Das Phänomen „Bürgerwehr“ stößt hier zunächst einmal auf Unverständnis und Abwehr. Dieser Begriff ist in erster Linie von der organisierten Rechten in Form von Wehrsportgruppen oder selbsternannten Bahnhofspatrouillen in den hiesigen Diskurs vorgedrungen. Solche Bürgerwehren handeln von einer rassistisch und völkisch-nationalistischen Ideologie geleitet, um – wie sie sagen – die öffentlichen Orte wieder sicherer zu machen. Der Polizei und dem Staat misstrauen sie, daher nehmen sie das Recht lieber in die eigene Hand. Auch zu nennen sind FaschistInnen in Bulgarien, die neuerdings im türkischen Grenzgebiet auf MigrantInnenjagd gehen. All dies sammelt sich unter dem Begriff „Bürgerwehr“.
Luis Hernández Navarro zeigt in seinem Buch eindrücklich, dass es sich bei Gruppen der zivilen Selbstverteidigung in Mexiko keinesfalls um klandestin organisierte Netzwerke handelt, denen es um die Verteidigung ihrer priviligierten gesellschaftlichen Position geht, sondern vielmehr um einen historischen Prozess zur sozialen, kulturellen, politischen und ökonomischen Selbstbestimmung, die sich vor dem Hintergrund des zunehmenden Einflusses der organisierten Kriminalität und der staatlichen Repression gegen soziale und indigene Bewegungen herausbilden.
Die These des Autors: Die Rückgewinnung der öffentlichen Sicherheit bildet lediglich die Grundlage eines Autonomieprozesses, der die Selbstorganisierung gemäß eigener Usos y Costumbres[fn]Deutsch: Sitten und Gebräuche – komplexes, von kollektiven Vorstellungen geprägtes Normensystem, das das politische, soziale und ökonomische Leben der Gemeinden organisiert.[/fn] anstrebt.
Im ersten Drittel seines Buchs „Kommunale Selbstverteidigung – Formen des bewaffneten Widerstands gegen Mafia und Staat in Mexiko“ skizziert Hernández Navarro die von Widersprüchen geprägte aktuelle Situation Mexikos: Makroökonomischer Boom einserseits, zunehmende Verarmung und Landflucht andererseits. Für einige ein Tourismusparadies, für andere die Hölle des militarisierten Alltags. Während Mexiko internationale Reputation genießt, in erster Linie für die Vorreiterrolle bei der Unterzeichnung von Menschenrechtskonventionen, werden im Inneren tagtäglich diese Rechte verletzt. Anhand erschreckender Zahlen und prägnanter Fallbeispiele deckt der Autor die zunehmende Vermischung von Politik, organisiertem Verbrechen und UnternehmerInnenwelt auf, welche ein immenses Maß an physischer und struktureller Gewalt hervorruft. Selbstverteidigungsgruppen und Gemeinschaftspolizei sind für ihn die logische Konsequenz.
Hernández Navarro mischt literarische Passagen, in denen die Geschichten einzelner Individuen nachvollzogen werden, mit analytisch-journalistischen Kapiteln, die diese Erfahrungen in den gesamtgesellschaftlichen Kontext einordnen.
Die Geschichte des 77-jährigen Landwirts Don Alejo erzählt eindrücklich von der aufkommenden Notwendigkeit der Selbstverteidigung. Als eines Tages die Mafia vor seinem Haus steht und ihm ein Ultimatum von 24 Stunden setzt, um seinen Bauernhof zu räumen, benachrichtigt er die offiziellen Sicherheitskräfte, bekommt jedoch keinen Schutz. Also beschließt er, lieber im Kampf um seinen Besitz zu sterben als diesen den Kriminellen freiwillig zu übergeben. Seine Geschichte macht ihn landesweit zu einem Idol für Selbstverteidigungsgruppen und Gemeinschaftspolizei und bestärkt viele AkteurInnen in ihrem Entschluss, zu den Waffen zu greifen.
Anhand vieler Beispiele wie diesem wird deutlich, dass es sich um hochgradig komplexe und heterogene Erfahrungen handelt, die sich je nach nach historischem, lokalem und sozialem Kontext, dem sie unterliegen, unterscheiden. Trotzdem gelingt es dem Autor, die Vielfalt des Phänomens zu ordnen und daraus Bewertungen ihrer jeweiligen Legimität und des sozial-revolutionären Potenzials abzuleiten.
