Im Gegensatz zum Rückgang der Industrieproduktion in vielen Branchen befindet sich die Textilindustrie in Argentinien im Aufschwung. Nach der Abwertung des Peso 2002 wurden in verschiedenen Bereichen Importe durch Produktion im Land ersetzt. Die Textilbranche wuchs seitdem um 169 Prozent und sorgte bei Herstellern und Markenfirmen für satte Gewinne. Vorher war die Textilproduktion durch die Anbindung des Peso an den US-Dollar und die Öffnung des Landes für Importe fast zum Erliegen gekommen. Das neue Wachstum wird von der Regierung mit Schutzzöllen gefördert. Aber es hat eine Schattenseite. 78 Prozent der in Argentinien gefertigten Kleidungsstücke werden in illegalen Textilklitschen hergestellt, wo die NäherInnen sklavenähnlichen Arbeitsverhältnissen unterworfen sind. Es sind überwiegend MigrantInnen, die hier für Arbeitstage von bis zu 18 Stunden mit der Hälfte des Mindestlohns abgespeist werden und eingesperrt in den überfüllten Werkstätten hausen. Mangelerkrankungen, Tuberkulose und Lungenentzündungen sind verbreitete Begleiterscheinungen.
An dieser sklavenmäßigen Ausbeutung sind nicht nur die Markenfälscher des Marktes La Salada[fn]Zu La Salada, dem Megamarkt für Billigklamotten am Rand von Buenos Aires, siehe ila 359[/fn] beteiligt, sondern genauso die großen nationalen und internationalen Markenfirmen. Zigtausende solcher Klitschen befinden sich in der Hauptstadt und im Großraum Buenos Aires, in Córdoba und anderen Städten. Mehr als 200 000 NäherInnen sind von solchen Zwangsarbeitsbedingungen betroffen. Viele MigrantInnen wurden von Menschenhändlern in diese Situation gebracht.
Seit 2005 läuft ein Großverfahren wegen Sklavenarbeit, in das mehr als hundert Markenfirmen verwickelt sind, deren Produktion in solchen Werkstätten stattfindet. Die Untersuchungen und die Öffentlichkeitsarbeit von La Alameda sowie der Brand in einer illegalen Textilklitsche 2006 im Stadtteil Caballito, bei dem sechs Menschen starben, brachten die Verhältnisse ans Licht. Aber sowohl in dem Verfahren wegen des Brandes als auch in dem Großverfahren sind nur die Betreiber der Werkstätten angeklagt. Das Vorgehen folgt der Klassenlogik: Es begünstigt und deckt die großen Markenfirmen und macht nur die Besitzer der Klitschen verantwortlich. Das System wird nicht angetastet.
Die Markenfirmen setzen die Preise fest und suchen sich Sweatshops, die bereit sind, unter entsprechend unwürdigen Bedingungen zu produzieren. Das Gesetz zur Heimarbeit (12.713), das die Markenfirmen sowohl arbeits- als auch strafrechtlich für die Arbeitsbedingungen bei ihren Zulieferern verantwortlich macht, wird bewusst nicht angewandt. 2007 wurden Klitschenbetreiber verurteilt – aber nach dem Straf- und Ausländerrecht, so als gäbe es das Gesetz zur Heimarbeit nicht. Interessanterweise taucht dieses Gesetz in den letzten Textausgaben des Strafrechts nicht mehr auf, obwohl es strafrechtliche Bestimmungen enthält.
Es gibt nur wenige Ausnahmen von dieser Nichtbeachtung: Richter Sergio Torres ging im Fall einer illegalen Textilklitsche in Parque Patricios nach diesem Gesetz sowohl gegen den Werkstattbetreiber als auch gegen die Auftragsfirma vor, und Staatsanwälte begründeten damit Ermittlungen gegen die Inhaber der Textilfirmen Soho und Kosiuko. Markenfirmen und Unternehmerverbände der Branche machen der Regierung Druck, das Gesetz zur Heimarbeit so zu ändern, dass sie für die Folgen der Auslagerung in illegale Klitschen nicht belangt werden können. 2008 legte Arbeitsminister Carlos Tomada einen entsprechenden Gesetzentwurf vor, der aber nicht durchkam, nachdem La Alameda öffentlich protestiert hatte und Abgeordnete die Zustimmung verweigerten.
