In dem gerade erschienenen Sammelband werden überwiegend Artikel von lateinamerikanischen und deutschen Autoren vorgestellt, die auf einer Konferenz im Mai 2011 in Kolumbien über das Verhältnis von Linksregierungen und sozialen Bewegungen vorgetragen wurden.
Während Klaus Meschkat auf historische Räteerfahrungen (und deren Scheitern) verweist und die partizipativen Elemente in den neuen Verfassungen ( z.B. Venezuelas) als schwache, aber ausbaufähige Nachklänge an jene beschreibt, geht Andrés Antillano auf die Spezifik der venezolanischen popularen Bewegungen ein, die er von „sozialen Bewegungen“ (in seinem Verständnis) abgrenzt. Er analysiert, warum und wie sich diese zunächst spontanen Proteste der marginalisierten und verarmten Bevölkerungsteile während der Chávez-Regierungsperiode zu „Kommunalen Räten“ transformierten und als solche eine „Gemeinschaft“ bilden, die er als „Subjekt der Volksmacht“ bezeichnet. In dem Fortschritt zu den Kommunalräten (Consejos comunales), die gegenüber dem vorherigen Zustand erheblich mehr Kompetenzen für die Basis dieser territorialen Einheiten implizieren, sieht Antillano aber auch insofern Gefahren, als durch die kommunale Kleinräumigkeit/Beschränktheit und die materielle Ruhigstellung (Klientelismus, Kooptation etc.) letztlich auch eine Demobilisierung und Entpolitisierung von Teilen der Basis eintreten könnte.
Patricia Chávez analysiert die Spannungen zwischen Staat und sozialen Bewegungen in Bolivien und beschreibt dabei zentrale Aspekte der Vorgeschichte von E. Morales’ Regierungsantritt (2006), wobei sie auf traditionale kommunale Strukturen verweist, die den sozialen Oppositionsbewegungen „parallele Organisationsformen“, ein schlagkräftiges Auftreten und soziale Infrastrukturen ermöglichten. Sie greift auf Studien über Parlamentsabgeordnete der Linken zurück und zeigt, dass hier ziemlich unterschiedliche Kategorien in Bezug auf soziale Position, ethnische Herkunft sowie Geschlecht und entsprechend verschiedene Mentalitäten und Habitusformen vertreten sind. Entgegen den Erwartungen gelangt sie zu der Einschätzung, dass der Staat (auch in einem Transformationsprozess wie in Bolivien) in seiner „eigentlichen Substanz“ als koloniale, patriarchalische und die bestehenden Klassenverhältnisse verteidigende Instanz letztlich „unberührt“ geblieben sei (61).
Raul Zelik konfrontiert nach Darstellung des Niedergangsprozesses der Grünen die Leserschaft mit dem Dilemma eines gescheiterten Staatssozialismus (Kommunismus) einerseits und eines sozialdemokratischen Projekts, welches in einer totalen Unterwerfung unter die Mechanismen und Zwänge des Kapitalismus mündet, andererseits. Wie schon in früheren Schriften verweist er wieder auf unabhängige Netzwerke in der Art eines Rhizoms (Wurzelwerk wie z.B. der Ingwer und beliebte Metapher bei Deleuze), welche einen Weg aus dem aufgezeigten Dilemma bieten sollen. Weder ein Staat noch die sozialen Bewegungen allein können eine grundlegende Transformation schaffen, also muss etwas ganz anderes, z.B. ein weit gefächertes soziales Netzwerk in Form des Rhizoms diese Herkulesarbeit leisten. Im Übrigen können – ihm zufolge – kontingente, überraschende Ereignisse und die produktive Kombination unterschiedlicher Elemente/Situationen zu einer Unterminierung „versteinerter“ Machtverhältnisse führen, was seiner Ansicht nach weder mit den Kategorien Gramscis noch Poulantzas’ zu fassen sei (76f.). Damit dürften beim geneigten Leser, soweit er sich nicht von schönen Metaphern überwältigen lässt, gewiss viele Fragen offen bleiben.
