Eigentlich wollte die aus Kufstein stammende Kulturwissenschaftlerin Karin Harrasser 2018 auf einer Reise ins bolivianische Tiefland mehr über „Motive und Kontexte der Revitalisierung des jesuitischen Erbes“ erfahren. Sie schloss sich einer internationalen Reisegruppe an, die in Concepción de Chiquitos ein Festival für Alte Musik besuchte. Dieses findet alle zwei Jahre in den renovierten Missionskirchen statt und zieht vor allem ein weißes Publikum an. Sie hatte sich als Touristin getarnt und in die Reisegruppe eingeschlichen. Niemand kannte ihre eigentliche Motivation. Sie wollte den neokolonialen Charakter des Festivals dokumentieren, weshalb sie auch Kontakt mit dem Sohn eines deutschen Architekten vor Ort aufgenommen hatte, der in den 1970er-Jahren die Jesuitenmissionen wiederaufgebaut hatte. Durch ihn und eigene Internetrecherchen wurde sie auf die Filme von Hans Ertl (1908-2000) aufmerksam. Ertl war Alpinist, Kameramann von Leni Riefenstahl, Regisseur und Autor. Im Jahr 1948 wanderte er nach Bolivien aus und betrieb später in Chiquitos eine Hazienda. Seine Familie, so auch Tochter Monika, ließ er 1953 nachkommen.
Der Zufall führte Harrasser also auf diese „unverhoffte zweite Spur“. Und die kam ihrem Forschungsinteresse der „(kulturellen) Gewalt als Element von transatlantischen Beziehungen“ sehr entgegen. Später stieß sie auf noch ganz andere Aspekte und Belege eines „transatlantischen Nachlebens des Nationalsozialismus“: Neben der Chiquitanía ist Kufstein ein zweiter Schauplatz ihres Buches. Die Autorin wuchs in der Tiroler Kleinstadt auf, wo bis 1982 auch Hans-Ulrich Rudel lebte, hochdekorierter Fliegersoldat im Zweiten Weltkrieg. Kufstein liegt an der „Rattenlinie“[fn]So bezeichneten US-amerikanische Geheimdienst- und Militärkreise die Fluchtrouten führender Vertreter des NS-Regimes, Angehöriger der SS und der Ustascha nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Fluchtrouten führten über Italien oder Spanien hauptsächlich nach Argentinien.[/fn], und Rudel war NS-Fluchthelfer, Freund Peróns und Waffenlieferant mehrerer lateinamerikanischer Diktatoren. Er belieferte auch das Regime des deutschstämmigen Hugo Banzer (1926-2002), der Nachbar von Hans Ertl in der Chiquitanía war. Zur deutschen Kolonie gehörten treue Nazis wie Klaus Barbie (1913-1991), der Schlächter von Lyon, der unter Banzer eine zweite Karriere als Berater des Geheimdienstes und Experte für Aufstandsbekämpfung machte.
Hugo Banzer und Klaus Barbie, so Harrasser, kannten Hans Ertl und dessen Tochter Monika Ertl (1937-1973) persönlich. Einiges deutet darauf hin, dass diese am 1. April 1971 in Hamburg den bolivianischen Generalkonsul Roberto Quintanilla (1928-1971) erschossen hat, der als Polizeioberst und leitender Geheimdienstmitarbeiter für den Mord an zahlreichen Oppositionellen verantwortlich war. Quintanilla hatte sich 1967 mit dem toten Che Guevara fotografieren lassen und den Befehl gegeben, aus erkennungsdienstlichen Gründen dessen Hände zu amputieren. Harrasser schreibt, dass Quintanilla zahlreiche Mitglieder der Guerilla Ejército de Liberación Nacional (ELN) foltern ließ und dabei vom Kriegsverbrecher Barbie beraten wurde. Außerdem berichtet sie, dass er „nach Deutschland aus der Schusslinie gebracht wurde“, als ihm in Bolivien der Boden zu heiß wurde, und dass „seine Liquidierung … Monika Ertl als Mitglied des Leitungsgremiums der ELN als logische Konsequenz erscheinen“ musste. Monika sei „mit ihren deutschen Wurzeln und Verbindungen die Idealbesetzung für diese Aufgabe“ gewesen.
Monika Ertl wurde am 12. Mai 1973 von Sicherheitskräften in La Paz erschossen. Die Tochter des NS-Filmers war eine der Anführer*innen der ELN, der bolivianischen Guerilla, die von Che Guevara mitgegründet worden war. Die ELN wollte seine Tötung rächen. Banzer gab den Befehl für Monika Ertls Exekution. Und Barbie war es, so Harrasser, der Monika Ertl nach ihrer Rückkehr nach La Paz Ende 1971 auf der Straße erkannt und ihre Verfolgung in Gang gesetzt habe. Er sei wesentlich an ihrer Exekution beteiligt gewesen, habe aber Monikas Schwester Beatrix „bei einer Begegnung auf der Straße sein Beileid“ ausgesprochen.
