In Kolonialzeiten hat Jamaica vor allem Zucker und seit dem Zweiten Weltkrieg auch Bauxit exportiert, in beiden Fällen mit hohen Weltmarktanteilen, aber geringem Gewinn für die Bevölkerung. Die von den Spaniern weitgehend ignorierte Insel kam 1655-60 in den Besitz Londons, nachdem die kommende Weltmacht in den Jahren der Cromwell-Revolution Spanien in der Karibik mit einer massiven Offensive herausgefordert hatte. Danach wurde Jamaica mit der Sklavenarbeit auf den sich ausbreitenden Plantagen die regionale „Perle“ der britischen Krone und der größte Zuckerproduzent der Welt. Von der spanischen Epoche zeugen heute nur noch Städtenamen wie Spanish Town und Ocho Ríos.
Die Sklaverei wurde 1834 abgeschafft, aber Aufstände waren immer auf der Tagesordnung gewesen und brutal, oft blutig, unterdrückt worden. Jamaica hatte jedoch die Besonderheit eines nach jahrzehntelangen Kämpfen von den Herrschern tolerierten kleinen Territoriums befreiter Sklaven – der Maroons, vom Wort cimarrones aus den spanischsprechenden Nachbarinseln – im Cockpit Country im Norden der Insel. Diese konnten dort frei leben, hatten aber akzeptieren müssen, keine Flüchtlinge von anderswo aufzunehmen (vgl. Beitrag „Traditionen des Widerstands“ in dieser ila). Die rebellische Tradition der Schwarzen lebte dann in weiteren Episoden und politischen Führern fort, darunter in der Philosophie von Marcus Garvey, die die Rückbesinnung auf die afrikanischen Wurzeln predigte (vgl. Beitrag „Jenseits von Babylon“ in dieser ila) und damit auch in den USA einen breiten Widerhall fand. Interessanterweise hatten die Premierminister des unabhängigen Jamaica bis 1992 noch eine recht helle Hautfarbe, während die Bevölkerung zu rund 90 Prozent schwarz ist, mit sehr kleinen Minderheiten europäischer, indischer und anderer Herkunft.
Seit etlichen Jahrzehnten kommen nun die Devisen vor allem vom Fremdenverkehr um Montego Bay an der Nordküste und den Überweisungen der verhältnismäßig riesigen Diaspora des Landes, insbesondere aus Nordamerika. Zuckerexporte sind immer weniger konkurrenzfähig und die Raffinerien werden reprivatisiert, während die Bauxitproduktion unter der Weltkrise und der Standortpolitik der Bauxitkonzerne leidet (vgl. Beitrag „Statt rotem Gold nur roter Schlamm“ in dieser ila). Der Blue Mountains Coffee mag, wie einst James Bond meinte, der beste der Welt sein, fällt aber kaum ins Gewicht, ebenso wenig wie die Bananen. Die Tourismuseinnahmen schwanken, und wie den meisten anderen Karibikinseln bringen dem Land oft Hurrikane schwere Schäden.
Jamaica wurde im August 1962 als erste der britischen Kolonien der Region unabhängig – Trinidad & Tobago folgte sogleich, Guyana und Barbados 1966 –, aber im sozialen Bereich änderte sich zunächst unter der JLP-Regierung von Alexander Bustamante und dessen Nachfolger Hugh Shearer eher wenig. Das Puerto-Rico-Modell der industrialization by invitation – einer beschränkten und im Wesentlichen vom ausländischen Kapital kontrollierten Industrialisierung – brachte ein rasches Wachstum, aber wenige Arbeitsplätze und geringe Gewinne für das Land. Auch war es eng mit dem gleichzeitig boomenden Bauxitexport verbunden, denn Jamaica war damals weltgrößter Exporteur, knapp vor Australien. Es vertiefte die von der Kolonialepoche ererbten sozialen Ungleichheiten eher noch weiter.
