Na gut, ist zwar hier nicht erlaubt, aber sieht ja gut aus. Ihr könnt weitermachen, wenn ihr noch einen Polizisten mit einem Maschinengewehr dazu malt.“ Es ist ein heißer Sonntagnachmittag an einer schmutzigen Schnellstraße nahe des Busbahnhofs in Rio de Janeiro, als fünf junge Männer eine Außenwand des angrenzenden Hafengeländes mit bunten Namenszügen bemalen und ein Streifenwagen der Polícia Militar anhält. Dar um jeito – ein Auge zudrücken, jemandem einen Gefallen tun. Diese Rio-typische Eigenheit, die in diesem Fall zu polizeilicher Willkür zugunsten der grafiteiros geführt hat, bestimmt häufig das Verhältnis zwischen der Fraktion der StraßenkünstlerInnen und ihrer vermeintlichen Widersacher, der Hausbesitzer und Ordnungshüter. Doch nicht alle, die sich Flächen im öffentlichen Raum aussuchen, um sich in Bild oder Schrift auszudrücken, werden NutznießerInnen dieser laxen Auslegung der gesetzlichen Vorschriften zu den sogenannten Umweltverbrechen (crimes ambientais). Wie im oben beschriebenen Fall entscheidet meist die subjektive Einschätzung der jeweiligen Autoritäten über das Schicksal der in flagranti ertappten SprüherInnen.
Grafiteiros[fn]Der Frauenanteil liegt wie hierzulande bei geschätzten 5 bis 10 Prozent.[/fn] genießen seit einigen Jahren vermehrt den Ruf als KünstlerInnen, brauchen keinen Hehl aus ihrem Hobby zu machen, malen meist am helllichten Tag und bleiben mit höchster Wahrscheinlichkeit unbehelligt. KünstlerInnen, die sich hauptsächlich auf Schablonengraffiti, Poster und Aufkleber beschränken, wie sie in den letzten Jahren in weiten Teilen der Welt als sogenannte Street Art Aufsehen erregt haben, führen in Rio ein Schattendasein – warum sollte man sich auch Techniken bedienen, die komplexe Werke in kurzer Zeit ermöglichen, wenn man gar nicht zu befürchten hat, verjagt oder festgenommen zu werden?
Als kriminelle Vandalen gelten hingegen die pixadores, die vor allem nachts ihre Namen als einfarbige Namenszüge an Hausfassaden und allerlei städtischem Mobiliar hinterlassen, und deshalb einem ungleich höheren Repressionsrisiko als die grafiteiros ausgesetzt sind. Genau diese Lebensart prägt den Alltag in der Millionenstadt. Das direkte Nebeneinander in der fragmentierten Stadtlandschaft von ärmlichen Hütten und Wohnanlagen der Reichen, von Pferdekutschen und Helikoptern, von Müllhalde und weltberühmtem Traumstrand, von Todesangst und jauchzender Lebensfreude, von Maschinengewehrsalven, Bossa Nova und Baile Funk verwirrt, fasziniert und kreiert eine verrückte Lebensphilosophie.
Vor dieser Kulisse ist es besonders reizvoll, einen genaueren Blick auf die vielseitigen Ausprägungen der Graffitikultur Rios zu werfen, deren Entstehung – wie im Fall der meisten Großstädte – auf einige US-amerikanische HipHop-Spielfilme und Graffiti-Dokumentationen zurückzuführen ist. Doch auch der Einfluss der vibrierenden Szene im benachbarten São Paulo war verantwortlich dafür, dass sich zur lokalen tagging-Kultur (pixação), deren Anfänge Mitte der 1980er Jahre liegen, ein bunter, lebensfroher Mitstreiter in den Straßen gesellte. Die ersten Versuche in Sachen grafite, wie das „American Graffiti“ in Rio genannt wird, wurden etwa ab Mitte der 1990er auf Skate-Rampen und Wänden von Kulturzentren getätigt; wer heutzutage in Rio zur Old School gezählt wird, malt somit in der Regel seit 10 bis 15 Jahren.
Entscheidend bei der Auseinandersetzung mit Graffiti in Rio ist die Unterscheidung in Tagging und Graffiti (pixação und grafite), welche durch den täglichen Sprachgebrauch der Aktiven wie auch der Öffentlichkeit reproduziert wird. Und gemäß der betonten Differenzierung zwischen den beiden Writing-Formen sind auch deren UrheberInnen auch unterschiedlichen Gruppen zuzuordnen, nur wenige sind in beiden Spielarten zu Hause. Zwar fühlen viele der grafiteiros eine Verbundenheit zu den pixadores aufgrund des gemeinsamen Betätigungsfeldes auf der Straße oder ihrer Vergangenheit als pixadores; durch den Wettkampf um die besten Flächen in den Straßen kommt es aber in den letzten Jahren zu immer massiveren Brüchen zwischen den Szenen.
