Wenn Buchtitel abschreckend wirken können, dann ganz bestimmt diese beiden: Von Franz Galich „Managua Salsa City (¡Devórame otra vez!)“, mit der geklammerten Aufforderung: „Verschling’ mich noch einmal“ (2001); und nicht weniger kitschig von Sergio Ramírez „Der Himmel weint um mich“ (sp. 2008, dt. 2015). Wer angesichts solch schwülstigem Schmalz von der Lektüre der beiden Romane absieht, hat allerdings etwas verpasst.

Denn erstens: Auch der Brasilianer Manuel Puig oder der Argentinier Osvaldo Soriano nutzten wie Galich Schlagertitel oder vielzitierte Versatzstücke, um schon in ihren Romantiteln mit Vorurteilen zu spielen. Und zweitens: Bei Sergio Ramírez ist die Übersetzung schlicht misslungen.  Nicht „um mich“, sondern „an meiner Stelle“ hätte es heißen müssen. Der Titel entstammt einer Stelle im Roman, an der es in Strömen regnet. Polzeiinspektor Dixon hat während seiner Aufklärungen für Sentimentalitäten keine Zeit und spricht den titelgebenden Satz aus. Das hat nichts Rührseliges. Sergio Ramírez kann für den schiefen Titel vermutlich nichts, auch wenn der 1942 geborene Autor und ehemalige Vizepräsident Nicaraguas, der erst letzten November für sein Lebenswerk mit dem Carlos-Fuentes-Literaturpreis ausgezeichnet wurde, 1973-75 als DAAD-Stipendiat in Deutschland lebte und sicher Deutsch spricht.

Beide Romane sind vielmehr auf ihre Art Krimis oder „schwarze Romane“. Beide Handlungen ereignen sich in postsandinistischer Zeit in Managua, Galichs kurz vor, Ramírez‘ kurz nach 2000. In beiden sind Drugs, Sex, Crime und lokalbedingt Salsa (oder Boleros und Merengues) statt Rock’n Roll zentral. In beiden nehmen Autofahrten in zumeist klapprigen Gefährten kreuz und quer durch die Stadt erheblichen Romanraum ein; man kriegt richtiggehend Lust, all die schrägen Spelunken, großkotzigen Kasinos, Hütten und Villen mal bei einer alternativen Stadtrundfahrt auf den Spuren der beiden Romane aufzusuchen. In beiden gäbe es schließlich den Plot nicht ohne die Stadt als Motiv, Motor und Moloch (wie gesagt: „Verschling‘ mich noch einmal“).
Nehmen wir zunächst den bedauerlicherweise (noch?) nicht ins Deutsche übersetzten Roman von Franz Galich, 1951 in Guatemala geboren, 1980 nach einem Attentat auf ihn ins sandinistische Nicaragua geflohen und dort 2007 gestorben.

Die Handlung von „Managua Salsa City (¡Devórame otra vez!)“ entwickelt sich in gerade einmal zwölf Stunden von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang. Das Tempo ist atemberaubend. Man könnte sie so zusammenfassen: Allabendlich um sechs, wenn die Sonnenhitze abnimmt, schwärmt die halbseidene  bis kriminelle und vergnügungssüchtige Fauna Managuas in die andere Hitze der Nacht. Die Musik gibt den Rhythmus vor, die dauernd zitierten Liedtexte strukturieren Selbstwahrnehmung und Sehnsüchte der Personen. Unter dem Einfluss von Alkohol und verbotenen Drogen versuchen die einen die anderen übers Ohr zu hauen, ehemalige Sandinisten und ehemalige reguläre Soldaten oder Contra unterscheiden sich nur in der Art der militärischen Vorkenntnisse, wenn es um Gewaltausübung geht, nicht in der Moral. Macht und Perspektivlosigkeit wird durch Macht über Frauen kompensiert. Es kommt zum Show-Down oder besser Shoot-Down. Wer bis zum Sonnenaufgang überlebt, stürzt sich wohl am Folgeabend erneut ins Vergnügen auf Teufel komm raus (eben: „Verschling mich noch einmal“).

