Die erste Übung der fünf Tibeter, einer fernöstlichen Bewegungsfolge, ist der Kreisel. Sie gleicht einem alten Kinderspiel und besteht darin, sich auf der Stelle mit ausgebreiteten Armen im Uhrzeigersinn immer schneller um sich selbst zu drehen. Steht man am Ende wieder still und versucht, sich wieder aus dem Schwindel im Hier und Jetzt zurechtzufinden so ist das ungefähr das Gefühl, das viele der Werke der Ausstellung Vibración bei den BetrachterInnen auslösen. So zum Beispiel die Arbeit Escritura Blanca a Circulos N° 2 (Weiße Schrift in Kreisform Nr.2) von Jesús Rafael Soto. Öl auf Pappe mit Metall und Nylonfäden, eine menschengroße rechteckige Fläche mit senkrechten Nylonfäden, davor geschwungene weiße, buchstabenähnliche Linien. Im Vorbeigehen und aus verschiedenen Perspektiven gerät das Bild (das Bild?) in Bewegung, flirrt, das Auge sucht vergeblich einen Ruhepunkt und der Verstand will entziffern. Ähnliche Effekte lösen die kleinen Bilder von Antonio Asís aus, Gerasterte Chromatismen in verschiedenen Farben, wo Kreise oder Punkte sich miteinander verweben, auflösen und schwindelig machen.
Überwältigend ist die Wirkung des größten Objektes der Ausstellung. Continuel mobile (Fortlaufendes Mobile) von Julio Le Parc ist ein riesiges, gut 15 Meter langes und halb so hohes Rechteck aus spiegelnden, viereckigen Stahlplättchen. Diese sich träge, aber unaufhörlich bewegenden, reflektierenden, Licht zuckenden Plättchen lassen das Auge ruhelos wandern, ähnlich den Lichtern in einer abendlichen Großstadt, wenn man sie von Weitem betrachtet. Der offene, nie endende, unregelmäßige Rhythmus ist beabsichtigt. Dieses Werk wurde 1963 erstmals aufgestellt und ist für den öffentlichen Raum, für ein Museum oder mehr noch für einen öffentlichen Platz in einer Stadt geschaffen, einer modernen lateinamerikanischen Stadt, so wie sie sich die KünstlerInnen damals vorstellten.
Um diese utopische Kunst, die von einer neuen, allgemeinverständlichen Bild- und Formensprache träumte, die über alle sozialen und ethnischen Grenzen hinweg lesbar sein sollte und die (damals) moderne, urbane, industrielle Umwelt abbilden und beeinflussen sollte, zu zeigen und zu vermitteln, wählten die Ausstellungsmacher in der Bundeskunsthalle einen stark didaktischen Ansatz. Ein Rundgang wurde entwickelt, der in einzelnen Stationen vom „urbanen Raum“ über „Linien-„ „Flächen-„ „Gitter-„ und „Sphärenkonstruktionen“ zur „Bewegung“ und „beweglichen Objekten“ führt. Dabei wurde sowohl auf eine chronologische Ordnung als auch auf eine geographische oder kunsthistorische Anordnung verzichtet. Das hat den Vorteil, dass einzelne Werke aufgrund ihrer formalen und/oder ästhetischen Nachbarschaft zusammen präsentiert werden können, so z.B. eine kinetische Arbeit des Argentiniers Julio Le Parc, wo eine Scheibe mit schwarz-weißen Kreisen durch davor montierte spiegelnde Lamellen beim Standortwechsel des Betrachters flirrende Effekte auslöst, ein Foto des Brasilianers Germán Lorca Kurven und Linien, das durch ineinandergreifende Halbkreise (Stühle?) eine ähnliche Wirkung erzeugt, und eine Malerei des ebenfalls in São Paulo lebenden Ubi Bava, Kreise, statisch-dynamisch, in dem bunte Bälle im Inneren eines Kreises zu rotieren scheinen, während der beige-braune Kreisrand statisch scheint. Überall geraten hier Kreisformen und Rundbögen scheinbar in Bewegung, „sphärische Konstruktionen“.
Der Nachteil der Hängung in rein werkorientierten Gruppen ist, dass man sehr wenig über Hintergründe erfährt, über die einzelnen KünstlerInnen, die künstlerischen Gruppierungen und Kunstzentren, die damalige politische und kulturelle Situation in den Städten und Ländern. Ein unbefangener Besucher könnte nach dem Besuch der Ausstellung denken, Lateinamerika sei ein utopischer Ort, eine Art Mega-Bauhaus mit einer klaren, harmonischen visuellen Formensprache, mit abstrakten und beweglichen Strukturen allerorten und futuristischen Städten à la Brasilia, das den ganzen narrativen Ballast vergangener Jahrhunderte zugunsten einer dynamischen, positiven und stark zukunftsgewandten urbanen Kultur über Bord geworfen hätte.
Neben der Konzentration auf die einzelnen konstruktiven Elemente der Objekte wie Linien, Flächen oder Farben werden in der Ausstellung durchgängig abstrakte Fotografien präsentiert. Gleichberechtigt stehen die ästhetisch sehr ansprechenden Fotografien neben den Bildern und Skulpturen. Die neuen Städte wie Brasilia oder der neue Universitätscampus in Caracas, Stahlkonstruktionen, Bahnhöfe, Industrieanlagen, Strommasten, aber auch Treppen, Leitern, Fenster sind für die FotografInnen Impulsgeber. Sie bilden nicht ab, sie wählen ungewöhnliche Blickwinkel und Perspektiven, so dass auch hier Linien, Flächen, Gitter und sphärische Kompositionen entstehen: abstrahierende Fotografien in Schwarz-Weiß.