Grafite hat sich nach anfänglichen Akzeptanzproblemen, als das Phänomen wegen seiner Unerklärbarkeit noch Unsicherheiten und Ablehnung in der Öffentlichkeit hervorgerufen hatte, in wenigen Jahren zu einer gesellschaftlich weitgehend anerkannten Ausdrucksform gemausert. Nur noch selten wird grafite ebenso wie politische Parolen oder Fußballfan-Sprüche als pixação, als Schmiererei, beschimpft. Mittlerweile loben die großen Zeitungen die Arte da Rua, die Kunst der Straße. Mit Verweis auf die geschichtlichen Wurzeln der traditionellen lateinamerikanischen Wandmalerei, des Muralismo, die weltweite Verbreitung und das erreichte Qualitätsniveau gelingt es den grafiteiros vermehrt, große Auftragsarbeiten von privaten oder kommunalen Partnern an Land zu ziehen und Türen zu bürgerlichen Galerien und Ausstellungen aufzustoßen – die hässliche große Schwester pixação bleibt natürlich außen vor. In genau diesem Aspekt unterscheiden sich die beiden Spielarten eklatant: Der Stolz der pixadores und ihr Selbstverständnis als Outlaws fußt in entscheidendem Maße auf ihrer gestalterischen Kompromisslosigkeit und führt bei etlichen zu einer gewissen Verachtung gegenüber der Anbiederung der grafiteiros, deren Schaffen nicht mehr an ästhetische und soziale Normen aneckt und die sich bereitwillig für politische und kommerzielle Interessen vereinnahmen lassen.
Wenngleich Graffiti im gesamten Stadtgebiet annähernd omnipräsent ist, so haben die Aktivitäten der grafiteiros in den Armenvierteln Rios doch besondere Aufmerksamkeit verdient. Der Lebensalltag des Großteils der etwa zwölf Millionen EinwohnerInnen des Großraums von Rio de Janeiro ist geprägt von einer starken sozialräumlichen Fragmentierung: Die Stadtlandschaft gleicht einem Flickenteppich, dessen einzelne Stadtteile durch konkret errichtete sowie unsichtbare soziale Mauern voneinander getrennt sind und in denen das Einkommen und die Hautfarbe der BewohnerInnen den Wohnort bestimmen. Die vielen hundert Favelas und Siedlungen des sozialen Wohnungsbaus kämpfen mit einer Vielzahl sozialer, infrastruktureller, politischer und ökologischer Missstände und sind besonders von Stigmatisierung und sozialer Ausgrenzung aus der formellen Stadt betroffen. Außerdem haben die blutigen bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen um Drogengelder und Macht zwischen den ortsansässigen Drogenkommandos, den Schutzgeld erpressenden Milizen und den (ebenfalls kriminellen) diversen Polizeieinheiten längst schreckliche Ausmaße angenommen.
Doch in den letzten Jahren lässt sich abseits der Vorzeigestadtteile ein „Aufstehen der Favelas“ erkennen, sie präsentieren ihre kulturelle Vielfalt und Identität immer selbstbewusster und nehmen den „Kulturkampf um die Repräsentation der Favela“[fn]Lanz, Stephan (2004a): Die Explosion einer Bombe? City of God” versus Cidade de Deus, S. 91, in: Lanz, Stephan (Hg.): City of COOP. b-books, Berlin[/fn] selbst in die Hand. Dieses Erstarken der kulturellen Produktion „von unten“ geht Hand in Hand mit einer Form politisch motivierten Widerstands gegen „die Stigmatisierungsspirale, welche die Favela als No-Go-Area markiert“. Nach Jahrzehnten der Unterdrückung und Enttäuschung durch die Politik „von oben“ wächst in den Favelas die Überzeugung, Politik dort zu machen, wo die Menschen leben, für die sie gemacht wird. Das alltägliche kulturelle Handeln wird immer stärker in seiner politischen Bedeutung erkannt, die Idee einer Politik des Kulturellen entfaltet sich in den Favelas von Rio de Janeiro.