Mit dem Wahlsieg der PNP Michael Manleys kamen dann ab 1972 radikale Reformen, die freilich heftige Konflikte auslösten: Land- und Steuerreform, Verstaatlichung ausländischer Zuckerplantagen und -fabriken, größerer Hotels und der einzigen, vom nationalen Kapital kontrollierten Zementfabrik, Einführung von Mindestlohn und neuen Arbeitsgesetzen, darunter für Frauen, Alphabetisierungskampagne und einiges mehr. Darunter war die Reform der für das Land wesentlichen, von kanadischen und US-Multinationalen beherrschten Bauxitindustrie. Sie wurde teilverstaatlicht und zu viel höheren Abgaben an die nationale Regierung verpflichtet, worauf die Firmen die Produktion senkten. In der Wirtschaft ging es auch darum, die wie überall in der Karibik extrem extrovertierten Strukturen zu reformieren, u.a. durch die Ankurbelung der Produktion der bisher massiv importierten Nahrungsmittel, um das Land hier autarker werden zu lassen. Wie in den meisten anderen Karibikinseln werden auch in Jamaica so gut wie alles Getreide und das Wesentliche der Milchprodukte importiert, allerdings nur wenig Obst und Gemüse, die auf vielen kleineren Inseln ebenfalls großenteils eingeführt werden. Gleichzeitig sollten die tiefen Ungleichheiten, auch mit einem massiven sozialen Wohnbauprogramm, vermindert werden.
Proklamiertes Ziel war ein „demokratischer Sozialismus“ als „dritter Weg“ zwischen liberalem Kapitalismus und autoritärem Sozialismus, mit gemischter Wirtschaft und unter Beibehaltung des demokratisch-parlamentarischen Systems.
Außenpolitisch orientierte sich Jamaica nunmehr klar an der Blockfreienbewegung, gehörte mit Venezuela und Mexiko zu den lautstärksten Befürwortern einer „Neuen Weltwirtschaftsordnung“ und nahm freundschaftliche Beziehungen zum Nachbarn Kuba und dem Sowjetblock auf. Im vitalen Bauxitbereich alliierte sich das Land mit anderen Exporteuren wie Surinam und Guinea – 1974 entstand eine International Bauxite Association, und plante ein Zusammengehen mit Venezuela und Mexiko zur in Jamaica kaum rentablen, da sehr energieaufwendigen Produktion von Aluminium (vgl. Beitrag „Statt rotem Gold nur roter Schlamm” in dieser ila). Die 1973 gegründete Karibische Gemeinschaft CARICOM wird seit jeher viel mehr von der PNP als von der JLP unterstützt.
Das alles war aber auch schon mehr als genug, um die konservativen Gegenkräfte inner- und außerhalb des Landes aufzustacheln, die den kommunistischen Teufel an die Wand malten. Kapitalflucht, Erdölschock und Rückgang der Deviseneinkommen aus Bauxitexporten, Überweisungen der Diaspora und Tourismus verschärften die Lage bis zur Katastrophe. 1977 musste Manley ein ruinöses Abkommen mit dem IWF akzeptieren, was dann in der sehr gewalttätigen Wahlkampagne von 1980 mit Hunderten Todesopfern und einer nicht eben passiven Haltung der CIA die JLP wieder an die Macht zurückbrachte.[fn]In seinem Buch Jamaica – Struggle in the Periphery, Third World Media Limited, London, 1982, beschreibt Manley diese Politik und die Konflikte dieser Jahre ausführlich. Laut Manley zeigte die Rolle der USA in der Destabilisierung der PNP-Regierung klare Parallelen zu ihrer Aktion in Chile einige Jahre vorher.[/fn]
Der neue Premier Edward Seaga kehrte denn auch zur alten US-freundlichen Politik zurück, machte die meisten Maßnahmen der Jahre 1972-80 rückgängig und beteiligte sich 1983 an der von Washington organisierten militärischen Intervention in Grenada. Er war der erste offizielle ausländische Besucher des neuen US-Präsidenten Ronald Reagan, und David Rockefeller wurde Vorsitzender eines Komitees zur Förderung von US-Investitionen in Jamaica. Die Beziehungen mit Cuba, die 1972 von den vier bedeutendsten anglokaribischen Ländern, alle mit soliden Traditionen der ererbten Westminster democracy, gemeinsam aufgenommen worden waren, wurden nun von Jamaica wieder abgebrochen.
Aber das Land hat sich auch unter der Rosskur des IWF – der natürlich sofort viel bessere Konditionen bot –, der neuerlichen JLP-Regierung und mit Hilfe Reagans und dessen Caribbean Basin Initiative keineswegs erholt. Jamaica wurde noch abhängiger und tiefer verschuldet. Es gehört heute, anders als früher, zu den ärmsten Ländern der Region und lag vor wenigen Jahren auf Platz 100 im UNDP-Human Development Index und damit an vorletzter Stelle unter den Karibikinseln, obwohl sich seine Position seither offenbar deutlich verbessert hat. Im Index für 2011 liegt Jamaica an 78. Stelle, knapp nach Venezuela und noch vor Brasilien und Ecuador sowie ganze 20 Plätze vor der Dominikanischen Republik.