Auch die FotografInnen konstruieren Bilder und Zeichen einer streng formalen und harmonisch komponierten Welt, stark orientiert an urbanen und industriellen Motiven. Die berühmte Fotomontage Madí von Grete Stern, die Konstraste von Gaspar Gasparín (Tische, Stühle, Schatten) oder das Brasília-Foto von Annemarie Heinrich sollen hier für die vielen anderen, durchaus gleichwertigen Fotokompositionen genannt sein. Diese zahlreichen Fotografien neben die anderen Objekte zu stellen erweist sich als Glücksgriff, es verstärkt, ergänzt und erweitert die Wirkung der anderen Werke.
Drei, eigentlich vier Ausnahmen gibt es in der Ausstellung zu der strengen Ausrichtung an Formen und Strukturen: Die ersten drei sind Künstlerinnen europäischer Herkunft, die vor den Nationalsozialisten fliehen mussten und in Lateinamerika eine jeweils eigene künstlerische Entwicklung nahmen: Die Fotografin Grete Stern aus Wuppertal, die nach Buenos Aires emigrierte, die Architektin und bildende Künstlerin Gertrude Goldschmidt, genannt Gego, die aus Hamburg nach Caracas auswanderte, und Mira Schendel, die aus Zürich über Italien nach São Paulo emigrierte (zu den drei Künstlerinnen vgl. die Beiträge in der ila 338). Ihnen ist jeweils ein eigener Pavillon in der Ausstellung gewidmet, der neben ihren Werken auch ihre persönliche Geschichte in einer Wandtafel nachzeichnet.
Zugleich sind Objekte von ihnen aber auch an verschiedenen Stellen in dem allgemeinen Rundgang ausgestellt, was ihre jeweilige Verbundenheit mit dem künstlerischen Schaffen dieser Epoche der lateinamerikanischen Moderne zeigt. Von Grete Stern sind neben vielen Fotografien und Fotokompositionen in dem ihr gewidmeten Pavillon auch eine ganze Reihe der Fotomontagen zu sehen, die sie von 1948 bis 1951 für das argentinische Frauenmagazin Idilio anfertigte. Dabei ging es um die Illustration der Träume, die die Leserinnen an die Zeitschrift gesendet hatten und die von dem Soziologen Gino Gerrmani analysiert wurden. Diese fantastischen Montagen (z.B. Traum Nr. 31 „Made in England“, einen Frauenkopf an einem Malerpinsel) laden nicht nur zu Spekulationen ein, welcher Traum denn wohl dahintersteckt (in dem Fall ist er leicht zu entschlüsseln, da es der Kopf ihrer auf der Flucht in England geborenen Tochter Silvia ist), sondern bilden auch ein surrealistisches Gegenwicht zu den übrigen streng durchkomponierten abstrakten Arbeiten.
Von Gego sind mehrere raumgreifende Werke in der gesamten Ausstellung verteilt, aus ihren Serien Recticuláreas, Esferas und Dibujos sin papel. In ihrem Pavillon sind ausnahmslos Zeichnungen von ihr zu sehen, die eine durchaus eigenständige Bedeutung haben – bevor Gego mit ihren „Nicht-Skulpturen“ berühmt wurde, war sie für ihre Zeichnungen bekannt. Auch von Mira Schendel, die anders als die beiden Erstgenannten erst in Brasilien zur Künstlerin wurde, sind in der Ausstellung Werke aus den verschiedenen Schaffensperioden zu sehen, die einen guten Überblick über ihre Entwicklung von den ersten Arbeiten über die Einbindung von Schriftzeichen bis hin zur Dreidimensionalität geben.
Die vierte Ausnahme befindet sich ganz am Anfang des Rundgangs: Dort wird zur Einführung unter der Überschrift „Die Schule des Südens“ ein kleines Bild des Uruguayers Joaquín Torres-García Grafismo Inciso con Dos Figuras (Schnittgraphik mit zwei Figuren) von 1930 gezeigt. Torres-García, der wie sehr viele lateinamerikanische KünstlerInnen bis heute den größten Teil seines Lebens in Europa verbrachte, kehrte 1934 nach Uruguay zurück und beeinflusste durch sein Schaffen und durch seine theoretischen Arbeiten mehrere Generationen lateinamerikanischer abstrakter KünstlerInnen. Torres-García wie auch sein Schüler Héctor Ragni, von dem ebenfalls zwei Arbeiten gezeigt werden, integrierte piktografische und andere Schriftelemente in zunehmend abstrakte Kompositionen und war einer der Pioniere der abstrakten Kunst in Lateinamerika. Diese „Einführung“, der man am Ende des Rundgangs wiederbegegnet, schafft eine – wenn auch sehr verkürzte – zeitliche und kunsthistorische Einordnung der Ausstellung.
Die Ausstellung ist ein visuelles, auch spielerisches Vergnügen, sie zeigt einen bisher weitgehend unbekannten Abschnitt der lateinamerikanischen (Kunst-)Geschichte, der nicht nur die lateinamerikanische, sondern auch die europäische Geschichte betrifft.