Harrasser unterteilt ihr Buch, das viel mehr ist als eine Biografie Monika Ertls, nicht in chronologisch aufeinanderfolgende Kapitel. Sie spricht von Episoden, die sich in den abgelegenen Orten der Chiquitanía und in Kufstein abspielen. An beiden peripheren Schauplätzen kreuzen sich „transatlantische Linien“. Die Autorin rollt sie detailliert auf. Das Buch strotzt nur so von gut recherchierten Fakten zur bolivianischen Geschichte, zu den deutsch-bolivianischen Beziehungen, zur deutschen Einwanderung und zu deren Wirken in Bolivien, zum Einfluss des preußischen Militarismus und Nationalsozialismus, zu den Beziehungen der verschiedenen bolivianischen Regierungen zum nationalsozialistischen Deutschland. Eine wahre Fundgrube.
Darüber hinaus stellt uns Harrasser die Dokumentarfilme und Reportagen Hans Ertls zur Geschichte, Flora und Fauna Boliviens vor, die er vor Ort produzierte und an denen Monika Ertl zum Teil mitwirkte („Vorstoß nach Paititi“, 1956; „Hito-Hito“, 1958). Die beiden Filme zeigen die einzigen Bewegtbilder, die es von Monika Ertl gibt. „Aufgenommen im väterlichen Blick, eine junge Frau, die schelmisch, aber auch ernst schauen kann, im grünen Tarnanzug, mit Töpfen, Tieren oder Kameras hantierend.“ Mit Aufnahmen zu seinem dritten bolivianischen Dokumentarfilm, „Surazo“ (in Anlehnung an den kalten Wind aus Patagonien, der hin und wieder ins bolivianische Tiefland einfällt), begann Ertl Anfang der 1960er-Jahre. Leider ging das Filmmaterial verloren, als Ertls LKW in einen Fluss stürzte. Es gibt auch Fotos, die Monika Ertl zeigen, etwa von Régis Debray (Jahrgang 1940), dessen Aufnahmen von 1971 aus dem cubanischen Ausbildungscamp auf Harrasser zu distanzlos wirken („junge Frau entspannt beim Rauchen, beim Trinken, lachend beim Tischtennismatch“). Der Franzose widmete Monika Ertl auch einen Roman („Ein Leben für ein Leben“, 1979), „ein romantisch überhöhtes Porträt der Revolutionärin“. Auch habe Debray ihr Eintreten für den politischen Kampf entpolitisiert und zu einem „schwärmerischen Impuls umgemünzt“. Dies sei auch der Fall bei dem Roman „Die Affekte“ (2015) des Bolivianers Rodrigo Hasbún (Jahrgang 1981), der Ertls „Tat zu einer romantischen Ausgeburt affektiver Überschüsse“ erkläre. Diese Tendenz lasse sich auch in der Darstellung des Engagements anderer in der Guerilla aktiven Frauen, etwa Tamara Bunke, feststellen. Zudem, so Harrasser, gebe es die Tendenz, „diese Frauen durch ihre Beziehungen zu Männern in der Guerilla zu charakterisieren“.
Karin Harrasser wird dem Leben von Monika Ertl gerecht. Sie stellt nicht das Attentat auf Roberto Quintanilla in den Mittelpunkt, sondern ihr Wirken in Bolivien und Chile in den 1950er- und 1960er-Jahren, ihr Verhältnis zu ihrem Vater und den Schwestern und ihre Entwicklung hin zu einer Guerillakämpferin. Hans Ertl habe gerne über seine Lieblingstochter gesprochen, sie sei so was wie sein „Ersatzsohn“ gewesen. Obwohl Hans Ertl die Kämpfe seiner Tochter kaum ernst nahm und selbst die Diktatur guthieß, standen die beiden sich sehr nahe. Sie wollte, dass ihr Vater die Hazienda der Guerilla als Rückzugsort zur Verfügung stellte. Das lehnte er natürlich ab, er, der „den militärischen Eliten Boliviens nahestand“ und Monikas bewaffneten Einsatz als Träumereien abtat.
Das sind alles hochinteressante Episoden und Ereignisse aus der bolivianisch-deutschen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert, die die Autorin spannend erzählt. In Verbindung mit der Darstellung ihrer persönlichen Erlebnisse bei Recherchen in Bolivien und Kufstein sorgen sie für ein fesselndes Leseerlebnis.