Die sogenannten autodefensas stehen dabei ganz in der Tradition des erwähnten Don Alejo. Sie sind bewaffnete ZivilistInnen, die dem Terrorismus der Kartelle ein Ende bereiten wollen. Oft stehen privatwirtschaftliche oder politische Interessen hinter deren Führung. Auch um Macht konkurrierende Kartelle tarnen sich als autodefensas oder die Regierung selber kann diese Gruppen zweckmäßig zur Durchsetzung ihrer Interessen instrumentalisieren.
Als Konsequenz dieser Unübersichtlichkeit und Heterogenität stellt der Autor folgende These auf: Die große Palette an Umgangsformen des Staates gegenüber den autodefensas, die sich von Kooperation bis zu Bewaffnung und Repression erstreckt, ist Ausdruck seines autoritären Charakters. Staatsorgane unterstützen oder tolerieren die autodefensas, wenn sich deren AnführerInnen der Strategie der lokalen, bundesstaatlichen oder nationalen Machthaber unterwerfen. So wollen sie verhindern, dass eine positive Synergie zwischen den autodefensas und der Zivilgesellschaft entsteht, das heißt, dass sich der reaktive Charakter dieser Gruppen wandelt, hin zu einem Akteur mit politischer Strahlkraft oder zu einer sozialen Bewegung, die in der Lage ist, Forderungen zu artikulieren.
Der Autor scheint selbst etwas ratlos, was langfristig von diesen Gruppen zu halten ist und welche Potenziale und (paramilitärischen) Risiken in ihr stecken. Auch wenn er keine realpolitische Vision für die Lösung des Problems anbieten kann, lässt er keinen Zweifel daran, dass ihr Auftauchen im von Gewalt gebeutelten Michoacán kein Zufall ist. Die autodefensas werden nicht verschwinden, wenn in dem immer schneller werdenden Zug, der durch klientelistische Politik gelenkt und von dem entfesselten Mafia-Kapitalismus, neoliberalen Strukturanpassungen und steigender Militärpräsenz angetrieben wird, niemand die Notbremse zieht.
Erwähnenswert ist, dass Hernández Navarro bei seiner Analyse des Aufstiegs der Drogenkartelle und ihrer zunehmenden Verstrickung in politische Projekte auf verkürzte Kritik verzichtet. Eindrucksvoll schildert er den Werdegang von Nazario Méndez Vargas, auch genannt el más loco (dt. der Verrückteste): er ist der Anführer der berüchtigten Familia Michoacana. Statt in ihm ein monströses Einzelphänomen zu sehen, zeichnet er ein authentisches Bild eines charismatischen intelligenten Menschen, dem es gelingt die ökonomischen Sorgen der Gesellschaft und die strukturellen Defizite des politischen Systems für seine Machenschaften zu nutzen. Hernández Navarro macht klar, dass sich das organisierte Verbrechen schon lange nicht mehr nur auf martialische, klandestin handelnde Drogenschmuggelnetzwerke reduzieren lässt. Die Kartelle haben es vielmehr geschafft die Rolle von Sozialversicherungsinstituten zu übernehmen. Sie investieren ihre Gelder nicht nur in Bildung und Infrastruktur, sondern versprechen vielen jungen Menschen auch eine vermeintlich glorreiche Zukunft. Ihre Integration in kommunale Strukturen erfolgt auch zunehmend über religiös-spirituelle Motive.