Die Bilanz des halben Jahrhunderts Unabhängigkeit gibt damit, alles in allem, trotz etlicher Fortschritte und der konsolidierten demokratischen Traditionen, nicht allzuviel Grund zum Feiern.
Politische Turbulenzen und andere Faktoren haben Jamaicas Potenzial eingeschränkt. Wie Manley selbst darstellt, hatte sich das Bruttoinlandprodukt von 1962 bis 1972 fast verdoppelt, ist in der Periode 1972-81 jedoch um rund 25 Prozent gesunken. Aber während sich die Arbeitslosigkeit in den Jahren 1962-72 von 12 auf 24 Prozent verdoppelte, stieg sie in den acht Jahren seiner Regierung wohl weiter, aber nur noch von 24 auf 27 Prozent. Die Zahlen spiegeln einerseits die strukturellen Schwächen des „Puerto-Rico-Modells“ in der Schaffung von Arbeitsplätzen wider, aber auch die rasch akut gewordenen Probleme einer Politik der radikalen Veränderungen in einem kleinen Land unter dem Druck des Ölschocks und der folgenden Weltwirtschaftskrise sowie der Opposition des eigenen konservativen Lagers und starker ausländischer Kräfte, vor allem der USA. Was immer die Fehler der Manley-Jahre gewesen sein mögen, das Erbe von vorher, darunter die durch die beschränkte Industrialisierung eher noch verstärkten Abhängigkeitsmechanismen, und die entschiedene Destabilisierung durch mächtige in- und ausländische Kreise, brachten der Episode ein brutales Ende.
Wie praktisch alle Karibikinseln ist Jamaica seit Jahrzehnten ein Land der massiven Auswanderung. Bei Universitätsabsolventen soll die Quote bei über 80 Prozent liegen und die Überweisungen der Emigranten machen gegen 20 Prozent des Nationaleinkommens aus, eine der höchsten Proportionen selbst in der Karibik, die weltweit die Spitzenauswanderungsquote aufweist. Frauen wandern in neueren Zeiten etwas mehr aus als Männer, was sicher, zusammen mit der chronisch hohen Arbeitslosigkeit, zur Jugendkriminalität beiträgt. Denn wie überall in der Region liegt die Erziehung der Kinder hier, mehr als anderswo, in den Händen der Mütter. Die Tendenz könnte sich angesichts der Krisen im Norden verstärken, denn Männer finden traditionell v.a. in der Landwirtschaft und im Bautensektor Arbeit, und das mehr in Nordamerika und immer weniger in England, während Frauen vorwiegend in Tätigkeiten wie Krankenpflege und Haushaltshilfe unterkommen.
Jamaica weist extrem hohe Kriminalitäts- und Mordraten auf, jährlich um die 60 Tote pro 100 000 EinwohnerInnen. Nur Honduras, Guatemala und andere Länder der karibisch-zentralamerikanischen Region zeigen vergleichbare Zahlen, mit ähnlichem Hintergrund: Drogen und Mafias, unkontrollierbare Verbreitung von Feuerwaffen, soziale Abgründe, arbeitslose Jugend, Korruption und Bandenunwesen. Bürgerkriege hat es in Jamaica nicht gegeben, aber immer wieder Dutzende oder, wie 1976 und 1980, Hunderte Tote in äußerst gewalttätigen Wahlkämpfen. In historischer Sicht wäre freilich an die wiederholten Sklavenaufstände zu erinnern, und die Bevölkerung stammt ja weit überwiegend von diesen rebellischen Sklaven ab, was die Reggaemusik und die Rastafaribewegung widerspiegeln. Dazu kommt, dass Jamaica und die gesamte Karibik seit den 80er-Jahren Drehscheibe des Kokainhandels zwischen Südamerika und den USA – und auch Europa – geworden ist.
Die auch den Rauschgifthandel beherrschenden Banden sind notorisch mit den beiden Parteien verbunden. Sie bringen ihnen Stimmen und erhalten im Gegenzug diverse Vorteile. Als Mitte 2010 der damalige JLP-Premierminister Bruce Golding den Drogenboss Christopher „Dudus“ Coke – der Name ist nicht erfunden – festnehmen lassen wollte, um ihn, wie die USA forderten, auszuliefern, brachen blutige Kämpfe zwischen Sicherheitskräften und Anhängern Cokes aus. Dieser soll in den USA selbst für massiven Drogenhandel und Hunderte Morde verantwortlich sein. Golding musste zugeben, persönlich an einer Lobbyaktion gegen die Auslieferung beteiligt gewesen zu sein. Der 2009 zurückgetretene oberste Polizeichef hatte damals gewarnt, ohne einen Bruch der engen Beziehungen zwischen Parteien und Banden sei der Kampf gegen die organisierte Kriminalität „bestenfalls wie wenn man gegen den Strom schwimmt“. Aber Coke wurde in seinem Umfeld ähnlich wie einst Pablo Escobar in Kolumbien als Wohltäter, eine Art Robin Hood, verehrt. Er verteilte Lebensmittel, Medikamente und selbst Stipendien, sorgte wie ein Feudalherr lokal für eine relative Ordnung und finanzierte einen Fußballklub. So erklärt sich die Entschlossenheit seiner Verteidiger und es gab über 70 Todesopfer (vgl. Beitrag „Dudus, Bruce und die Dons“ in dieser ila).