Zu diesem Prozess der Inwertsetzung endogener Entwicklungspotenziale sind einerseits die unzähligen Graffiti-Kurse zu zählen, die seit geraumer Zeit in den meisten Kulturzentren diverser Favelas angeboten werden. Sie zielen darauf ab, die Partizipation der Jugendlichen in ihren Stadtteilen zu fördern und sie gegen das Abdriften Jugendlicher in den Drogenhandel zu stärken. Sehr erfolgreiche Graffiti-Projekte sind außerdem die mutirões de grafite, die seit rund drei Jahren regelmäßig in den Marginalvierteln der Millionenstadt veranstaltet werden. Dabei handelt es sich um Straßenfeste mit reichhaltigem Kulturprogramm (Konzerte, Tanzshows, „Volksküche“ etc.), bei denen sich teilweise mehr als 100 MalerInnen aus dem gesamten Stadtgebiet Rio de Janeiros zusammenfinden, um die Plätze, Straßen und Gassen der jeweiligen comunidade farblich neu zu gestalten. Die mutirões[fn]Nachdem der Rapper MV Hemp im brasilianischen Nordosten an einem HipHop-Mutirão teilgenommen hatte, veranstaltete er zusammen mit der HipHop-Gruppe Comando Selva und den Sprühern CRIS und FAEL im Stadtteil Bangú im Jahr 2004 den ersten mutirão de hip hop in Rio de Janeiro.[/fn] werden häufig von SprüherInnen organisiert, die in der politisch-kulturellen Bildungs- und Sozialarbeit tätig sind. Mit den mutirões werden keinerlei finanzielle Interessen verfolgt und die Planung und Durchführung geschieht partizipativ in direktem Kontakt zu den lokalen BewohnerInnen (-vereinigungen). Im Vorfeld werden die Events auf Flyern und einschlägigen Webseiten bekannt gemacht und SprüherInnen ohne Diskriminierung aufgrund ihrer sozialen oder räumlichen Herkunft oder ihrer Crewzugehörigkeit[fn]Grafiteiros sind meist in crews organisiert, pixadores in siglas. Ziel ist die Verbreitung des Namens des jeweiligen Freundeskreises, der zwei bis zehn (crews), manchmal auch mehrere Dutzend Mitglieder umfasst (siglas).[/fn] eingeladen.
Das mutirão-Konzept entstammt der ländlichen Nachbarschaftshilfe und wird heute bei kollektiven Aktionen zur Errichtung, Renovierung oder Säuberung von Infrastruktur und gemeinnützigen Einrichtungen wie Gemeinschaftsgärten, selbstverwalteten Radiostationen und Sportplätzen angewandt. Bei den mutirões steht nicht selten ein thematischer Schwerpunkt im Zentrum der Aktivitäten: Unter dem Motto HipHop ao Trabalho (etwa „HipHop an die Arbeit“) wurden im Stadtteil Costa Barros am 1. Mai 2009, dem Tag der Arbeit, Fragen um die Beschäftigungsverhältnisse künstlerisch angegangen. Eine andere mutirão in der Favela Fazendinha widmete sich – unterstützt von Ärzte ohne Grenzen, dem Roten Kreuz und dem lokalen Nachbarschaftskomitee – der Bekämpfung des Dengue-Fiebers, einer gefährlichen Tropenkrankheit, die durch Stechmücken übertragen wird.
Die mutirão „Meeting of Favela“ (MOF) wird seit Dezember 2006 jährlich von Mitgliedern der Graffiti-Gruppe Posse 471 in deren Favela Vila Operária in Caxias organisiert. Die Organisatoren legen Wert darauf zu betonen, dass es sich beim MOF um das „größte ehrenamtliche Graffiti-Event des Landes” handelt, womit sie klar die soziale Ausrichtung des MOF betonen und es von kommerziellen Events abgrenzen. Den Tag über veranstalten die BewohnerInnen der comunidade auf der Spitze ihres Favela-Hügels ein Straßenfest um einen Fußballplatz herum, in einer nahegelegenen Schule wird den MalerInnen eine warme Mahlzeit serviert und ab dem Nachmittag finden in einem benachbarten Gemeindesaal HipHop- und Reggaekonzerte statt. Die mutirão lässt ein buntes Miteinander entstehen aus AnwohnerInnen jeden Alters, spielenden Kindern, heimischen SprüherInnen und Gleichgesinnten aus den entlegensten Vierteln Rio de Janeiros. Auch die Grupo Sócio-Cultural Raízes em Movimento aus dem Favela-Komplex Alemão ist überzeugt von dieser Form der kulturellen Austauschs. Raízes veranstaltet seit 2006 bereits zum fünften Mal in Zusammenarbeit mit zwei Partnerorganisationen ein Straßenfest in einer der Hauptstraßen der Favela Morro do Alemão namens Circulando.