Leopoldo Múnera diskutiert die unterschiedlichen Konzepte von „sozialen Bewegungen“ bei R. Zibechi und A. García, um schließlich beide zu verwerfen, weil sie die „Form Staat“ nur ungenügend einbeziehen. Er glaubt, dass bei wirklichen Transformationsprozessen soziale Bewegungen „eines Verhältnisses des Innen und Außen gegenüber dem Staat“ (93) bedürfen.
Joachim Hirsch reflektiert über die Rolle des Staates in gesellschaftlichen Emanzipationsprozessen. Dabei schwankt er zwischen zwei Positionen:
a.) der Staat in der bürgerlichen Gesellschaft als Garant und Förderer der Kapitalakkumulation und damit einer ausschließlich negativen Rolle in Transformationsprozessen. Und b.) einer pragmatischen Lesart, in der der Staat bei großer Mobilisierung der unterdrückten Klassen die „normalen“ Eigenschaften und Funktionen des Staates mehr oder minder verliert und eine bedeutende Rolle im Übergangsprozess (als Garant von Freiheit und Gleichheit und in der Durchsetzung neuer Rechte oder Umverteilungen) (104) spielen kann. Wie sich dieser Übergang (ohne systemtranszendierende Partei und ohne Verfügung über die staatliche Macht) vollziehen soll (kann), bleibt offen; es fehlen auch jegliche Differenzierungen einzelner Phasen im Transformationsprozess und des dabei sich wandelnden Verhältnisses von Gesellschaft und Staat. Eine gesonderte Reflexion auf die Spezifika des peripheren Staats und seiner Staatsapparate wäre gleichfalls hilfreich.
Pablo Ospina Peralta bilanziert die Ergebnisse der ecuadorianischen Linksregierung (108-128) und diagnostiziert eine wachsende Diskrepanz zwischen den ursprünglichen Plänen/ Versprechungen und den tatsächlichen Veränderungen. Neben interessanten und glaubhaften Einzelinformationen überraschen Aussagen wie diese: „Die Umverteilung des Reichtums und die Verringerung der Armut stagnieren.“ (125), was nicht nur aktuellen CEPAL-Statistiken widerspricht (CEPAL 2012:14, wo allein zwischen 2010 und 2011 ein Rückgang der Armut in Ecuador um fünf Punkte ausgewiesen wird), sondern auch Ausführungen anderer Autoren in diesem Band (siehe 157).
Elmar Altvater diskutiert in seinem Beitrag die „ökologische Gretchenfrage“, ob „Kapitalismus ohne Akkumulation überlebensfähig sei“, eine Frage, die weder von der herrschenden Wirtschaftstheorie noch von der großen Mehrheit der Politiker überhaupt gestellt wird. Das Wachstumsmotiv sei aber konstitutiv für die kapitalistische Produktionsweise, deren langfristige Stabilität und politische Legitimität wesentlich davon abhänge. Da mit der ökologischen die Systemfrage immer enger verbunden wird, sind die Degrowth- und Postwachstumsmodelle auch dann noch weiterhin verpönt, wenn kapitalistisches Wachstum aus inneren Gründen immer geringer und es damit immer schwieriger wird, die mit diesem Wirtschaftssystem verbundenen Versprechen (stabile Beschäftigung, ständige Wohlstandssteigerung etc.) einzulösen.
Jairo Estrada diskutiert die Sozialpolitik der progressiven Regierungen Lateinamerikas und zeigt auf, dass neben Kontinuitätsmomenten in Form und Akzentsetzung – vor allem bei den Mitte-Links-Regierungen – auch deutliche Veränderungen, insbesondere bei den linken Regierungen, zu verzeichnen sind. Dabei spielen die Rohstoffpolitik, entsprechende Exporte und die Abschöpfung von hier generierten Einnahmen zugunsten der sozialpolitischen Umverteilung eine maßgebende Rolle. Bei beiden Spielarten progressiver Regierungen vermisst der Autor insbesondere grundlegende Veränderungen im Steuersystem und einen mit gesellschaftlicher Umverteilung einhergehenden Neuansatz der Sozialpolitik.
