen, inspiriert von der tropischen Umgebung. 1956 kehrten beide nach Caracas zurück, und Gego begann, Unterricht zu geben. 1958-59 war sie als Professorin für Bildhauerei an der Escuela de Artes Plásticas in Caracas tätig, 1961-67 als Professorin für Grundlagen-Gestaltung an der Architekturfakultät der Zentraluniversität von Venezuela, 1964-77 außerdem als Dozentin in dem von ihr mitbegründeten Instituto de Diseño in Caracas. Sie unterrichtete nicht nur, sondern probierte die unterschiedlichsten Kunstformen aus, sie illustrierte Bücher und Zeitschriften, experimentierte mit Graphik und Metall, stellte Lithographien her, führte Serigraphien auf Seide aus und entwarf Teppiche. Es wurden schon in den 60er und 70er Jahren Filme über sie gedreht, die venezolanische Tänzerin und Choreographin Sonia Sanoja tanzte 1977 die Choreographie Coreogogo in Gegos retrospektiver Ausstellung im Museum für zeitgenössische Kunst in Caracas.
Gego beschäftigte sich theoretisch und praktisch mit allen möglichen Kunstrichtungen, unterrichtete und lernte gleichzeitig. Sie hatte zahlreiche Arbeitsaufenthalte außerhalb Venezuelas, vor allem in den USA, meist zusammen mit Gerd Leufert. 1959-60 z.B., als sie u.a. in der Graphik-Werkstatt des argentinischen Künstlers Mauricio Lasansky in Iowa arbeitete, 1962-64 bereiste sie mit einem venezolanischen Stipendium Europa und die USA, 1963 druckte sie Graphiken in New York im Pratt Institute, und 1966-67 war sie als Gastkünstlerin in Los Angeles im Tamarind Lithography Workshop. 1980 gründete sie zusammen mit anderen Künst-lerInnen den Taller de Artistas Gráficos Asociados (TAGA) in Caracas. Zahlreiche Ehrungen und Preise wurden ihr in Venezuela zuteil, nach ihrem Tod 1994 wurde in Caracas das Archivo Fundación Gego gegründet, wo ihr Nachlass verwaltet wird. An vielen öffentlichen Plätzen in Caracas sind ihre Werke zu finden, und in einigen wenigen Museen und öffentlichen Einrichtungen in Venezuela und weltweit, vor allem in den USA. In der Galería de Arte Nacional in Caracas ist ihr seit 1981 ein eigener Saal gewidmet.
Sie war in ihrer neuen Heimat eine wichtige und anerkannte Persönlichkeit als Lehrerin, Künstlerin und Kunst-theoretikerin. Durch ihre intensive theoretische und praktische Auseinandersetzung mit verschiedenen Kunstrichtungen, beeinflusst vor allem von der venezolanischen kinetischen Kunst und dem Bauhaus, begann sie ab den 50er Jahren, ihre in den Raum vorstoßenden dreidimensionalen Arbeiten zu entwickeln, die sie selbst aber nicht als Skulpturen bezeichnete: „Skulpturen sind dreidimensionale Formen aus dichtem Material, nicht das, was ich mache“.
Die Linie wird ihr wichtigstes Ausdrucksmittel. Zunächst parallele Linien aus Aluminium oder Eisen, die frei im Raum stehen; später gekrümmte, geknickte, unregelmäßige Linien aus Stahldraht, die Luftnetze (Recticuláreas) in Räumen spinnen – raumgreifende, netzartige, scheinbar schwerelose Drahtverspannungen, die aus jedem Blickwinkel anders aussehen. Diese Maschenwerke aus Stahl- oder Aluminiumdraht wirken dennoch naturhaft, und so heißen sie auch: Baumstämme (Troncos), Wolken (Nubes), Wasserstrahl/Regenguss (Chorros). Die „Zeichnungen ohne Papier“ (Dibujos sin papel), die sie ab den 70er Jahren schuf, waren eigentümliche Drahtgeflechte, worin sie zunehmend Fundstücke wie Schraubenmuttern, Bügel, loses Haar oder Elemente aus Baukästen verwandte. Ihre Werke wurden spielerischer, nicht nur durch die Bandbreite der Materialien, auch die Formen und Linien wurden organischer. Zuletzt schuf sie teils farbige Flechtarbeiten aus Papierstreifen und Zigarettenstanniolbändchen (tejeduras). Auch diese Werke sind fragile Gebilde aus regelmäßigen und zufälligen, geschlossenen und offenen Linien.
Über Linien hat sie viel nachgedacht. 1953 in Tarma, Kolumbien schreibt sie:
Relaciones de líneas
creadas
ni de la realidad de ver
ni de la realidad de saber
Imagen que disuelve la realidad.
Beziehungen zwischen Linien
geschaffen
nicht aus der Wirklichkeit des Sehens
nicht aus der Wirklichkeit des Wissens
Ein Bild, das die Wirklichkeit auflöst.
Gegos Netze und „Zeichnungen ohne Papier“ sind filigrane, schwerelose Gebilde, die den Raum mit Linien ausfüllen. Sie sind die „Meisterung des Raumes durch den Verstand“ (Gego, Los Angeles, 1966). 1960 bei einem Arbeitsaufenthalt in den USA schreibt sie:
Line as human
means to express
the relation between
points, something
that is entirely abstract
in the sense of not
existing materially in nature.
Line as medium
indicates materially
the relation between
points in space,
expressing visually
human descriptive thought.
Line as object to play with.
Für uns Menschen bedeutet Linie
die Verbindung
zwischen Punkten, etwas,
das völlig abstrakt ist
in dem Sinne, dass es real
nicht in der Natur existiert.
Die Linie als Medium
zeigt materiell
die Verbindung zwischen Punkten im Raum
sie ist der visuelle Ausdruck
des menschlichen beschreibenden
Gedankens.
Die Linie ist ein Objekt zum Spielen.
Gego schrieb und sprach Deutsch (meist mit ihrer Familie), Spanisch (im Alltag) und Englisch (bei ihrer internationalen Arbeit). Gego spielte mit den Linien, materialisierte ihre Gedanken in den Linien, machte das Unsichtbare sichtbar und verwandelte das Erahnte in Wissen, geheimes Wissen. Um ihre oft durchsichtigen Gebilde kann man herumgehen, durch sie hindurchschauen, neue, gedachte Linien erfinden. Sie sind der Anfang vieler weiterer Linien und doch ein geschlossener (manchmal auch offener) Raum. Dabei ist der Raum zwischen den Linien oft wichtiger als die Linie selbst – obwohl er aus Nichts besteht. Das hat ihr ungeheuren Spaß gemacht.