Farbe und Bewegung kommt in diese Geschichte, wenn aus den Figuren Männer und Frauen werden. Aufgestaute Aggression in einer Gesellschaft, die den bewaffneten Konflikt offiziell hinter sich gelassen hat, entlädt sich in sexualisierter Gewalt, mit den bekanntlich ungleich verteilten, staatlicher- und kirchlicherseits verordneten Rollen. Die Prostituierte Tamara, genannt La Guajira, ist der Kopf einer Bande, deren drei Männer sie alle heimlich zur Geliebten machen möchten, was die Atmosphäre von vornherein elektrisiert. Die Bande sucht allnächtlich in den ausgedehnten Vergnügungsorten Managuas ein reiches Opfer auszumachen, das La Guajira dann umgarnt und mit der Aussicht auf eine heiße Nacht in ein Zimmer oder Haus lockt, wo die Bande dem ahnungslosen Mann auflauert und ihn ausraubt, wenn nicht mehr als nur beraubt. Fatalerweise verlieben sich aber La Guajira und der in dieser Nacht ausgewählte, als reich eingestufte Pancho Rana ineinander. Und ironischerweise ist Pancho Rana ein armer ehemaliger sandinistischer Elitesoldat, der als Fahrer bei reichen Leuten arbeitet, soeben seiner in Miami weilenden Herrschaft Geld und Auto geklaut hat und richtig einen draufmachen will, um sich danach ins Ausland abzusetzen. Ein Paar, das sich zunächst taxiert, ausnutzen, ja missbrauchen will und dann zunehmend aus den beabsichtigten Rollen fällt. Von Nachtclub zu Nachtclub, immer im Auto, da das erdbebenvernarbte und unsichere Managua zu Fuß gänzlich unpassierbar ist, steigen Alkohol- und Marihuanapegel und die schwüle Atmosphäre steigert die Lust auf Sex ins Unermessliche.

Als das schicke Auto schließlich in die Garage des Herrschaftshauses einfährt, hofft La Guajira, die Bande abgehängt zu haben. Aber nicht nur die Dreiercombo bricht dort ein und verwickelt Pancho Rana in eine tödliche Schießerei, wobei das Ziel, La Guajira flachzulegen, die materielle Absicht des Diebstahls verdrängt. Auch ein Trittbrettfahrer, der es auf La Guajira abgesehen hat, taucht mit seinem von dem Vorhaben wenig begeisterten Freund Mausgesicht in dem Haus auf und steigert das waffenstrotzende Chaos. Die Machogesellschaft richtet sich selbst. Das von ihren Vertretern im Krieg erlernte Instrumentarium ist für den Frieden untauglich. Mit Gewalt erkämpfter Sieg führt unweigerlich in den Tod. Selbst Pancho Rana, der angesichts La Guajiras verliebte und ritterliche Gefühle entwickelt, entkommt dem nicht. Am Ende fahren lediglich die überlebenden La Guajira und Mausgesicht, der das maskuline Eroberungsritual nicht mitmacht, dem Sonnenaufgang Richtung Managua entgegen.

Das klingt nach Kitsch. Indessen ist Galichs Roman mehrschichtig und sorgfältig komponiert. Was zwischen Romananfang Punkt sechs Uhr abends und Romanende Punkt sechs Uhr morgens geschieht, scheint zur ewigen Wiederholung verdammt. Vordergründig bedeutet das Ausweglosigkeit, Gefangenheit der Personen in einem unentrinnbaren, von sexualisierter Männergewalt gezeichneten Managua. Tatsächlich aber gibt es kein Happy End, „Ritter“ Pancho Rana kriegt seine Prinzessin La Guajira nicht, und wenn er nicht gestorben wäre, lebte er trotzdem nicht mehr, weil seine Rolle nicht mehr trägt. Die einzigen Überlebenden sind eine Frau, die einerseits davon träumt, ein reiches, ausgehaltenes Frauchen zu sein und damit in der Machismokultur verhaftet ist, aber andererseits die Männerfixierung auf Sex für Listen der Ohnmacht und Beruf ausnutzt. Schließlich hat sie ihren Job als Prostituierte mit dem der Bandenchefin vertauscht und ist diejenige, die das Romangeschehen vorantreibt. Ihr Überleben hängt von Grenzüberschreitung und gemeinsamem Agieren mit dem Nicht-Macho Mausgesicht ab, der freilich auch kein zukunftsfähiger Neuer Mann ist.

Mehr sagt Galich nicht. In seinem Roman gibt es keinen allwissenden Erzähler. Die Perspektive wechselt beständig zwischen den ProtagonistInnen, die alle SprecherInnen sind. Es gibt keine objektive Wahrheit, sondern nur Wünsche, Hoffnungen und Perspektivfixierungen, wenn Lied-, also Popularkulturtexte zitiert werden. Der durchgängig benutzte Slang – vieles ist nur aus dem Kontext erschließbar beziehungsweise in gängiges Schriftspanisch übertragbar – macht aus dem Roman recht eigentlich ein aufgezeichnetes Hörbuch, ja macht Managua hörbar als Ort von vielen Maulhelden, würde man vielleicht im Deutschen sagen.
Bemerkenswerterweise weist der Roman nur einen „Stilbruch“ auf: Die von Formeln und Floskeln so wunderbar strotzende umgangssprachliche Sprache verändert sich, wo La Guajira und Pancho Rana echte, nicht berechnende Zuneigung für sich entdecken. Nur da  entrümpelt Galich die Sprache von aggressiven Sprüchen. Nur da endet die Vorstellung von Mann-Frau-Beziehung nicht mehr in der unvermeidlichen Vergewaltigungsphantasie.

