Literatur und Publizistik des Exils

Argentinien war das lateinamerikanische Land, in dem nach 1933 die meisten Flüchtlinge aus Nazideutschland und Österreich Zuflucht fanden – ungefähr 30 000 Menschen. Unter ihnen befand sich auch eine Reihe von AutorInnen. Einige, wie Paul Zech, Balder Olden oder August Siemsen, waren bereits in der Weimarer Republik Schriftsteller oder Publizisten gewesen. Andere begannen erst in Argentinien zu schreiben, entweder weil sie, wie Doris Dauber, ihre Erfahrungen literarisch zu verarbeiten suchten oder weil sie, wie Alfredo Bauer oder Robert Schopflocher, zum Zeitpunkt der Flucht noch Jugendliche waren.

Die Entstehung einer Literaturszene setzt immer Publikationsmöglichkeiten und die Existenz eines interessierten Publikums voraus. Beides war in Argentinien vorhanden. In der relativ großen, überdurchschnittlich gebildeten und literarisch interessierten Exilgemeinde gab es viele potentielle LeserInnen. Zudem existierte mit dem Argentinischen Tageblatt eine deutschsprachige Tageszeitung, in der die AutorInnen literarische Texte veröffentlichen konnten. 

Anders als die Deutsche La Plata Zeitung, die nach 1933 zu einem Naziblatt wurde, behielt das seit 1889 in Buenos Aires erscheinende Tageblatt der aus der Schweiz stammenden Familie Alemann[fn]Die gab schon ab 1874 den Argentinischen Boten für die Provinz Santa Fe und, ab 1878 das Argentinische Wochenblatt in Buenos Aires heraus, das ab 1889 als Tageblatt erschien.[/fn] auch nach 1933 seine freisinnig-liberale Orientierung bei. Auch gründeten die Emigranten neue Zeitschriften wie das linkssozialistische Das Andere Deutschland, das nach dem Hitler-Stalin-Pakt von diesem abgespaltene kommunistische Volksblatt oder das „Unabhängige Jüdische Wochenblatt“ Semanario Israelita. 1940 eröffnete James Friedmann mit dem Editorial Cosmopolita einen deutschsprachigen Buchverlag, der Bücher von ExilautorInnen publizierte. Später kamen weitere Exilverlage wie Editorial Estrellas hinzu.

Der aus heutiger Sicht wichtigste Exilschriftsteller in Argentinien war Paul Zech (1881-1946). Er war bereits vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland als Lyriker in Erscheinung getreten und hatte in der Weimarer Republik verschiedene Romane, Gedichtbände und Erzählungen veröffentlicht. Bereits 1933 emigrierte er nach Buenos Aires, wo ein Bruder von ihm lebte. Dort vollendete er seinen großen Exilroman „Deutschland, dein Tänzer ist der Tod“ und schrieb weitere Romane wie „Kinder vom Paraná“, „Michael M. irrt durch Buenos Aires“ oder „Die Vögel des Herrn Langfoot“. Diese Romane wurden ebenso wie die im Exil entstandenen Erzählungsbände „Das rote Messer“ und „Menschen der Calle Tuyutí“ erst in den achtziger Jahren in der BRD (S. Fischer) und der DDR (Greifenverlag) veröffentlicht. In Argentinien hatte er nur kürzere literarische Texte im Argentinischen Tageblatt und im Volksblatt publiziert.

Der Journalist und Autor Balder Olden (1882-1949), der im Ersten Weltkrieg bei den Kolonialtruppen in „Deutsch-Ostafrika“ (Tansania) gekämpft hatte, war in der Weimarer Republik zunächst als Autor von „Kolonialromanen“ bekannt geworden. Nach und nach nahm er jedoch eine kritische Haltung zum Kolonialismus ein und näherte sich der KPD an. 1933 floh er nach Prag, wo er den Roman „Anbruch der Finsternis – Roman eines Nazi“ schrieb, der erst 1982 in der DDR publiziert wurde. In Buenos Aires schrieb er vor allem politische und literarische Texte für das Argentinische Tageblatt und das Volksblatt.
August Siemsen (1884-1958) war in der Weimarer Republik ein einflussreicher sozialistischer Pädagoge und Publizist. 1930 wurde er für die SPD in den Reichstag gewählt, gehörte aber 1931 zu den Mitgründern von deren linkssozialistischer Abspaltung SAP (Sozialistische Arbeiterpartei). 1933 floh er zunächst in die Schweiz, 1936 nach Argentinien. Dort arbeitete er als Lehrer und gab Das Andere Deutschland heraus, die größte und einflussreichste Exilzeitschrift in Südamerika. Bereits in der Schweiz hatte er das Buch „Preußen – Die Gefahr Europas“ verfasst, eine hochspannende Analyse über die Vorbedingungen der NS-Diktatur, in Buenos Aires veröffentlichte er 1945 bei Cosmopolita den Essayband „Die Tragödie Deutschlands und die Zukunft der Welt“, der 1947 auch im Oettinger-Verlag Hamburg erschien.

Eine leider völlig vergessene Exilautorin ist Doris Dauber. Die promovierte Philosophin war eine der wenigen Frauen, die ohne Ehemann oder Familie ins argentinische Exil kamen. In Buenos Aires gehörte sie zum Redaktionsstab von Das Andere Deutschland. 1945 erschien bei Cosmopolita ihr autobiographischer Roman „Eine Nacht – Ein Leben“, in dem sie ihren immer wieder von schweren Krankheiten begleiteten Weg aus der Enge des mütterlichen Hauses zu einer Feministin und sozialistischen Intellektuellen, sowie ihre Erfahrungen im Exil beschreibt. Der Roman wurde 1950 in der DDR im Greifenverlag neu aufgelegt, wo bereits 1949 ihre Reportagen aus Argentinien unter dem Titel „Als ich drei Berufe hatte“ erschienen waren.

Heute noch literarisch und publizistisch in Buenos Aires aktiv ist der 1924 in Wien geborene Alfredo Bauer, der in der ila 334 gerade erst über das jüdische Leben in Argentinien geschrieben hat. Bauer hat über 40 Bücher – sowohl literarische als auch Sachbücher – veröffentlicht und mehrere deutsche Autoren ins Spanische (z.B. Heinrich Heine) und lateinamerikanische Autoren ins Deutsche (z.B. José Hernández) übersetzt. Ähnlich wie Robert Schopflocher hat Bauer zunächst auf Spanisch geschrieben und ist erst später zum Deutschen zurückgekehrt. Er hat allerdings keinen kompletten Sprachwechsel vollzogen, sondern verfasst heute literarische Texte in beiden Sprachen. Wichtige deutschsprachige Veröffentlichungen sind u. a. die Romane „Der Mann von Gestern und die Welt“ (1993), „Verjagte Jugend“ (2004) und „Eine Reise“ (2005). (Siehe auch ein Lebenswege-Interview mit ihm in ila 154)