Am 30. Oktober 2007 gab es in Cochabamba, der drittgrößten Stadt Boliviens, zwei Demonstrationen, die unterschiedlicher nicht hätten sein können: Nachmittags versammelten sich auf dem Plaza Colón etwa 2000 BürgerInnen mit der Forderung, dass die Steuereinnahmen aus dem IDH (Impuesto Directo a los Hidrocarburos – direkte Erdgassteuer) in Erziehung und Straßenbau investiert werden. Unter großer Aufmerksamkeit der Medien winkten sie mit hellblauen Fähnchen den Rednern auf dem Balkon des Comité Cívico[fn]Rechte Bürgerbewegung, in dem sich Wirtschaftselite und Oligarchie versammeln, um ihrer Opposition gegen die Regierung Morales Ausdruck zu verleihen.[/fn] zu, die Stimmung glich einem Volksfest. Für viele der TeilnehmerInnen, die bei der Stadt angestellt sind, war die Anwesenheit obligatorisch, Banken und Büros mussten schließen. Wenige Stunden vorher war eine wesentlich kleinere, aber entschlossenere Menge von Bauern und Rentnern mit Dynamitböllern und Wiphalas, den Fahnen der Indígenas, um den nahe gelegenen Plaza 14 de septiembre gezogen. Die Demonstrierenden hatten sich spontan aus Protest gegen die spätere Veranstaltung zusammengefunden. Es ging ihnen darum, die geplante Einführung einer Rente, der Renta Dignidad, zu verteidigen.
Drei Tage zuvor hatte der bolivianische Staatschef Evo Morales das umstrittene Projekt verkündet. Über die Renta Universal de la Vejez Dignidad (Allgemeine Altersrente „Würde“) sollen alle BolivianierInnen über 60 Jahre jährlich 2400 Bolivianos, umgerechnet ca. 230 Euro, bekommen. Falls sie bereits anderweitig eine Rente beziehen, reduzieren sich die Bezüge um ein Viertel. Im ärmsten Land Südamerikas, in dem für Vollzeitbeschäftigte mit 60-Stunden-Woche 50 Euro monatlich ein Durchschnittsgehalt sind, ist diese Summe nicht wenig. Der springende Punkt, an dem sich die Konflikte über das neue Rentenkonzept entzündeten, ist die Finanzierung der Rente über das IDH. Das Impuesto Directo a los Hidrocarburos ist eine Steuer, die aus der Nationalisierung der Ölreserven 2006 zustande gekommen ist. Bisher sind diese Einnahmen hauptsächlich den Stadtverwaltungen und Präfekten der Departements zugute gekommen. 30 Prozent davon sollen für die Rente verwendet werden. Eigentlich sollten die Auszahlungen schon im Januar 2008 begonnen werden, doch das Projekt ist nun wieder in der Schwebe.
Die ultrarechten Präfekten der reichen Tieflandstädte im Osten des Landes, der so genannten Media Luna, stellen sich gegen eine Neuaufteilung der IDH-Einnahmen und damit gegen die Finanzierung der Rente. Auch der im Dezember neu verabschiedeten Verfassung – ein Projekt der Regierung und der sozialen Bewegungen – wollen sie sich nicht anschließen. Stattdessen haben sich diese Regionen, angeführt vom Comité Cívico der Stadt Santa Cruz, für autonom erklärt. Ihr Gegenpart sind die Städte und Dörfer aus dem Hochland, der Regierungssitz La Paz sowie die Cocabauern im Chapare. Cochabamba steht geographisch und politisch zwischen den Fronten, die Stadtverwaltung ist aber klar rechts. Wenn das städtische Comité Cívico proklamiert, das Geld des IDH für Universitäten und Straßenbau verwenden zu wollen, wirkt dies wenig glaubwürdig. Laut Jim Shultz vom Democracy Center in Cochabamba hatte der Präfekt Manfred Reyes Villa vor, für die Stadtverwaltung 26 Luxusautos der Marke Land Cruiser für jeweils 70 000 Dollar zu kaufen. Als dies ans Tageslicht kam, zog er den Antrag für 25 Autos zurück, eines behielt er zur privaten Nutzung.
Die beiden Demonstrationen am 29. Oktober in Cochabamba verliefen friedlich, denn nur allzu frisch ist die Erinnerung an den blutigen Januar 2007. Nach einem Referendum zu der Frage, ob sich Cochabamba der Autonomiebewegung der Media Luna anschließen will, eskalierte die Situation. Manfred Reyes Villa wollte das Nein der Mehrheit nicht akzeptieren, woraufhin die Stadt durch riesige Demonstrationen tagelang blockiert wurde. Das Gebäude der Präfektur wurde angezündet und Reyes Villa musste als Polizist verkleidet fliehen. Die Rache kam von bewaffneten rechten Schlägertrupps, die zwei Bauern erschossen. Auch auf ihrer Seite gab es einen Toten.
Für Evo Morales ist die Renta Dignidad ein wichtiges Projekt, um ihm seine Wiederwahl zu garantieren. Doch obwohl sich der Präsident persönlich Ende November einem sechstägigen Marsch vom Altiplano nach La Paz für die Renta Dignidad angeschlossen hat, sehen die Basisbewegungen in der Rentenreform kein Regierungsprojekt. „Die Renta Dignidad ist kein Geschenk von Präsident Morales, sondern Produkt eines lange währenden Kampfes“, betont Roberto Irusta, Generalsekretär der Asociación Jubilados Rentistas Fabriles, der pensionierten Fabrikarbeiter, in einem Interview im Dezember 2007. Schon 1992 wurde eine Kampagne für eine Mindestrente gestartet, ab 2000 gab es eine Serie von Großdemonstrationen dafür, bei der sich die gut organisierten Minenarbeiter besonders stark hervortaten. Den tragischen Höhepunkt der Proteste bildete 2004 ein Selbstmordattentat eines verzweifelten Minenarbeiters, der aus dem damaligen Rentensystem herausfiel. Im Kongressgebäude sprengte er sich und zwei Polizisten mit Dynamit in die Luft, nachdem ihm die Auszahlung einer Rente verweigert wurde.
Zwar führte der neoliberale Präsident Sánchez de Lozada in den 90er Jahren ein neues Rentensystem ein, das so genannte Bonosol, das durch die Erlöse aus dem Verkauf der staatlichen Unternehmen an private transnationale Konzerne finanziert werden sollte. Doch faktisch kam dies nur einer Minderheit in den Städten zugute, die oft bereits anderweitig eine Rente bezog. Roberto Irusta gibt die Meinung vieler BolivianerInnen wieder, wenn er argumentiert, dass sie für die Nationalisierung der Gasreserven im „Gaskrieg“ 2003 bitter gekämpft haben und daher nun das Recht auf einen Anteil davon haben. Falls die Renta Dignidad tatsächlich wie geplant ab Februar ausbezahlt wird, ist immer noch unklar, ob auch die Ärmsten aus den ländlichen Regionen davon profitieren werden. Viele haben keine Geburtsurkunde, die ihnen ihr Alter bescheinigen könnte. Auch ein Bankkonto haben die wenigsten. Zwar ist die Einrichtung von Auszahlungspunkten auch auf dem Land geplant, doch immer noch müssten sie sich erst Dokumente besorgen und dann zum nächsten Auszahlungspunkt gelangen, um ihre Rente zu bekommen – für viele unüberwindliche bürokratische Hürden.