Markt ist nicht gleich Markt!

Unsere Zeit ist auf DEN MARKT fixiert, so als hätte es niemals etwas anderes gegeben. Die entsprechende Marktlogik durchdringt alle Lebensbereiche. Es wird gerechnet, was das Zeug hält, im Privaten wie im Öffentlichen. Alles hat einen Preis. Eine kranke Person säubern – soundso viel. Eine Grundschule im Viertel – zu teuer. Fleisch muss billig sein – Schweineknäste hin oder her. Billigklamotten aus Weltmarktfabriken – die armen Frauen dort sollen doch auch was verdienen. Wer sich nicht an die Preislogik hält, den bestrafen die Märkte – oder die Landwirtschaftskammer den Bauern und die Bäuerin, die sich weigern, einen neuen Milchviehstall für mindestens 60 Kühe zu bauen und stattdessen lieber nur 25 Kühe halten wollen, die gemeinsam auf die Weide dürfen, dazu Schweine und Hühner sowie Mischkultur auf dem Acker. Der andere, gehorsame Bauer bestraft sich lieber gleich selbst und schluchzt auf, wenn er sich im Interview eingesteht, wie ihn die Qual seiner 2000 Mastschweine selber quält.[fn]Andrea Baier, Veronika Bennholdt-Thomsen, Brigitte Holzer, Ohne Menschen keine Wirtschaft. Berichte aus einer ländlichen Region in Ostwestfalen, oekom: München 2005, S. 44-53[/fn]

In Wirklichkeit bestraft der Markt nämlich nicht jene, die nicht gehorchen, sondern die anderen mit ihrem vorauseilenden Gehorsam. So etwa die Biobauern, die unbedingt heraus wollten aus der Nische des kleinen, regionalen Biomarktes und Verträge mit den großen Supermarktketten abschlossen. Jetzt müssen sie nach deren Pfeife tanzen und sich ebenfalls der Logik der billigen und hohen Stückzahl unterwerfen. Auch die KundInnen werden bestraft für ihre Fixierung auf den Preis. Der kleine Biofachhandel verschwindet, genauso wie der Tante Emmaladen an der Ecke, die Metzgerei, die Bäckerei, der Fahrkartenschalter, oder gleich der gesamte Bahnhof. Sich durch Einkaufen versorgen heißt mit dem Auto fahren, heißt mit Abgasen belastete Luft, heißt Bewegungseinschränkung vor allem für die Kinder, heißt Versiegelung von Flächen und Schrottberge. 

Die Herrschaft des Marktes hat das Lohndumping zur Folge. Die Tatsache, dass man sich allgemein der Marktlogik beugt, hat in Deutschland die fast schon reibungslose Einführung von Hartz IV erst ermöglicht. Aber man beugt sich bei uns nicht nur der herrschenden Marktlogik, sondern man hat sie auch als vorgeblich naturgegeben verinnerlicht. „There is no alternative“, konnte Margret Thatcher einfach behaupten. Aber auch Marx irrte gründlich, als er meinte, die Zirkulationssphäre, d.h. der Markt, könne vernachlässigt werden, Ausbeutung und Akkumulation fänden nur durch die Produktionssphäre statt. Jedoch: Markt ist nicht gleich Markt.

Märkte sind zentrale Bausteine von Gesellschaft und das gilt nicht nur für die Gegenwart und die Zentren der Weltwirtschaft. Märkte strukturieren die Kommunikation. Sowohl das, was gehandelt wird, enthält eine Botschaft, als auch die Art und Weise, wie es vermarktet wird. Es macht einen großen Unterschied für die Verfasstheit einer Gesellschaft, ob der Markt für Nützliches und Lebensförderndes da ist oder ob es dabei in erster Linie um den Profit geht. Für Karl Polanyi entscheidet der Platz, den die Märkte in der Gesellschaft einnehmen, über Frieden oder Krieg. Seine berühmte These von der Entbettung des Marktes/der Ökonomie aus der Gesellschaft verfasste er während des Zweiten Weltkrieges. Die disembeddedness ist für ihn der Grund für die beiden verheerenden Weltkriege. „Wir vertreten die These, dass die Idee eines selbstregulierenden Marktes eine krasse Utopie bedeutete. Eine solche Institution konnte über längere Zeiträume nicht bestehen, ohne die menschliche und natürliche Substanz der Gesellschaft zu vernichten.“[fn]Karl Polanyi, The great transformation: Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Europaverlag: Wien, 1977, S.17[/fn] In der Gegenwart müssen wir erleben, dass die „Entbettung“ weiterging, dass sie die „Substanz“ der Gesellschaft, also die Weltanschauung, die Kultur, den Sozialcharakter, das politische Denken und die Kommunikation – sozusagen vernichtend veränderte. Die Idee des selbstregulierenden Marktes – zugespitzt: die Idee vom Menschen als des Menschen Wolf – hat sich in alle gesellschaftlichen Institutionen eingenistet. So als wäre „Gesellschaft“, so als wäre „Markt“ immer schon so. 