Bei Sergio Ramírez dagegen gibt es keine Mann-Frau-Beziehung, der nicht die Idee der Vergewaltigung innewohnt. Selbst die Hauptperson, der Inspektor mit dem vielsagenden Namen Dolores Morales (moralische Schmerzen), unternimmt gegen Ende des Verhörs einer Zeugin, der Mutter der Ermordeten, aus heiterem Himmel einen freilich misslingenden Vergewaltigungsversuch. Moralische Schmerzen hat der ehemalige Guerrillakämpfer nicht, obwohl er in gesellschaftlicher Sicht zusammen mit seinem Kollegen Bert Dixon, wegen seiner feinen Manieren Lord Dixon genannt, die ethische Fahne des Sandinismus immer noch hochhält. Eine tote Frau ist zwar die Triebfeder der Geschichte, aber darin erschöpft sich weibliche Macht schon fast. Die Tote hatte versucht, die Drogenmafia übers Ohr zu hauen, und bezahlte dafür mit dem Leben.  Andere Frauen sind Statistinnen, werden am Äußeren gemessen, sind außer Konkurrenz, wie die „Nonne“, eine fürsorgliche, desexualisierte Vorgesetzte im Parteiapparat, oder Dona Sofía, eine sandinistische Putzfrau, die sich in die Ermittlungen mogelt und auf eigene Faust ebenso wichtige wie gefährliche Spitzelaufgaben übernimmt – nicht wirklich honoriert, natürlich.

So sind die klassischen Rollenverhältnisse in der postrevolutionären Gesellschaft zwar nicht mehr wirklich intakt und die Machos gebrochen, sinnbildlich ist Morales versehrt, da beinamputiert, aber eben auch noch nicht zerbrochen. Was Galich durch die Romananlage subversiv unterläuft, klagt Ramírez direkt an: Die Perversität der herrschenden Gesellschaft wird direkt beschrieben, in der Regierung Alemán (der nicht direkt genannt wird), in der Verlogenheit von Kardinal Obando y Bravo (der schon), die falsche Frömmigkeit in ehemals sandinistischen Institutionen, katholische Prozessionen und evangelikale Anwandlungen, Protz und Korruption allenthalben, ehemalige Guerillakämpfer, die zu Handlangern der Drogenkartelle werden. Wo Galich sich in der Unterschicht bewegt, betrachtet Ramírez den Geldadel und dessen Orte. Der eine lässt DrogenkonsumentInnen sprechen, der andere leuchtet die Machenschaften der Dealer aus.    
Die Lösung des Mordfalles ist dabei kaum wichtiger als die Beschreibung der Menschen und ihrer Geschichte in Managua. Wo bei Galich die Wiedergabe der Alltagssprache besticht, ist es bei Ramírez der Humor in Dialogen, am schönsten vielleicht im Kapitel 19, der drei ehemalige Guerilleros, nun auf verschiedenen Seiten, zusammenbringt.
Oder auch im Hinblick auf die Aufklärung selbst. In den Händen oder besser Hirnen von Morales und Dixon ist sie über weite Strecken deduktiv. Wie Sherlock Holmes und Dr. Watson mutmaßen die beiden erst lange anhand von Indizien, und die Beweiskette ist im Kopf geschlossen, bevor sie sich in einen klapprigen Lada ohne ausreichend Benzin setzen und die Verdächtigen aufsuchen.

Man würde gerne mitfahren. Auf dem Schoß ein alternativer Stadtplan Managuas mit den vielen Tanzschuppen, Absteigen oder Kreisverkehren, den ehemaligen Viehauktionsplatz oder die Mordvilla, die die RomanheldInnen abklappern, als Referenzpunkte. Und dann rein ins Vergnügen!

Franz Galich: Managua Salsa City (¡Devórame otra vez!), Editora Géminis, Panamá 2000, als pdf in der Nicaraguanischen Nationalbibliothek: http://bibliotecavirtual.bcn.gob.ni/imagenes/bodega/acervo/coleccionNacional/17489_N863_44_G156M.pdf

Sergio Ramírez: Der Himmel weint um mich, Übersetzung: Lutz Kliche, Edition 8, Zürich 2015, 296 Seiten, 23,80 Euro