Eine besondere Berücksichtigung im Buch findet die Policía Comunitaria in Guerrero. Für den Autor sind die Gründe für den zunehmenden Handlungsspielraum der gemeindebasierten Polizei in diesem Bundesstaat offensichtlich: erstens verfügt der hohe Anteil indigener Bevölkerung über eine uralte Tradition in kommunitären Praktiken, zweitens erhielt dieser Geist durch den zapatistischen Aufstand weitere Inspiration und neues Selbstvertrauen bei der Bildung kollektiver Sicherheitssysteme, und drittens hat der schmutzige Krieg der 70er-Jahre tiefe Wunden im „Land der Witwen und Waisen“ hinterlassen und ein positives Verhältnis zum Staatsapparat weitestgehend zerrüttet. Der Autor sieht in der Policía Comunitaria in Guerrero nicht nur einen Akteur, der es geschafft hat, mit der CRAC-PC[fn]Coordinadora Regional de Autoridades Comunitarias-Policía Comunitaria (dt. Regionalkoordination der Gemeindevertretungen-Gemeinschaftspolizei)[/fn] eine weitestgehend stabile Organisations- und Koordinationsplattform zu etablieren, sondern erkennt in ihr sogar ein dekoloniales Potenzial.
Die Bildung einer eigenen Justiz, die auf Schadensregulierung und Resozialisierung fußt, geht dabei über die Funktion der öffentlichen Sicherheit hinaus und ist als Ausdruck des angestrebten Autonomieprozesses zu verstehen. Für Hernández Navarro geht es um die Rückgewinnung der Identitäten und Lebensformen, die die letzten Jahrzehnte massiv durcheinander gebracht worden waren. Ihre Legitimation speist die Policía Comunitaria aus einem breiten gesellschaftlichen Mandat und der Rechenschaftspflicht gegenüber ihren Gemeinden. Einen exemplarischen Platz in dieser Bewegung nimmt die Purepecha-Gemeinde Cherán ein, da hier die Vision einer autonomen ökonomischen, sozialen und politischen Selbstorganisierung internationale Reichweite erlangt. Cherán zeigt die Möglichkeiten und Grenzen des Widerstands gegen den neoliberalen Narco-Kapitalismus, der die natürlichen Ressourcen ausbeutet und den kollektivistischen Charakter der indigenen Gebiete in eine gewinnbringende Ware verwandeln will. Die Selbstverteidigung des eigenen Territoriums ist, um bei der Metapher zu bleiben, mehr als nur eine Notbremse. Sie kann vielmehr als die Bedingung für einen freien Entfaltungsprozess der indigenen Völker Mexikos gelten.
Aus seiner Sympathie gegenüber diesen Autonomieprojekten macht der Autor keinen Hehl, ohne dabei jedoch in romantisierende Diskurse zu verfallen. Bei allem revolutionären Potenzial diskutiert er deren Widersprüche und Risiken. Der Fokus der Kritik liegt auf dem Umgang mit der Staatsmacht: Ähnlich wie bei allen sozialen Bewegungen Mexikos spaltet die Frage nach der Dialog- und Kompromissbereitschaft mit der Regierung und anderen institutionellen Kräften auch die UnterstützerInnen und Mitglieder der Policía Comunitaria und bietet so eine Angriffsfläche. Hernández Navarro kritisiert, dass der Staat bewusst die internen Strategie- und Machtkämpfe innerhalb der CRAC durch regelmäßige Kooptierungsversuche instrumentalisiert.
Die vielfältigen Erfahrungen kommunaler, bäuerlicher und indigener Selbstverteidigung und Selbstverwaltung sind noch sehr jung, weshalb ihre Analysen unvollständig und lückenhaft sein müssen. Trotzdem gelingt es Hernández Navarro, eine interessante Perspektive von unten zu eröffnen, die es erlaubt, zukünftige Entwicklungen und Widersprüche kritisch zu reflektieren. Durch den Fokus auf zivilgesellschaftliche AkteurInnen bleiben Lösungsansätze, die sich innerhalb der bestehenden Institutionen und parlamentarischen Welt bewegen, unbeachtet. Es wird interessant sein zu beobachten, ob die Linke in Mexiko mittelfristig die tiefen Gräben zwischen anti-systemischen und institutionell orientierten, parteipolitischen Kräften überwinden kann. Aber das ist wieder ein anderes Thema.
Der Wert von Luis Hernández‘ Buch liegt vor allem darin, dass er denen eine Stimme gibt, die sonst keine haben: Indigene, Kleinbäuerinnen, Widerstandsbewegungen und all die Angehörigen der Toten und Verschwundenen des mexikanischen Drogenkriegs.
Siehe dazu auch den Schwerpunkt der ila 324 (April 2008): Drogenkrieg in Mexiko und darin einen Artikel zur Lage in Guerrero