Ein neuer Geist treibt sein Unwesen, vor allem bei europäischen Linken: Der Hype um den Linksruck Lateinamerikas. Bei Menschen und Institutionen, die sich konjunkturunabhängig mit Lateinamerika beschäftigen, gehen zur Zeit haufenweise Anfragen ein, ob man nicht ein Referat zum neuen linken Hoffnungsträger im lateinamerikanischen Land XY halten möchte. Auch wenn wir bei der ila natürlich für gut befinden, dass die Entwicklungen in Lateinamerika nun bei einem größeren Publikum auf Interesse stoßen, so fällt es uns doch schwer, in den Begeisterungschor mit einzustimmen – zum einen weil die Erinnerung an die Projektionsgefahr der 70er und 80er Jahre noch zu frisch sind, zum anderen, weil wir die Transformationskraft von Regierungsparteien vorsichtig einschätzen.
iz3w 292 Eine ähnliche Haltung hat der aktuelle Schwerpunkt der Zeitschrift iz3w (Nr. 292, April/Mai 2006) „Einfach unwiderstehlich – Linke in Lateinamerika“. Da Hauptauslöser des Hypes und immer noch wichtigster Debattengegenstand das bolivarianische Projekt in Venezuela ist, bekommt das Land verhältnismäßig viel Platz im Heft eingeräumt. Zwei faktenreiche Beiträge arbeiten sich an Präsident Chávez ab, der Beitrag vom kollektiv p.i.s.o. 16 insofern, als er herausstellt, was alles unabhängig vom Präsidenten verändert wurde, der andere von Wolf Dieter Vogel stellt die bedenklichen Seiten des Caudillo und seiner Entourage vor.
Gaby Weber und Stefan Thimmel schreiben ihre eher ernüchternde Einschätzung zu den sozialdemokratischen Regierungen in Argentinien respektive Uruguay punktgenau auf. Einen seit langem mal wieder fälligen Blickwinkel bringt der Artikel „Abwahl der Machos“ von Juliane Schumacher und Anne Friebel, hier wird der Spannungsbogen zwischen sozialen Bewegungen, Parteipolitik und Geschlechterverhältnis in den machistischen Ländern Chile und Venezuela ausgelotet. Gerade in der Gegenüberstellung der beiden doch recht unterschiedlichen Gesellschaften sehr erhellend. Schließlich liefert Simón Ramírez Voltaire noch eine vorsichtig positive Beurteilung des neuen Boliviens unter dem Präsidenten/Vizepräsidenten-Gespann Evo Morales und Alvaro García Linera; während Miriam Lang kenntnisreich das Projekt der zur Zeit parallel zur Präsidentschaftswahlkampagne laufenden „Anderen Kampagne“ der Zapatistas in Mexiko vorstellt.
Die AutorInnen dieses lesenswerten iz3w-Schwerpunktheftes teilen zum Glück den geisternden Hype nicht. Das wundert uns allerdings auch nicht, denn so manche von ihnen pflegen auch für unser bescheidenes Blatt zu schreiben.
Britt Weyde
Die iz3w gibt es in gut sortierten Buchläden oder Kiosken. Bestellen unter: 0761-74003 www.iz3w.org
PROKLA 142 Das aktuelle Heft der Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft PROKLA hat den Schwerpunkt „Soziale Kämpfe in Lateinamerika“. Im ersten Beitrag geben die brasilianischen SozialwissenschaftlerInnen Mónica Bruckmann und Theotonio dos Santos einen geschichtlichen Überblick über die Sozialen Bewegungen in Lateinamerika von den anarchistischen Anfängen der Arbeiterbewegung Ende des 19. Jahrhunderts bis zu den globalisierungskritischen Bewegungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Ein informativer Überblick, wenn auch etwas unsystematisch und teilweise politisch problematisch vor allem im ihrem positiven Bezug auf die nationalpopulistschen Regierungen der dreißiger bis fünfziger Jahre. Man kann darüber diskutieren, ob die Regimes von Perón in Argentinien oder Vargas in Brasilien den Unterschichten nicht mehr soziale Fortschritte und politische Partizipation gebracht haben als jede liberaldemokratische Regierung davor oder danach, aber soweit zu gehen, einen autoritären Nationalisten wie Vargas als „linken Präsidenten“ zu bezeichnen ist dann doch verfehlt.
Im zweiten und für mich interessantesten Aufsatz des Heftes setzt sich der Politikwissenschaftler und Schriftsteller Raul Zelik mit Venezuelas boliviarianischem Prozess auseinander. Ausgehend von der Analyse, dass Venezuelas politische Transformation weder von starken linken Parteien noch einer gut organisierten sozialen Bewegung getragen wird, sieht er deren Basis vor allem in den widerständigen Selbstorganisationsstrukturen in den armen Stadtteilen. Diese basierten auf den Netzwerken, die sich in den alltäglichen Kämpfen gegen Bedrohungen und für soziale Verbesserungen unter den BewohnerInnen gebildet hätten. Theoretisch bezieht er sich auf die französischen Philosophen Gilles Deleuze und Felix Guattari und ihrer Theorie der Rhizome, sozialer Prozesse, die „vielwurzelig“ verflochten sind und sich gemäß ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten oder Notwendigkeiten entwickeln.
In einem eher deskriptiven Artikel schildert die US-amerikanische Sozialwissenschaftlerin Roberta Rice danach die Entwicklung indigener Politik in Bolivien. Ernesto Kroch skizziert die Geschichte Uruguays seit der Unabhängigkeit und beschreibt die Entwicklung und Erfahrungen des Linksbündnisses Frente Amplio, das seit März 2005 die Regierung stellt. Ana Garcia vom Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in São Paulo untersucht, warum die US-Regierung ihr Projekt einer Gesamtamerikanischen Freihandelszone ALCA vorerst nicht durchsetzen konnte, und fragt nach tragfähigen Alternativen für eine lateinamerikanische Integration, unter denen ihr die „Bolivarianische Alternative für die Amerikas“ (ALBA) die meisten Perspektiven bietet.
Weitere Aufsätze beschäftigen sich mit dem brasilianischen Entwicklungstheoretiker Celso Furtado (Arturo Guillén R.), mit der Herausforderung Chinas für Lateinamerika (Enrique Dussel Peters) und mit der Rolle der privaten Ranking-Agenturen bei der Unterwerfung der Staaten des Südens unter die Interessen des internationalen Finanzkapitals (Ingo Malcher).
Gert Eisenbürger
PROKLA 142, März 2006, 148 S., 12,- Euro, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster www.dampfboot-verlag.de