In den 50er-Jahren koordiniert Polanyi ein Projekt, in dem gezeigt wird, dass der Markt mit Tauschregeln, die auf das vereinzelte Individuum zugeschnitten sind, keineswegs das Muster für jegliche Märkte abgibt.[fn]Karl Polanyi, Conrad Arensberg, Henry W. Pearson, eds., Trade and Market in the Early Empires: Economies in History and Theory, New York, London, 1957[/fn] Historisch gibt es Märkte, die sozial, politisch und religiös eingebettet sind und den Regeln folgen, die die Abhängigkeit und Verbundenheit der Menschen von und mit der Natur unterstützen sowie von und mit der mitmenschlichen Gemeinschaft. Diese Märkte gibt es in Lateinamerika nach wie vor. Sie sind in ländlichen Kleinstädten und Dörfern zu finden, häufig in Gegenden mit hohem Anteil indigener Bevölkerung. Gehandelt werden vor allem regionale Produkte, nicht selten sind die VerkäuferInnen auch die ProduzentInnen, man kennt sich, man bildet Teil eines lokalen und regionalen Beziehungsgeflechts. Selbst der kleine Laden in der Favela trägt nach wie vor Züge davon, eingebettet zu sein. Dort können die BewohnerInnen des Viertels zumindest anschreiben lassen. Im Supermarkt hingegen wird man das vergeblich versuchen, selbst wenn die Kassiererin eine gute Freundin sein sollte.

Wie ist in Lateinamerika (und nicht nur hier) möglich, was in Europa oder den USA den meisten Menschen unmöglich erscheint? „Man kann das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen“, lautet achselzuckend das Argument. Sehen wir uns also die Geschichte an. In Lateinamerika können nach wie vor, wenn auch mit schwindendem Abstand, grob zwei Arten von Markt unterschieden werden, die lokalen und regionalen Versorgungsmärkte (Plural) und der Exportmarkt (Singular). Letzterer ist gesellschaftlich entbettet, genauso wie anfangs der dazugehörige Importmarkt in den kolonialen Herrschaftsländern. Mit dem auf kolonialistische Plünderung zielenden (Immanuel Wallerstein) und darauf beruhenden Markt (André Gunder Frank) entsteht der Kapitalismus und gehorcht dieser Logik bis heute. DER MARKT bildet sich heraus, der Weltmarkt. Seine Regeln werden in den Metropolen nicht nur erdacht, sondern sie durchdringen die Gesellschaften der Metropolen in ihrem Inneren weit schneller und tiefgreifender als in den Kolonien. Die Trennung verschiedener Markttypenlöst sich schneller auf. Kein Wunder, denn schließlich ist der kapitalismus auf der Grundlage der metropolitanen sozialen, politischen und religiösen Institutionen entstanden. Auch gaukelte der Massenkonsum den Massen bald vor, an einer Art Kolonialdividende teilzuhaben. 

Die Mechanismen des kolonialistischen Marktes bleiben allerdings das, was sie sind, kolonialistisch. Sie kolonisieren die Herrschaftsländer auch intern. Die ökonomistisch-rassistische Scheidegrenze der Entwicklungsideologie, die da lautet: „wir sind entwickelt“, die anderen sind unterentwickelt“, wirkt zudem wie ein vergifteter Zaubertrank. Weil Marktregeln Kommunikationsregeln sind und Märkte/ der Markt nicht nur ein Phänomen der Ökonomie, verändern sie auch die Weltanschauung und die Kultur.

Die Entwicklungspolitik, die Maßnahmen der Weltbank, des Internationalen Währungsfonds und die Welthandelsorganisation, die zur fortgesetzten Kolonisierung nach dem zweiten Weltkrieg geschaffen wurden, tun ihre Wirkung hier wie dort und zerstören die nach wie vor, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß bestehenden Versorgungsmärkte mit ihren jeweils eigenen Regeln. Allerdings gibt es in den Kolonien offenbar einen größeren kulturellen antikolonialistischen Widerstandsgeist. Gegenwärtig wird in Bolivien und Ecuador explizit auf die indigenen Kulturen zurückgegriffen, um gegen die Ideologie des FREIEN MARKTES ein anderes, nach wie vor lebendiges Denken zur Entfaltung zu bringen. „Gut leben“, vivir bien, ist sogar ein Verfassungsziel. Es wird dem Ziel des immerfort währenden Strebens der Wachstumsökonomie nach „besser leben“ entgegengesetzt.