Der Beitrag von Christian Siefkes – ohne Lateinamerikabezug – handelt von alternativen Formen von Produktion und Reproduktion, jenseits von Markt, Geld und zentraler Planung. Er vertritt die These, dass dies – im Anschluss an viele selbstbestimmte Projekte (Freie Software, Wikipedia u.ä.) –dann funktionieren könne, wenn gleichgestellte Personen (Peers) mit Motivation und Engagement unter den von ihnen selbst geschaffenen Bedingungen produzieren oder Dienst leisten. Auch unangenehme Aufgaben könnten durch Anerkennung, Umorganisierung und/oder Rotation bewältigt werden. So sympathisch dieser – wie aus der Feder eines Piraten-Chefideologen stammende – Beitrag auch erscheint, es bleibt naturgemäß eine Reihe von Fragen offen. Wie z.B. eine hochkomplexe Arbeitsteilung bis zur Produktionsreife zu organisieren ist, wie z.B. Bildungsprozesse mit den Bedürfnissen und Bedingungen von entwickelten Großgesellschaften, ein adäquates Gesundheitswesen und vieles andere mehr zu organisieren sind.
Der letzte Beitrag von Aaron Tauss, der zuvor schon in der PROKLA publiziert worden ist, analysiert sachkundig und informativ die Hintergründe, Auseinandersetzungen und Resultate der Bewegung „besetzter Betriebe“ in Argentinien. Er gelangt zu der Schlussfolgerung, dass trotz vieler positiver Momente dieser Bewegung (Solidarität der Arbeiter untereinander, direkte Teilnahme bei Entscheidungen, kollektives Eigentum und neue Subjektformen etc.) und der Signalwirkung auf die übrige Gesellschaft ( vor allem in der nächsten Umgebung) ihre Erfolge letztlich doch sehr beschränkt geblieben sind und eine gewisse Isolierung und Prekarität der neuen Existenzweise nicht überwunden werden konnten.
Der Sammelband enthält sehr lesenswerte, informative und anregende Beiträge. Ein wesentlicher Zielpunkt der Analysen, die gegenwärtigen Transformationsprozesse in Lateinamerika theoretisch besser zu erfassen und dabei insbesondere das Verhältnis von Staat (in Umwandlung) zu sozialen Bewegungen zu fokussieren, scheint aber nicht befriedigend getroffen zu sein. Weder finden sich weiterführende theoretische Ausführungen über die Spezifika von Staaten in der kapitalistischen Peripherie noch nähere Ausarbeitungen zu dem – im Anschluss an Poulantzas – viel zitierten Hauptcharakteristikum von bürgerlichen Staaten, eine „materielle und institutionelle Verdichtung von Kräfteverhältnissen“ zu sein. Weder theoretisch noch empirisch werden Kriterien für sich wandelnde Kräfteverhältnisse oder verschiedene Aggregatzustände von Staaten im Übergang benannt oder herausgearbeitet. Daher kommt es entweder zur Zuflucht zu relativ wenig analytischen Metaphern (Rhizom) oder zu einer mäandernden bzw. extrem kurvenreichen Argumentation, die es schafft, in drei Sätzen drei verschiedene, einander tendenziell widersprechende Positionen zu vereinen.
Typisch ist die folgende – auch an anderen Stellen ähnlich auftauchende – Sequenz aus der Einleitung der Herausgeber, die mehr Fragen aufwirft, als dass sie Probleme löst: „Die Blockaden und Widersprüche in den Prozessen verweisen darauf, dass soziale Emanzipation nie vorrangig von administrativ-staatlicher Macht ausgehen kann, sondern sich aus der Mobilisierung der Gesellschaft entwickeln muss. Allerdings zeigt sich auch, dass staatliche Politik – ob erzwungenermaßen oder aus Überzeugung, ist zweitrangig – gesellschaftliche Prozesse maßgeblich fördern kann. In diesem Sinne ist es nicht gleichgültig, dass in Venezuela und Bolivien… heute Linksregierungen im Amt sind. Doch auch der linksregierte Staat steht den realen, demokratischen und sozialistischen Transformationen meist eher im Weg, als dass er sie vorantreiben würde.“ (11).
Zelik, Raul und Tauss, Aaron (Hg.): Andere mögliche Welten? Krise, Linksregierungen, populare Bewegungen: Eine lateinamerikanisch-europäische Debatte, Hamburg, VSA Verlag 2013, 198 Seiten, 17,80 Euro