Unlängst las ich in einer Zeitung, dass Linke meist eher unglücklich sind. Daten aus 70 Ländern hätten dies ergeben: je weiter links, desto unglücklicher. Die Meldung ist nicht so dumm, wie sie sich anhört: Links sein heißt ja in erster Linie gegen etwas sein, angesichts der Beschaffenheit einer Welt, für die man Verantwortung trägt, und die unerfüllte Sehnsucht nach kollektiver Veränderung mindert das individuelle Glücksvermögen. Deshalb sind wir oft unleidlich, ungeduldig, verzweifelt. Das war auch mein erster Gedanke während der Lektüre; aber dann fiel mir als personifiziertes Dementi der Umfrage Werner Hörtner ein, der sein Leben lang das Unrecht beharrlich bekämpft hat und sich doch nicht anstecken ließ von der heimlichen Sorge, dass unser Bemühen vergeblich sei. Er war in materiellen Dingen von einer geradezu asketischen Anspruchslosigkeit, sprühte aber vor Lebenslust und war zur Freundschaft begabt wie kaum ein anderer.
Von unserer ersten, noch flüchtigen Begegnung vor 40 Jahren, bei einer Solidaritätsveranstaltung für das unter der Militärdiktatur leidende Uruguay, haben sich mir seine Besonnenheit und seine Verlässlichkeit eingeprägt. Mit Verlässlichkeit meine ich Werners Tugend, in der Hingabe für eine Sache immer auch an andere zu denken, denen das Wissen, das er sich eben beschafft hatte, nützlich sein könnte; mit Besonnenheit nicht Vorsicht, sondern die Geduld, zuzuwarten, bis sich der Charakter seines Gegenübers enthüllte. Ein Urteil fällte er erst, wenn er seiner Sache sicher war. Diese Haltung prägte auch seine publizistischen Arbeiten. Obwohl sie fast immer der politischen Aktualität verpflichtet, also unter Zeitdruck entstanden waren, wirkten sie nie gehetzt. Aber er war ja, zusammen mit seinen Gefährten der Informationsgruppe Lateinamerika, 1976 auch angetreten, die von Oberflächlichkeit und ideologischem Interesse bestimmte Berichterstattung zu Lateinamerika, zumal in Österreich, zu korrigieren – mit der Organisation von Veranstaltungen, Journalistenbetreuung und der weiterhin erscheinenden Zeitschrift „Lateinamerika anders“.
An Mut hat es ihm nicht gefehlt. An seinen jährlichen Reisen durch Kolumbien, das ihm zur zweiten von mehreren Heimaten geworden war, hielt er auch in den schlimmsten Jahren des staatlichen, privatwirtschaftlichen oder unter dem Deckmantel der Befreiung betriebenen Terrors fest, und dass er jedes Mal unbeschadet zurückkehrte, kann ich mir nur mit seiner Unschuld erklären, die sogar Strauchdiebe, Paramilitärs und anderes Gesindel davon abhielt, ihn auszurauben oder abzumurksen. Seine Reportagen trumpften nie mit der Autorität des Selbsterlebten auf, auch hierin war er zurückhaltend aus Veranlagung und Prinzip. In den beiden Büchern über Kolumbien, die er rasch und mit der ihm eigenen Disziplin verfasst hat („Kolumbien verstehen“ 2006, „Kolumbien am Schweideweg“ 2013), tritt er nur an einer Stelle als Chronist hervor, als er die indigene Gemeinschaft der Nasa im Cauca schildert, die sich ebenso hartnäckig wie erfolgreich gegen die Militarisierung ihres Gebietes wehren – und mit gewaltlosen Mitteln. Friedfertigkeit als Voraussetzung würdevollen Lebens, das war ihm Appell und Praxis zugleich. Deshalb mochte er es nicht, wenn man andere vorschnell, rechthaberisch oder gar gehässig kritisierte.
Werner war immer für Überraschungen gut. Als ich ihn und seine Familie (seine Frau Stella Muñoz, die Kinder Pablo und Maria) 1984 in Managua besuchte, wo er ein Jahr lang für die alternative Nachrichtenagentur APIA arbeitete, las er zu meiner Verblüffung gerade Heimito von Doderers Roman „Die Strudlhofstiege“. Mitten in den Tropen, in einem von konterrevolutionärer Gewalt bedrohten, von Mangel und Armut erschütterten Land, in dem sich die Familie so gut es ging zu behaupten versuchte, versenkte sich Werner nach dem ersten Hahnenschrei morgens eine Stunde lang in den Kosmos des gehobenen Wiener Bürgertums der 20er-Jahre. Eigentlich absurd, könnte man meinen. Allerdings ist bei Doderer eine Position angesprochen, die Werner zeitlebens eingenommen hat, die der Apperzeption, also die Bereitschaft, das Leben in all seinen Facetten anzunehmen und zu feiern. Das Besondere, Eigenwillige an ihm war, dass er trotzdem wie die Apperzeptionsverweigerer soziale Veränderungen und revolutionäre Brüche für wünschens- und erstrebenswert hielt. Man wird wohl nie erfahren, wie viele politisch Verfolgte, Gewerkschafter, Vertreterinnen indigener Völker und von den österreichischen Behörden um ihr Existenzrecht betrogene Flüchtlinge Werner über Wochen und Monate bei sich aufgenommen, ihnen Schutz und Hilfe geboten hat.
Es kostet mich viel Überwindung, über ihn im Imperfekt zu schreiben, weil er einem so gegenwärtig ist, mit seiner etwas gebeugten Gestalt, seinen bedächtigen Gesten, seiner leisen Stimme. Weil er in meinem Leben auch dann anwesend war, wenn er gar nicht dabei war. Als Vorbild oder weil man sich an ihm reiben konnte und weil es mit ihm immer lustig war. Seit er vor zwei Jahren als Redakteur der entwicklungspolitischen Monatsschrift „Südwind“ in Pension gegangen war, blieb ihm mehr Zeit, seine vielen Pläne in die Tat umzusetzen. Er war damit beschäftigt, seine Tagebücher zu sichten, in denen er in einer Art Personalunion aus Goethe und Eckermann seine Gedanken und Erlebnisse über Jahrzehnte festgehalten hatte, machte sich an die Übersetzung eines Romans des Kolumbianers Gustavo Álvarez Gardeazábal, schrieb an einem Buch über ein Heim für drogenabhängige Straßenkinder, das der katholische Ordensbruder Gabriel Mejía Montero in Medellín mit ungewöhnlichen Heilmethoden, hoher Erfolgsquote und dem unbändigen Glauben an die Kraft der Liebe leitet. Dieser Glaube hat auch Werner beseelt. Nicht zuletzt deshalb vermisse ich ihn so sehr.