Eindrücke aus der Hauptstadt Kingston werden insbesondere von dieser grassierenden Kriminalität und dem ewigen Verkehrsstau geprägt. Auch dieser ist um einiges schlimmer als in viel größeren Städten Europas, was die sozialen Kontraste illustriert: viel Armut und unzählige Privatautos. Der Gini-Koeffizient[fn]Der Gini-Koeffizient ist ein statistisches Maß zur Darstellung von Ungleichverteilungen. Je höher die Zahl auf einer Skala zwischen 0,1 und 1, desto höher ist die wirtschaftliche Ungleichverteilung. In Dänemark und Schweden lag er 2011 bei 0,23, in der BRD bei 0,3, in den USA bei 0,38, in Chile bei 0,53 und in Jamaica bei 0,6.[/fn] ist mit rund 0.6 einer der allerhöchsten der Welt, was noch mehr soziale Ungleichheit als selbst in Mittelamerika oder Bolivien bedeuten muss. Auch tagsüber wird davon abgeraten, ohne Begleitung von Einheimischen in die downtown zu gehen. Die über zwei Millionen Touristen, die jährlich kommen, sind davon kaum betroffen, da sie in den Touristenghettos der Nordküste landen, aber dennoch bedroht das eine der Hauptdevisenquellen. Und darunter leidet die eigene Bevölkerung, insbesondere die Armen, die jedes Jahr ein Todesopfer unter etwa 1700 Menschen zu beklagen haben.
Nach nur knapp 52 Monaten hat zur Jahreswende 2011/12 ein Erdrutschsieg die PNP zum dritten Mal seit der Unabhängigkeit, nach den Jahren 1972-80 und 1989-2007, an die Regierung gebracht. Portia Simpson-Miller – genannt Sista P – ist somit eine weitere Frau, die in den Ländern Amerikas an die Spitze der politischen Macht gelangt ist (vgl. Beitrag „Sista P.“ in dieser ila).
Im Jahr 2010 hatte das zunehmend heute mit 130 Prozent seines Bruttoinlandprodukts verschuldete Land ein Finanzhilfeabkommen mit dem IWF abgeschlossen. Dessen Rezepte wurden angesichts der Erfahrungen von früher mit verständlicher Skepsis aufgenommen, was sicher die triumphale Rückkehr der PNP begünstigt hat. Diese hat sich seither bemüht, günstigere Konditionen zu erreichen, die sozialen Kosten der Krise besser zu verteilen, die nationale Produktion, insbesondere auch im Agrarsektor, anzukurbeln, enger mit den CARICOM-Nachbarn zusammenzuarbeiten, erneuerbare Energien zu fördern und damit nicht nur die allzu hohen Energieimporte zu senken, sondern auch die internationale Konkurrenzfähigkeit zu steigern und wenn möglich aus der Schuldenfalle herauszufinden, in der das Land schon seit Jahrzehnten gefangen ist.
Auf anderer Ebene hat sich Simpson-Miller noch im Wahlkampf gegen die Diskriminierung sexueller Minderheiten ausgesprochen, eine tolerante Haltung, die für das Land und die Region recht ungewöhnlich ist. Mit anderen regierenden Frauen hat sie bei der Rio+20-Konferenz einen Aufruf lanciert, der zusammen mit der Direktorin der neuen Organisation UN-Women, Michelle Bachelet, die Bedeutung der gleichen Rechte und sozialen Aufstiegsmöglichkeiten von Männern und Frauen für eine nachhaltige und solide Entwicklung betont. Und Jamaica wird nun vermutlich, ein halbes Jahrhundert nach seiner Unabhängigkeit, zur Republik werden, deren oberstes Berufungsgericht dann nicht mehr wie bisher der Londoner Privy Council sein soll, sondern der Caribbean Court of Justice mit Sitz in Trinidad.