Diese Reformversuche und die Nichtanwendung des Gesetzes 12.713 haben handfeste Gründe in den Interessen der BekleidungsfabrikantInnen und -händlerInnen. Durch das Gesetz könnten ihre Profite reduziert und der Gewinn zwischen anderen Gliedern der Produktionskette aufgeteilt werden. Das würde auch den Profit der LadenbesitzerInnen betreffen, die für die Verkaufslokale astronomische Mieten erzielen. Wir sollten aber nicht vergessen, dass unsere Beamten, Staatsanwälte und Richter größtenteils aus den wohlhabenden Schichten und aus Familien kommen, deren Namen für Wirtschafts- und Finanzmacht stehen. Von daher ist es nicht verwunderlich, dass sie sich in ihrer öffentlichen Funktion nicht um die Rechte der Ärmsten kümmern, sondern die Interessen der Zirkel vertreten, aus denen sie selbst kommen und denen sie unter Umständen Loyalität beweisen müssen, um weiter dazuzugehören.
So wird das Gesetz zur Heimarbeit offen missachtet und die Markenfirmen bewirken mit ihren unmöglichen Preisen sklavenähnliche Bedingungen in den Sweatshops. Die Kosten- und Gewinnstruktur ist die Basis für Prekarisierung und Sklavenarbeit in den Werkstätten. Das Nationale Institut für Industrietechnologie INTI, La Alameda und die Gewerbeaufsicht von Buenos Aires stellten in einer gemeinsamen Studie 2006/2007 fest, dass der Betrag, den eine Nähwerkstatt für die Fertigung eines Kleidungsstückes bekommt, bei höchstens fünf Prozent des Endpreises liegt. Für die Herstellung der Stoffe fallen allenfalls 15 Prozent an. Die übrigen 80 Prozent streichen Zwischenhändler, Markenfirmen und Franchiseläden ein. Bei dieser Kostenstruktur fehlt nur noch ein Werkstattbesitzer, der bereit ist, als Sklaventreiber zu fungieren. Wenn mal wieder sklavenartige Arbeits- und Wohnverhältnisse in einer Arbeitsstätte zum öffentlichen Skandal werden, wird die Justiz in der Regel ausschließlich den Werkstattbesitzer, der höchstens drei Prozent des Endverkaufspreises erhält, zur Rechenschaft ziehen, während die Großverdiener in diesem Ausbeutungssystem straffrei ausgehen. Damit das so bleibt, müssen die Richter immer wieder das Gesetz 12.713 missachten.
Das Institut INTI lancierte 2006 eine zweiteilige Kampagne gegen die Sklavenarbeit. Zum einen wurden alle Markenfirmen aufgefordert, ihre Produktionsketten (Verkaufsstellen, Zwischenhändler und Werkstätten) überprüfen zu lassen. Zur Mängelbehebung bot INTI technische Unterstützung an, damit die Firmen das Label für Saubere Kleidung ohne Sklavenarbeit bekommen könnten. Sechs Jahre nach Beginn des Programms hatte der Großteil der Markenfirmen die Überprüfung einseitig abgebrochen. Nur eine einzige Firma für Arbeitsbekleidung stand kurz davor, das Label zu erhalten. Mit dem zweiten Teil der Kampagne wurden alle Institutionen auf Stadt-, Provinz- und Landesebene aufgerufen, nur Kleidung von Herstellern mit dem Label des INTI einzukaufen. Bis heute hat einzig und allein das Verteidigungsministerium das Abkommen unterzeichnet und Mängel beseitigen lassen. Alle übrigen kümmerten sich überhaupt nicht um die Kampagne. Für dieses Scheitern sind verschiedene Akteure verantwortlich: In erster Linie der Staat, der die Markenfirmen nicht zur Überprüfung verpflichtet und seine Möglichkeiten, mit der Gewerbeaufsicht gegen diejenigen vorzugehen, die sich der Sklavenarbeit bedienen, nicht nutzt; zweitens die Markenfirmen, die lieber mit dem schlechten Ruf leben als die gravierenden Mängel in ihrer Wertschöpfungskette zu beseitigen, und schließlich einige für die Kampagne zuständige Beamte des INTI, die davon nicht überzeugt waren und generell vor den Firmen einknicken.