Eine bedeutende Komponente für die BewohnerInnen der jeweiligen comunidade stellt die solidarische Bereitschaft der einheimischen und auswärtigen SprüherInnen dar, in ihre Nachbarschaft zu investieren, indem sie ihre eigenen Farben mitbringen und sich aktiv um die optische Aufwertung der Straßen und Gassen bemühen. Mario Bands, einer der Organisatoren der mutirão erzählt: „Ich halte das für eine der besten Ideen im Graffiti, da treffen sich alle an einem Tag in einer bestimmten Favela – und da sieht man den Unterschied. Die ganze Nachbarschaft feiert! Die Leute haben Spaß und wollen zuschauen, sind neugierig, wie die Bilder entstehen, das ist ein aktiver Prozess! Die Veranstaltungen sind eine Form der Kommunikation und eine Form, mit der wir an die Öffentlichkeit gehen, Interaktion schaffen, diesen Dialog und Kommunikation zwischen den Favelas. Und durch die Veranstaltungen gelingt es uns, die Allgemeinheit zu mobilisieren.”
Die Leistungen der mutirões gehen also über die Verschönerung von marginalisierten Wohnvierteln in der „informellen Stadt“ weit hinaus. Die moralische Unterstützung der jeweiligen comunidades durch die MalerInnen stellt eine wichtige Komponente der Idee dar. Die mutirões leisten einen wichtigen Beitrag zur Förderung des Bewusstseins für kulturell-politisches Engagement und für die Sensibilisierung der BewohnerInnen für solidarische Kulturproduktion „von unten“. Von entscheidender Bedeutung ist auch, dass die mutirões ein Kulturangebot darstellen, das größtenteils ohne Einflussnahme der Drogenbanden stattfindet.
Außerdem erfüllen die mutirões längst nicht nur eine Funktion für die comunidades selbst. Manch ein grafiteiro aus einem condomínio fechado, einer geschlossenen Wohnanlage in der Südzone von Rio, setzt an einem solchen Tag zum ersten Mal einen Fuß in den Teil der Stadt, aus dem er bisher nur vom Drogenkrieg gehört (und möglicherweise trotzdem Drogen bezogen) hat. Wenigstens für einen Tag gelingt es den MalerInnen, die sozialen Mauern innerhalb der Stadt zu überspringen und ein paar Schritte in Richtung eines verständnisvolleren und gleichwertigeren Zusammenlebens zu wagen. „Da kommt jemand unvermittelt hier her mit einer Vorstellung von Krieg im Complexo do Alemão, von Krieg in Rio de Janeiro, aber dann sieht er die Wirklichkeit, lernt die andere Seite und die tatsächlichen Werte kennen, die hier drinnen existieren. Wenn die Leute kommen, um die Favela kennenzulernen, lernt die Favela auch die Leute kennen und bricht auch mit dem Stigma der Südzone. Klar hat jemand von dort bessere Voraussetzungen, aber er ist hier und er möchte etwas machen, um Kontakte zu knüpfen, um etwas zu entwickeln, um sich auszutauschen. Es bedeutet auch, aus der Favela die Stadt zu machen, einen Teil der Stadt, weil die Favela Teil der Stadt ist!” begeistert sich der grafiteiro David Amen, Mitglied von Raízes.
Mit Hilfe der mutirões gelingt eine stadtteilübergreifende Vernetzung auf Graswurzelniveau, eine solidarische Organisation unter MalerInnen, politischen AktivistInnen und BewohnerInnen unter Nichtbeachtung von Territorialansprüchen krimineller Drogenbanden und Milizen. Die mutirões ermöglichen Kultur für alle – unter freiem Himmel und ohne Zugangsbeschränkung. Sie zeugen vom riesigen kulturellen Potential der Stadtteile, die vom offiziellen Kulturbetrieb ausgeschlossen sind und dennoch die Mehrheit bilden, sie bringen Menschen aus derselben Stadt zusammen, die bis dahin scheinbar nichts verband und die sonst wohl kaum miteinander in Berührung kommen würden. Damit fungieren sie auch in Zukunft hoffentlich erfolgreich als ein kulturelles Werkzeug zur Überwindung sozialer Grenzen und im Widerstand gegen die weitere sozialräumliche Fragmentierung Rio de Janeiros. Und sie liefern einen Beweis mehr, dass kulturelles Schaffen nicht „unpolitisch“ sein muss.
Möchte man einen Ausblick auf die allgemeinere Entwicklung des Graffitigeschehens der kommenden Jahre wagen, so kann man davon ausgehen, dass die sportlichen Großereignisse 2014 und 2016 einen Einfluss auf die Graffitikultur in Rio haben werden. Im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft werden vermutlich Anstrengungen nach dem Vorbild São Paulos unternommen, die Flächen entlang etlicher Hauptverkehrsachsen großflächig zu reinigen, um vor allem die pixação aus den repräsentativen Zonen der Stadt zu drängen. Andererseits werden sicherlich aufwändige kommerzielle Graffiti-Produktionen entstehen, die auf die Spiele Bezug nehmen. Auf jeden Fall wird es sich auch in Zukunft lohnen, einen genauen Blick auf Rio und seine SprüherInnen zu werfen.
Einblicke und Eindrücke: http://meetingofavela.blogspot.com