Wenn wir, Polanyi folgend, den Prozess der Transformation der Märkte hin zu DEM MARKT aus dem Blickwinkel der gesellschaftlichen Integration oder Desintegration betrachten und nicht länger aus dem der sogenannten ökonomischen Entwicklung, dann bemerken wir, wie viel stärker die Gesellschaft der Kolonialmächte von der Desintegration betroffen ist. Der koloniale Exportmarkt, bestehend aus den Tributen aus Gold und Silber, aus Rohstoffen, aus Tributen an Bananen und Soja oder an Billigprodukten aus den Weltmarktfabriken, plündert die Länder einerseits zwar aus, andererseits aber hat er in den Kolonien mehr Raum für weniger kapitalistisch ausgehöhlte lokale und regionale Gesellschaftsstrukturen übrig gelassen als in den Metropolen. 

Im indigenen Juchitán im Süden Mexikos, wo wir in den 90er-Jahren eine Marktstudie durchgeführt haben, bestimmt eine sehr umfassende gemeinschaftliche Verbindlichkeit den Handel.[/fn]Veronika Bennholdt-Thomsen, Hg., Juchitán – Stadt der Frauen, Rowohlt: Reinbek bei Hamburg, 1994. Ich möchte darauf hinzuweisen, dass wir die Untersuchung vor dem Inkrafttreten des gemeinsamen Marktes von Mexiko, USA und Kanada (NAFTA, seit 1994) durchgeführt haben. Seine Regeln wirken sich auch deutlich sichtbar auf Juchitán aus, wo es z.B. seit 2005 einen Wal Mart gibt. Dennoch benutze ich in meiner vorliegenden Darstellung der Einfachheit halber die Gegenwartsform.[/fn] Die Preise auf dem Markt sind äußerst flexibel, die Höhe des Preises richtet sich nach dem Grad der Bekanntheit zwischen Händlerin und Käuferin, etwa ob sie comadres sind oder nicht, und danach, ob die Käuferin auch auf dem Prestigefest der Händlerin war und vice versa, ob sie also gegenseitig ihrem sogenannten compromiso social nachkommen. Die großen, riesige Gruppen umfassenden velas, die Prestigefeste, von denen es 35 im Jahr gibt, ferner die quinzeañeras (Feiern zum 15. Geburtstag der Mädchen), die Hochzeiten, die Geburtstags- und Examensfeste, von denen es noch einmal mehr als 600 im Jahresdurchschnitt gibt, all diese Feste leben vom compromiso social. Er gilt nicht abstrakt, sondern konkret. Die Gastgeberin merkt sich, wer kommt und was die Besucherin zum Fest beigesteuert hat, um bei ihrem Fest dann wieder dasselbe beizutragen. Das kann aus Kartons mit Bier bestehen, aus Geld, aus Patenschaften für das Tanzorchester oder aus einem Beitrag zum Buffet. Bei mindestens 200 bis 400 BesucherInnen der kleinen Feste ist das nötige Erinnerungsvermögen wahrhaftig erstaunlich. Damit aber nicht genug, auch der Markt mit seinen Gütern und Tauschregeln ist in dieses Netz eingebunden.
 
Geld hat in diesem Kontext eine andere Bedeutung, es zeichnet sich nicht durch eine abstrakte, vorgeblich objektive Zahlensumme aus. Die Pesos dienen als Gabe, als limosna beim Fest, genauso wie zur Bezahlung eines Gerichtes, das die Nachbarin an der Haustür verkauft, oder für die Waschfrau, die auf die Pflege des Spitzensaums der Festkleider spezialisiert ist. In Juchitán hat jede Frau ihr selbst erwirtschaftetes Geldeinkommen, das dann in Goldmünzen angelegt wird, die sie, als sichtbare Sparkasse zu Ketten gefügt, um den Hals trägt. Die Juchitecas arbeiten als Ärztin oder Bankkauffrau, die meisten als Händlerin, jeweils spezialisiert auf Fisch und Garnelen, auf Obst, Käse oder Gemüse, auf Kleidung und auf Möbel, eben alles, was man zum Leben braucht. Hausfrauen gibt es nicht, vielmehr ist die ganze Ökonomie der Stadt ein großer, arbeitsteiliger Haushalt. Die Arbeitsteilung wird über den Handel koordiniert. Diese im klassischen Sinn „oikonomia“ wird mit Hilfe von mexikanischen Pesos organisiert. Dennoch bleiben das Geld, wie auch die Regeln des Marktes, gesellschaftlich eingebettet. Der Markt von Juchitán hat eine klare Verteiler- und Umverteilerfunktion. 

Einerseits ist die juchitekische und insgesamt die zapotekische Gesellschaft des Isthmus angesichts der starken ökonomischen, und zwar prestigeökonomischen Stellung der Frauen eine Besonderheit. Die Ehre der Frau gereicht auch ihr selbst zur gesellschaftlichen Ehre. Andererseits verbindet den Markt von Juchitán mit Märkten in patriarchaler strukturierten Gesellschaften auch eine auffallende Gemeinsamkeit: Lokale und regionale Versorgungsmärkte werden fast überall auf der Welt weitgehend von Frauen getragen.