Ende 2008 erließ Richter Torres das historische Urteil gegen den Betreiber einer Klitsche in Parque Patricios, in der 30 NäherInnen unter sklavenähnlichen Bedingungen hausten, und auch gegen dessen Auftraggeber. Er ordnete an, dass die Maschinen beschlagnahmt und für soziale Zwecke zugunsten der Ausgebeuteten verwendet werden sollten. Das INTI sollte Opfer illegaler Klitschen aufrufen, Kooperativen zu gründen und mit diesen Maschinen in einer eigens dafür bestimmten Industrieanlage zu arbeiten. Diese als Polo Textil bezeichnete Anlage wurde 2009 eingeweiht. Heute arbeiten dort mehr als 100 NäherInnen in acht Kooperativen. Wenn dieses Beispiel Schule machen würde, wäre der Verlust der Produktionsmittel für die Sklavenhalter eine effektive Strafe und der Staat hätte durch die Beschlagnahmung die Mittel, den Opfern zu einem Arbeitsplatz mit würdigen Bedingungen zu verhelfen. Aber das Beispiel bleibt bislang eine Ausnahme.
In den Debatten zur Reform des Gesetzes gegen Menschenhandel haben wir, die Mitglieder von La Alameda, gefordert, die Beschlagnahmung des Eigentums von Menschenhändlern, Sklavenhaltern und Mafia sowie dessen Gebrauch für soziale Zwecke zugunsten der Opfer voranzutreiben, was bei den meisten Abgeordneten auf unerbittliche Ablehnung stieß. Hier werden gemeinsame Interessen und Anzeichen von Korruption deutlich. Obwohl Sklavenhalter angeblich bekämpft werden, kommen sie ungeschoren davon.
Ein Höhepunkt dieser Komplizenschaft war die Aufnahme der Chefs von La Salada in die offizielle Delegation, die nach Angola und Aserbeidschan reiste, um dort diesen Riesenmarkt als Modell vorzustellen. La Salada ist ein Markt mit 12 000 HändlerInnen auf einer Fläche von 20 Hektar in Lomas de Zamora, auf dem pro Jahr etwa 100 Millionen US-Dollar umgesetzt werden. Er entstand ursprünglich als Rebellion der Nähwerkstätten gegen die Auftraggeber, die ihnen erbärmliche Beträge zahlten. Mit seinen Preisen weit unter denen der Kaufhäuser wurde der Markt sehr beliebt. Das Geheimnis lag in der Ausschaltung der Zwischenhändler und geringeren Gewinnen für die Betreiber der Werkstätten. Trotzdem war La Salada letzten Endes nur für die Werkstattbetreiber und Händler ein Gewinn, nicht aber für die NäherInnen in den mehr als 20 000 illegalen Klitschen, in denen für La Salada produziert wird. Die Bedingungen sind hier nicht besser als in den Sweatshops, die für die Markenfirmen produzieren. Auch hier erleben die MigrantInnen, die von Menschenhändlern ins Land geholt wurden, das Drama von Zwangsarbeit und Unterbringung auf engstem Raum in einer Art Knechtschaft. La Salada hat die betrügerischen Verkaufspraktiken der Markenfirmen und ihrer Zwischenhändler sowie deren obszöne Gewinnmaximierung praktisch aufgezeigt. Aber trotz des Wachstums und der hohen Gewinne für die Betreiber und HändlerInnen besteht die produktive Basis weiterhin aus zehntausenden NäherInnen, die in extremer Armut und sklavenähnlichen Verhältnissen die Kleidung für diesen Markt herstellen. 2007 haben wir gemeinsam mit dem INTI und der Gewerbeaufsicht berechnet, dass die Produkte auf diesem Markt nach einer Legalisierung der ArbeiterInnen immer noch 53 Prozent billiger als in den Warenhäusern verkauft werden könnten, selbst wenn die NäherInnen in den 20 000 Klitschen mit Papieren arbeiten, Tariflohn bekommen und alle Abgaben bezahlen würden. Für die illegale Ausbeutung der NäherInnen gibt es also kein Argument, abgesehen von der Gier der Marktbetreiber, den Interessen der Polizei, die fette Schmiergelder kassiert, und denen der beiden größten Parteien der Provinz Buenos Aires, die sich ihren Wahlkampf von La Salada sponsern lassen. Da die Regierung nichts gegen die Zustände unternimmt und La Salada im Ausland als Modell verkauft, unterstützt sie faktisch die Sklavenarbeit, auf der dieses Großunternehmen basiert – 200 Jahre nach Abschaffung der Sklaverei in Argentinien.