Sie schriebe immer nur über das, was geschehen sei oder was sie selbst erlebt habe, sagt Lenka Reinerová im Lebenswege-Interview. Nach der Lektüre ihres Buches „Das Traumcafé einer Pragerin“ würde ich sagen, daß sie mit dieser Aussage zwar recht hat, aber auch tiefstapelt. Denn die in dem Band versammelten sieben Erzählungen haben zwar das Erlebte als Grundlage, aber dabei läßt es die Autorin nicht bewenden. Sie bringt das Geschehene auf verschiedene Ebenen, verwebt die Erzählstränge, fängt Stimmungen ein, baut Spannungsbögen auf, reflektiert und läßt Träume und Phantasien einfließen. Dabei ist sie umgemein präzise.
In „Der Ausflug zum Schwanensee“, der längsten und gleichzeitig dichtesten Geschichte des Bandes, beschreibt die Erzählerin den Besuch im ehemaligen Frauenkonzentrationslager Ravensbrück, wo ihre jüngere Schwester bis zu ihrer Deportation und Ermordung in Auschwitz gefangen war. In der KZ-Gedenkstätte sucht sie nach dem Bild der Schwester. Dabei entdeckt sie das Foto einer Frau, die zur gleichen Zeit wie sie im Gefängnis „La Petite Roquette“ in Paris inhaftiert war. Diese Frau, die Schweizerin Carmen Maria Mory, hatte als Doppelagentin zunächst für den SD, später für den französischen Geheimdienst gearbeitet. Nach der Besetzung Frankreichs tritt sie wieder in deutsche Dienste. Aus Gründen, die im Dunkeln bleiben, landet sie irgendwann als Gefangene im KZ Ravensbrück – wird schnell zur Vertrauten der Wachmannschaften und zur grausamen Blockältesten, von den Häftlingen „Schwarzer Engel des Todes“ genannt. 92 000 Frauen starben in Ravensbrück. Und da ist das Bild dieser Schweizerin, die es immer wieder fertigbrachte, auf der richtigen Seite zu stehen und Macht auszuüben – in Ravensbrück über Leben und Tod. All dies fügt die Erzählerin zusammen und erzeugt damit eine bittere Spannung. Erst die Phantasie, die Mörderin zu enttarnen und – individuell – zur Rechenschaft zu ziehen, bringt Erleichterung.
In „Glas und Porzellan“, meinem Lieblingstext, beschreibt eine Frau die Zeit nach ihrer Entlassung aus der Haft in den fünfziger Jahren. Sie ist zwar wieder draußen, aber nicht frei. Die Angst ist geblieben, das einstige Selbstbewußtsein scheint verloren. Da der ehemaligen Gefangenen ihr journalistisches Metier verschlossen ist, nimmt sie eine Arbeit in der Musterabteilung eines Großhandelsbetriebs für Glas und Porzellan an. Durch die Wiederannäherung an Ehemann und Tochter und die offene Art ihrer KollegInnen faßt sie langsam Fuß, doch die Schatten der Vergangenheit bleiben mächtig. Eines Tages kommt die Stunde der Wahrheit. Ein alter Kollege soll entlassen werden. Sein Sohn sitzt im Gefängnis, von seinem Lohn hängen Ehefrau und zwei Enkelkinder ab. Die Entlassung wäre eine soziale Katastrophe. Die KollegInnen sind empört, jemand müßte das Ritual der Betriebsversammlung am folgenden Tag durchbrechen und etwas sagen. Die Erzählerin weiß, daß sie das in neue Schwierigkeiten bringen könnte, vielleicht erneut Trennung von Mann und Kind bedeuten würde. Was wird sie tun?
1993 erhält Lenka Reinerová die Einladung, an einer Konferenz über die deutschsprachige Emigration in Mexico teilzunehmen. Sie sagt zu und unternimmt eine Reise in die Erinnerung, in das Land, in dem sie sich nach ihrer Flucht um die halbe Welt endlich sicher und geborgen fühlen konnte. Die „Zweite Landung in Mexico“ ist weniger eine Erzählung denn eine literarische Reportage. Voller Neugier erkundet die Autorin die Stadt und ist von neuem von ihr fasziniert, ohne freilich ihre Schattenseiten und das soziale Elend zu übersehen. Symptomatisch für ihre Art, das Leben anzugehen, ist für mich ihre Beschreibung des deutschen Kommunisten Walter Janka, der auch an der Tagung teilnahm. Wie die Autorin war er im mexicanischen Exil und wurde in den fünfziger Jahren Opfer der stalinistischen Säuberungen. „Der Mann, dem in seiner Heimat von seinen Genossen schweres Unrecht widerfahren war, schleppte, so schien mir, diese Last pausenlos mit sich, konnte von ihr nicht loskommen, so wie man zeitlebens von einer Wunde weiß, selbst wenn sie längst vernarbt ist.“ Auch Lenka Reinerová hat Schlimmes erlebt, aber sie hat es weder ihren Peinigern noch den ihr zugefügten Verletzungen gestattet, dauerhaft Macht über sie auszuüben. Es gelang ihr immer wieder, sich freizustrampeln – mit Hilfe guter Freunde und sicher und auch dank der Fähigkeit, ihre Erlebnisse schreibend zu verarbeiten.
Ach ja, der Titel des Buches. Im heutigen Prag verschwinden langsam die alten Kaffeehäuser, die einst feste Bestandteile des gesellschaftlichen Lebens der Moldau-Metropole waren. Hier verkehrte die Prager Gesellschaft, und hier trafen sich die kritischen Künstler und Intellektuellen zum Diskutieren, Zeitunglesen oder auch zum Schreiben. In ihrer Phantasie läßt die Erzählerin ein solches Kaffeehaus wieder auferstehen und bevölkert es mit den Gästen, die einst den Ruf der Stadt als kosmopolitische Kulturmetropole an der Schnittstelle verschiedener Kulturen begründeten. Im „Traumcafé einer Pragerin“ begegnen uns die deutschsprachigen Prager Autoren Franz Kafka, Rainer Maria Rilke, Egon Erwin Kisch, Franz Werfel, F.C. Weißkopf ebenso wie ihre tschechisch schreibenden Kollegen Jaroslov Hašek, der Autor des braven Sodaten Schwejk, Karel Capek, dessen beißende Kapitalismussatire „Der Krieg mit den Molchen“ seit langem zu meinen Lieblingsbüchern gehört, oder der Literaturnobelpreisträger Jaroslav Seifert. Die Erzählung ist eine Reminiszenz der Autorin an ihr Prag und an die kulturelle Tradition, in der sie steht und die durch die Nazibarbarei unwiderruflich zerstört wurde.
Im Frühjahr 1997 wird im Aufbau-Taschenbuch-Verlag unter dem Titel „Mandelduft“ ein weiteres Buch mit drei neuen Erzählungen von Lenka Reinerová erscheinen. Ich freue mich schon drauf.
Lenka Reinerová, Das Traumcafé einer Pragerin. Sieben Erzählungen. Aufbau-Taschenbuch-Verlag, Berlin, 2. Auflage 1997, 270 Seiten, 15,90 DM